Der Kampf um Gleichberechtigung ist noch nicht zu Ende
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Dass es die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern bis an die Spitze des pazifischen Inselstaates gebracht hat, hat sie ihrem Talent zu verdanken. Und der Tatsache, dass Neuseeland eines der fortschrittlichsten Länder weltweit ist. Wirklich?
Da ist sie endlich, noch ganz aus der Puste: Gorliz Ghahraman. Auckland, die Wirtschaftsmetropole Neuseelands, das Wahlkreisbüro der Grünen-Abgeordneten. Die elegante 39-Jährige lässt sich auf einen der grauen Sessel fallen. Erst einmal ein Kaffee. Auf den Straßen war an diesem wolkenverhangenen Morgen wieder die Hölle los, deshalb auch die Verspätung. Stress ist sie gewohnt.
"I’ll tell you: It’s foreign affairs. Defence. Trade. Prisons. Police."
"Bei Männern ist das anders"
Außen- und Handelspolitik, Verteidigung, Gefängnisse, Polizei: Keiner unter den Grünen bekleidet im Beehive - dem neuseeländischen Parlament in Wellington - so viele Portfolios wie die gebürtige Iranerin. Und das als Neuling. Jura hat Gorliz studiert, im englischen Oxford, danach für die UNO gearbeitet. Eine Bilderbuch-Karriere. Sollte man meinen.
"Wir Frauen müssen uns ständig rechtfertigen. Ständig sagen wir: 'Weißt du, ich habe schon das-und-das gemacht und den-und-den Abschluss.' Das schlaucht. Es frisst so viel Zeit und Energie. Bei Männern ist das anders. Im Verteidigungsausschuss etwa. Du glaubst doch nicht, dass jemand einen älteren Schlipsträger mit europäischen Wurzeln fragen würde: '"Was prädestiniert dich eigentlich für diesen Ausschuss?!' Ich werde so etwas gefragt. Abgesehen davon ist mein ethnischer Hintergrund öfters Thema. 'Warum sieht sie so aus, wie sie aussieht?' Dieses Misstrauen: 'Steht sie vielleicht dem Land nicht loyal gegenüber?'"
Ein Einwanderungskind aus dem Iran, noch dazu Feministin: Für viele traditionelle Neuseeländer ist das ein bisschen viel auf einmal. Auch wenn das 4,7-Millionen-Einwohnerland im Südpazifik beim weltweiten Global Pay Gap Index, so etwas wie dem Gleichberechtigungsindex des Weltwirtschaftsforums, hinter den skandinavischen Ländern auf Platz sechs auftaucht.
"Ich denke, es ist kompliziert. Wenn wir über formelle Gleichberechtigung reden, da ist Neuseeland vorbildlich. Wir waren das erste Land weltweit, dass Frauen das Wahlrecht gab. Doch wie substanziell ist das? Frauen werden immer noch misshandelt. Physisch und verbal. Formell mögen wir zwar dieselben Möglichkeiten haben wie Männer, aber du kannst dir nicht vorstellen, was für Hate-Mails ich bekomme. Weibliche Abgeordnete werden viel häufiger beleidigt als ihre männlichen Kollegen."
Die besonnene Jacinda Ardern als "Anti-Trump"
Verstohlen schaut Gorliz auf ihr Smartphone. In ein paar Minuten beginnt online die "State of the planet address" der Grünen-Vorsitzenden Marama Davidson. Die neuseeländische Öko-Partei: Ähnlich wie die deutsche hat sie eine Doppelspitze. Ein Mann, eine Frau. Alles andere wäre schwer vermittelbar, meint die zupackende Politikerin mit den langen dunkelbraunen Haaren.
Mitte September ist Parlamentswahl in Neuseeland, die Rede über den "Zustand des Planeten" eine Art vorgezogener grüner Wahlkampfauftakt. In Wellington, der Hauptstadt, gilt die Prädikats-Juristin als Kandidatin für einen Ministerposten. Vorausgesetzt, die Grünen können weiter mitregieren, als Juniorpartner unter Jacinda Ardern, dem "Anti-Trump", wie die Sozialdemokratin gerne wegen ihrer besonnenen Politik in der US-Presse genannt wird.
"Wir haben eine Premierministerin, die in ihrer Amtszeit ein Baby bekommen hat. Sie ist unverheiratet. Und sie ist eine Frau. Natürlich setzt das Zeichen. Genau wie die Tatsache, dass sich ihr Partner hauptsächlich um das Kind kümmert. Das finde ich fast noch wichtiger. Wir müssen nicht nur Frauen aus althergebrachten Zwängen befreien, sondern auch Männer. Deshalb sind Jacinda Ardern und ihr Partner so tolle Vorbilder."
"Die Tatsache, dass eine Frau unsere Premierministerin ist, ist eher im Ausland Thema. Wir hatten bereits vor Jacinda Ardern zwei Premierministerinnen. Es gab bei uns immer schon Frauen, die es bis an die Spitze geschafft haben."
"Wir haben viel getan, damit Frauen gleichberechtigt sind"
Bis ganz nach oben geschafft hat es auch Charlotte Lockhart, Besitzerin der Firmen-Gruppe "Perpetual Guardian", die aus diversen Versicherungskonzernen besteht. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen. Ihr Riesen-Vorstandsbüro in einem Hochhaus voller Chrom und Turbo-Aufzügen liegt über den Dächern des Geschäftsviertels Auckland. Der Blick von hier: atemberaubend. An den Wänden moderne neuseeländische Kunst. Gemälde und Maori-Skulpturen.
In Neuseeland hat sich die Powerfrau einen Namen gemacht als Kunst-Mäzenin. Und Erfinderin der "4-Tage-Woche." Wer will, kann in ihrer Firma seit 2018 nur vier statt fünf Tage arbeiten – bei gleichem Arbeitsumfang und Gehalt. Nutzen tun es vor allem Frauen.
"Wir haben in Neuseeland viel getan, damit Frauen gleichberechtigt sind. Wir haben Gesetze, die es verbieten, Frauen weniger zu zahlen als Männern. Wir haben alle möglichen Regeln, die sicherstellen, dass sich Frauen ermutigt fühlen, zu arbeiten. Alles prima, aber es gibt auch Frauen, die sich neben der Arbeit bewusst mehr um ihre Kinder oder alten Eltern kümmern wollen. Deshalb ist unsere 4-Tage-Woche so wichtig. Sie ermöglicht es nicht nur Frauen, sondern auch Männern beruflich kürzer zu treten. Wenn unsere Angestellten weniger arbeiten, heißt das, sie können mehr Zeit zu Hause verbringen. Das gilt für Männer und Frauen gleichermaßen."
Die 4-Tage-Woche als Lösung
Dinge in Frage gestellt hat Charlotte schon als kleines Mädchen. Ihre Eltern, erzählt sie, während sie ihr Smartphone im Fünf-Minutentakt ins Visier nimmt, ihre Eltern hätten ihr schon früh eingebläut: Du musst dich nur trauen. Deshalb ihr Expansionskurs in der Firma, halsbrecherische Abenteuer wie ihre Peking-Paris-Rallye zusammen mit ihrem Mann, mit ihr am Steuer. Ein Leben auf der Überholspur. Jenseits der fünfzig kamen ihr erstmals Zweifel, ob das wirklich das Wahre ist.
"Oh! Absolut. Ich hatte ein Burnout. Ich habe viel zu viel gearbeitet. Mich plagt deshalb immer noch ein schlechtes Gewissen. Ich bereue es, für meine zwei Söhne in ihrer Kindheit und Jugend so wenig da gewesen zu sein. Ich dachte, ich könnte meinen Job und die Familie locker unter einen Hut bringen. Das war ein Irrtum! Ich konnte zu Hause nie wirklich abschalten. Und jetzt komme ich wieder auf die 4-Tage-Woche zurück. Wenn Du nur vier Tage arbeitest, hast du nicht ständig das Gefühl, die Arbeit frisst dich auf."
Einmal quer über die Auckland Bridge, auf dem Gelände der Technischen Universität - ziemlich viel am Hals hat auch Marilyn Waring. Am Telefon ist der Arzt ihrer hochbetagten Mutter, die neuen Medikamente scheinen Nebenwirkungen zu haben. Und draußen wartet schon ihr thailändischer Doktorand. Die Professorin für öffentliche Ordnung holt tief Luft. Nur nicht aufregen. Das tut sie so und so schon viel zu oft.
"Oh! We are not on equal footing. No!"
Ex-Parlamentarierin sucht Entspannung mit Ziegenfarm
Frauen und Männer sind was? Gleichberechtigt? Die 67-jährige Feministin tippt sich an die Stirn. Schön wär’s. Dass mit Premierministerin Jacinda Ardern und der Präsidentin des Obersten Gerichtshofs Sian Elias gleich zwei Frauen die Geschicke des Landes lenken, lässt sie nicht gelten.
"Diese Erbsenzählerei bringt doch nichts. Bleiben wir bei den Fakten: Sind die meisten Armen in diesem Land Frauen? Ja. Sind die meisten Opfer von Gewalttaten Frauen? Ja. Sind die meisten Obdachlosen Frauen? Ja. Noch Fragen?"
Hart, aber herzlich. Dieser Ruf eilt der resoluten Frau schon länger voraus. Das erste Mal von sich reden machte Marilyn in den 70er-Jahren als jüngste Abgeordnete Neuseelands. 23 war sie da. Neun Jahre später warf sie entnervt das Handtuch.
"Nach meiner Zeit im Parlament war ich am Boden. Ich brauchte dringend eine Auszeit. Deshalb habe ich eine Ziegenfarm übernommen. Es war eine super Möglichkeit wieder zu Kräften zu kommen. Du arbeitest mit den Elementen, wühlst in der Erde. Und dann die Ziegen: Sie sind hochintelligent und wahre Ausbruchskünstler. Ich musste jeden Tag zusehen, dass sie mir nicht entwischen – und meinem Nachbarn das Obst wegfressen.
Das Parlament als Schlangengrube
Warum ich so ausgebrannt war? Weil ich nur eine von vier Frauen im Parlament war. Es war eine Schlangengrube. Die Männer haben permanent versucht, dich einzuschüchtern. Und wenn du wie ich aus der Reihe getanzt bist, wurde es nur noch schlimmer."
Mit ihrer alten Partei, den Konservativen, hat Marilyn gebrochen. Nicht aber mit der Politik. Artikel, Vorträge, Konferenzen - ständig mischt sie sich ein. Regt sich auf darüber, dass häusliche Arbeit als Wirtschaftsfaktor beim Bruttosozialprodukt weiter außen vor bleibt. Und Gleichberechtigung für Viele nichts mehr ist als eine statistische Größe.
"Es ist doch kein Wettbewerb. Du kannst Gleichberechtigung nicht in Zahlen messen. Das machen die UNO und die Weltbank ja ständig. Wie viele Frauen sind Bürgermeisterinnen? Wie viele im Parlament? Darum geht es nicht. Es geht um Freiheit. Darum, vor Gewalt sicher zu sein. Jederzeit irgendwo hingehen zu können. Es geht darum, nicht diskriminiert oder sexuell belästigt zu werden. In diesem Land sind Frauen nicht wirklich sicher. Ist es anderswo besser? Nein. Deshalb würde ich meinen neuseeländischen Pass auch um nichts in der Welt abgeben wollen."
Ihren neuseeländischen Pass behalten will auf jeden Fall auch Nasem Abdi.
Aus Somalia nach Neuseeland
Wellington, die neuseeländische Hauptstadt, die Willis Street. Seit gut einem Jahr näht die 24-Jährige, die mit zwölf aus Somalia nach Neuseeland kam, in einem ehemaligen Schönheitssalon für das Fashionlabel "Nisa" Unterwäsche: Slips, BHs, neuerdings auch Schwimmsachen. Alles Bio. 18 neuseeländische Dollar bekommt die Ökologie-Studentin dafür in der Stunde.
Die junge Muslima macht die Nähmaschine – ein älteres Modell made in Germany - für einen Augenblick aus. Sie mag ihre Arbeit. Dass Elisha, ihre Chefin, so flexibel ist. Es nie groß Thema war, warum Nasem Kopftuch trägt. Sie mit lauter anderen Geflüchteten zusammenarbeitet. Frauen aus Afghanistan. Sri Lanka. Kolumbien.
"Ich denke, wir können Vorbild sein für andere Länder. Definitiv. Das mit der Gleichberechtigung funktioniert in Neuseeland ziemlich gut. Es ist nicht perfekt, aber was ist schon perfekt. Doch Neuseeland ist ein gutes Land für Frauen. Am meisten schätze ich, dass ich als Frau hier nicht um mein Leben fürchten muss.
"Ich bin und bleibe Kiwi"
Um halb neun hat Nasem heute Morgen angefangen, Feierabend ist um 15 Uhr. Feste Arbeitsplätze gibt es in der gläsernen Manufaktur keine, alle zwei, drei Stunden wechseln sich die Frauen an den verschiedenen Nähmaschinen ab. Damit es nicht zu langweilig wird und sich keine Flüchtigkeitsfehler einschleichen. Mit ein, zwei Kolleginnen ist sie inzwischen befreundet. Ganz witzig, meint die gebürtige Somalierin schüchtern. Für die sei sie eine waschechte Neuseeländerin.
"Ich bezeichne mich immer als somalischer Kiwi, also als somalische Neuseeländerin. Du musst doch nicht wählen. Du kannst beides gleichzeitig sein: Neuseeländerin und Somalierin. Ich würde gerne bald zurück nach Somalia gehen, um Verwandte zu besuchen. Ich war ja seit unserer Flucht nicht mehr dort. Aber ich bin und bleibe Kiwi, klar."
Die Frau in der weinroten Lederjacke schaut hoch. Elisha Watson, ihre Chefin, will etwas wissen. Die meiste Zeit lässt die 30 Jahre alte Modemacherin ihre Angestellten in Ruhe. Flache Hierarchien - das ist der schwarz-gekleideten, gelernten Juristin wichtig, die früher ehrenamtlich für das Rote Kreuz Geflüchtete beraten hat.
"Dadurch habe ich eine Reihe toller geflüchteter Frauen kennengelernt, die alle nähen konnten. Das Nähen hat uns verbunden. So bin ich auf meine Geschäftsidee gekommen. Das Coole am Nähen ist ja, dass die Sprachbarriere wegfällt. Jetzt, wo wir wachsen, erhalte ich auch Anfragen geflüchteter Männer, die gerne bei uns arbeiten würden. Ich finde das spannend. Ich kann doch nicht sagen: 'Nein, tut mir leid, Jungs, ich kann euch keinen Job geben, ihr seid ja schließlich keine Frauen.' Wir müssen als Frauenunternehmen unser Herz öffnen. Und unseren bescheidenen Beitrag leisten, dass die Welt ein kleines bisschen besser wird."
Die Bedeutung von Güte und Empathie
30.000 neuseeländische Dollar – umgerechnet knapp 17.000 Euro - so viel hat Elisha bei zwei Crowdfunding-Aktionen als Startkapital eingenommen. Das meiste Geld ging für die Secondhand-Nähmaschinen drauf. Natürlich hat sich auch schon die Firmengründerin ihre Gedanken gemacht, wie das so ist als Geschäftsfrau in Neuseeland. Ob Frauen anders wirtschaften als Männer. Werteorientierter.
"Werte wie Güte und Empathie. Viele sind in der Vergangenheit ausgelacht worden, wenn sie empathisch waren. Es wurde als Schwäche ausgelegt. Dabei wäre es an der Zeit zu sagen: das sind tolle Eigenschaften. Wie können wir sie in unseren Alltag integrieren? Anstatt sie als Weiberkram abzutun. In der Vergangenheit lautete die Gleichung Männer sind die Guten, Frauen die Schlechten. Das geht zurück auf die Bibel, die Ursünde. Wir sollten das dekonstruieren. Es würde uns definitiv alle befreien."
"Jacinda ist toll"
Elisha hat sich in ihr kleines Kabuff zurückgezogen. Hier brütet die Autodidaktin nach Feierabend über neue Ideen und Kollektionen zwischen Nähgarn und Stoffrollen. Letztes Jahr hat sich Nisas Umsatz verdoppelt. Nachhaltige Unterwäsche, in Neuseeland produziert, von geflüchteten Frauen und nicht zu Billiglöhnen in irgendwelchen Fabriken in Bangladesch oder Vietnam. Elishas Geschäftsidee scheint aufzugehen.
Längst sind etablierte Modemacher auf sie aufmerksam geworden, Geschäftsfrauen, Politikerinnen. Jacinda Ardern? Nein, die sei nicht darunter, meint sie, ehe sie in schallendes Gelächter ausbricht. Noch nicht.
"Jacinda ist toll. Aber sie hat auch ein paar Versprechen gebrochen. Sie wollte zum Beispiel eine Kapitalsteuer einführen. Da hat sie einen Rückzieher gemacht. Es gab ein paar Maßnahmen, die wichtig für die Zukunft unseres Landes gewesen wären, die sie nicht durchs Parlament gebracht hat. Wenn ich an Jacinda denke, denke ich nicht zuallererst: Toll, dass sie eine Frau ist. Das ist mir zu schablonenhaft. Das wird ihr nicht gerecht. Es bringt doch nichts, jemanden in eine Schublade zu stecken. Je weniger wir das tun, umso besser. Das gilt erst recht für unsere Premierministerin. Ich will nicht banal klingen, aber wir sind alle Menschen. Komplexe Wesen. Je mehr wir uns von Stereotypen befreien, desto besser."
Eine Medaille für die "Neuseeländerin des Jahres"
Ihre Medaille: Irgendwo in der Aussteuertruhe ihrer Großmutter müsste sie liegen, versteckt unter Gerichtsakten und der Widmung ihrer Tochter für "die weltbeste Mutti". Kristine Bartlett, Altenpflegerin aus Lower Hut, einem Vorort von Wellington, ist das mit der Medaille fast ein bisschen peinlich. Schließlich macht die Frau, der man ihre siebzig Jahre nicht ansieht, normalerweise kein großes Aufheben darum, dass sie 2018 zur "Neuseeländerin des Jahres" gekürt wurde. Für ihre Verdienste um die gleiche Entlohnung von Frauen und Männern im Alten- und Pflegebereich.
Fünf Jahre stritt Kristine vor Gericht, ehe die Richter den neuseeländischen Staat 2017 dazu verdonnerten, den unterbezahlten Frauen nachträglich zwei Milliarden neuseeländische Dollar zu zahlen. Und den Stundenlohn von 14,95 Dollar auf inzwischen 26 Dollar zu erhöhen. Kristine verzieht das Gesicht: 14,95 Dollar - das reichte vorne und hinten nicht.
"Der Stundenlohn war so niedrig, weil es Frauenarbeit war. Frauen kümmern sich um ihre Mitmenschen. Ich liebe meinen Job mit den alten Leuten. Du brauchst dafür Einfühlungsvermögen und Mitgefühl. Ich hatte nicht den Eindruck, dass mein Arbeitgeber das zu schätzen wusste. Meine Chefs dachten sich: ist doch selbstverständlich."
Kristine hat sich in ihren Wintergarten gesetzt. Hier sitzt sie häufiger nach der Arbeit, umgeben von: Blumen und Elefanten. Porzellan-Elefanten. Gemalte Elefanten. Foto-Elefanten: Die Dickhäuter, erzählt sie, seien ein bisschen wie sie. Gutmütig, aber reizen sollte man sie besser nicht. Ihre verstorbene Mutter war genauso.
"Ich wünschte, Mama hätte das Gerichtsurteil noch erleben können. Das wäre perfekt gewesen. Sie war ja auch alleinerziehend, wie ich. Mein Vater starb, als sie 45 war. Da saß sie also: Mit sechs Kindern. Sechs! Stell dir das mal vor. Sie hat keinerlei staatliche Hilfe bekommen. Nichts. Wenn mich Leute fragen: Wer war dein Vorbild, dann sage ich immer: meine Mutter. Sie musste so hart kämpfen um uns über die Runden zu bringen. Und trotzdem bekam sie es hin, dass wir eine glückliche Familie waren. Wir hatten nicht viel, aber wir waren dankbar für das, was wir hatten."
Immer noch: "Ungleichheit in Reinform"
Kristine blättert in einem Stapel Papier, bis sie fündig wird. Hier, der Artikel aus einer Wirtschaftszeitschrift, da steht es. Die Gender Pay Gap – die Lücke also zwischen dem, was Frauen durchschnittlich weniger verdienen als Männer, verharrt in Neuseeland bei knapp zehn Prozent. Dass es in Deutschland doppelt so viel ist: die 70-Jährige zuckt nur mit den Schultern, geschenkt.
"Vor kurzem war ich auf der Aktionärssitzung eines großen Betreibers von Altersheimen. Ich sitze da also und blättere im Finanzbericht. Und was lese ich, sie haben einen neuen Vorsitzenden. Seine Vorgängerin war eine Frau. Sie hat 600.000 neuseeländische Dollar im Jahr verdient. Eine stolze Stumme. Doch was verdient der Neue, der Mann? 800.000 Dollar. Und ich denke mir nur: 'Na bravo, das alte Spiel. Ungleichheit in Reinform.'"
Morgen wird Kristine wieder um halb sechs aufstehen, als erstes das Radio aufdrehen, sich einen Kaffee machen - und dann in ihrem klapprigen Toyota ins Pflegeheim fahren. Drei Mal die Woche arbeitet sie dort noch. Sie kann einfach nicht anders.
"Die Mädchen wollen nicht, dass ich gehe. Ständig kommen meine Kolleginnen an und meinen: 'Nein, Mama. Bitte bleib noch.' Sie nennen mich ja alle Mama. Ich sage dann: 'Na, hört mal, ihr müsst anfangen, selbst für eure Rechte zu kämpfen.' Doch sie lassen nicht locker. 'Oh, Mama, weißt du, was mir letztens wieder passiert ist?' Und ich: 'Na, was denn?' Das Ende von Lied ist, dass ich mich doch wieder breit schlagen lasse und mich für sie darum kümmere."