Nahe der Stadt Amûdê, hinter einem kleinen Hügel im Norden Syriens, liegt das Frauendorf Jinwar. Jin heißt Frau auf Kurdisch. Hier leben Frauen kollektiv zusammen. Sie wählen eine Dorfsprecherin, betreiben Landwirtschaft, einen Dorfladen und eine kleine Bäckerei. Es gibt eine Schule, die auch Kinder der umliegenden Dörfer besuchen.
Eine der ersten Bewohnerinnen dieses außergewöhnlichen Projekts war Zeyneb: „Stück für Stück taste ich mich an mein eigenes Leben heran.“ 2017 kam sie mit ihrem Sohn Çiya. Warum die Frauen sich dazu entscheiden, nach Jinwar zu ziehen, hat unterschiedliche Gründe.
Manche aus Überzeugung, manche flohen vor Krieg, andere vor ihrer Zwangsehe: „Ich bin mit 15 oder 16 Jahren verheiratet worden. Ich war noch sehr klein, ich hatte das Leben noch nicht verstanden und wurde schon zur Braut. Ich war noch ein Kind und wusste nicht, was es bedeutet, zu heiraten. Ich konnte kein Essen kochen, ich war noch sehr unselbstständig.“
Flucht vor dem Ex-Mann in der Türkei
Zeyneb sitzt auf gemusterten Sitzpolstern in ihrer kleinen Hütte und lässt ihren Blick durch den Raum schweifen. Tiefe Furchen ziehen sich durch ihr Gesicht.
Sie erzählt über ihren früheren, viel älteren Mann: „Er hat mich geschlagen. Ich habe Gewalt erfahren. Das war für mich kein Leben, das ich dort geführt habe. Aber ich hatte mich, weil ich schwanger war, entschieden, mein Leben weiter zu führen. Ich wollte mein Kind erziehen und ihm etwas beibringen, aber auf keinen Fall bei dem Mann bleiben.“
Zeyneb ist Kurdin und in der Türkei aufgewachsen. Sie floh vor ihrem Ehemann nach Nordsyrien, in die mehrheitlich von Kurden und Kurdinnen autonom verwalteten Gebiete. Erst in ein Flüchtlingscamp, dann erfuhr sie von Jinwar.
Im Dorf Jinwar im Norden Syriens leben nur Frauen. Zeyneb (ganz rechts) und ihr Sohn stammen aus der Türkei und flüchteten vor dem gewalttätigen Ehemann.© Deutschlandradio / Linda Peikert
Im Frauendorf hat Zeyneb verschiedene Weiterbildungen besucht. Die Aufgaben der Frauen im Dorf rotieren. So soll jede regelmäßig etwas Neues lernen. Auch ihr Sohn Çiya fühle sich in Jinwar zu Hause: „Im Dorf ist unser Leben sehr schön geworden. Mein Sohn Çiya geht hier zur Schule, er lernt etwas. Er ist super schlau. Er mag die Schule.“
Dass Zeyneb arbeitet, sich weiterbildet und ihr Sohn Çiya eine Schule besucht, ist nicht selbstverständlich in der Region. Aber vor zehn Jahren wurde eine Revolution in der nordsyrischen Stadt Kobanê ausgerufen – diese Revolution sollte sich auch zur Frauenrevolution entwickeln.
Das schwarze Stadion – ein Ort des Schreckens
Bunte Fähnchen flattern über dem schwarzen Stadion im nord-syrischen Rakka. Die übersteuerte Musik dröhnt aus Lautsprechern neben einer Bühne, die mitten auf der grünen Rasenfläche aufgebaut ist.
Eine Frau mit blondiertem Haar wendet sich zu einer anderen, die ein Palästinensertuch als Kopfbedeckung nutzt. Ältere Männer mit bodenlangen, weißen Gewändern sitzen auf den Steinbänken der Tribüne.
Im Stadion der syrischen Stadt Rakka gibt es heute wieder Feste statt Hinrichtungen. Auch weil die Frauen gegen die IS-Terrorherrschaft gekämpft haben, sagt Ruth (r).© Deutschlandradio / Linda Peikert
Heute ist es nur schwer vorstellbar, dass vor wenigen Jahren in diesem Stadion die blutrünstigen Schauprozesse des sogenannten Islamischen Staats stattfanden.
„Unser ganzes Leben hat sich unter dem IS verändert“, meint Ruth, Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation für Frauen in Rakka.
Zuerst haben sie den Frauen auferlegt, sich voll zu verschleiern, dann kamen weitere Regeln hinzu. Alles unter dem Deckmantel des Islams. Sie haben eine Sittenpolizei eingeführt. Jede Frau, die einen Fehler gemacht hatte, wurde auf einem öffentlichen Platz bestraft. Sie wurden ausgepeitscht, gesteinigt oder vergewaltigt.
Ein Entrinnen gab es kaum: „Rakka war von der Welt abgeschnitten. Sie haben die Satelliten gekappt. Auch wenn Leute rein- oder rausgehen wollten, ging das nicht. Außerdem hat der IS um die Region Landminen gelegt.“
IS-Kämpfer fürchteten, von Frauen getötet zu werden
Eine Schreckensherrschaft, die anfangs endlos erschien. Doch 2015 wurde der IS zuerst in Kobanê besiegt und später 2017 in Rakka: Die kurdische Volksverteidigungseinheit YPG und die Fraueneinheit YPJ waren daran maßgeblich beteiligt.
Besonders die jungen Frauen, die die IS-Kämpfer mit ihrer eigenen Ideologie schlugen: Frauen sind laut der Jihadisten unrein, deshalb fürchteten die jihadistischen Terroristen die Kämpferinnen besonders. Wer von einer Frau getötet wird, kommt laut ihres Glaubens nicht mehr in den Himmel.
Für uns sei die kurdische Frau ein Vorbild, so Hilfsmitarbeiterin Ruth: „Wir haben die kurdischen Frauen gesehen, wie sie ihr Land verteidigt haben und zu Märtyrerinnen wurden. In Kobanê hat die Frau Widerstand geleistet und diese Unterdrückung für sich nicht akzeptiert. Sie hat gekämpft, wurde verletzt und ist gefallen.“
Bis zum Sieg der kurdischen Milizen in Kobanê galt der IS als quasi unbesiegbar. Nach dem ersten Erfolg schlossen sich auch arabische Frauen in Rakka der Frauenverteidigungseinheit YPJ an.
„Die arabische Kultur wurde dadurch aufgebrochen: Die Frauen haben angefangen, Waffen und Militärkleidung zu tragen, und gekämpft. Damit wurde die erste Barriere von Tradition und Kultur durchbrochen. Das war eine große Errungenschaft für die Frau.“
Ruth und ihre Kolleginnen von der Hilfsorganisation in Rakka unterstützen Frauen bei häuslicher Gewalt und jeglicher Form von Unterdrückung. Spezialisiert sind sie unter anderem auf Cybererpressungen junger Frauen, die in konservativen Familien immer wieder zum Tod führen können.
Ruth gibt es Kraft nach Jahren der eigenen Unterdrückung heute anderen Frauen Unterstützung zu bieten. Doch die Stabilität in der Region bleibt wackelig. Zahlreiche sogenannte IS-Schläferzellen befinden sich nach wie vor im Untergrund.
„Wir Frauen in Rakka fragen uns: Kann es sein, dass der IS wiedererstarkt? Wir lehnen die zahlreichen Drohungen der Dschihadisten in unserem öffentlichen Stadtbild ab“, sagt sie. „Wahrscheinlich reorganisiert sich der IS im Untergrund bereits. Um den IS nicht wieder an die Macht kommen zu lassen, leisten wir Widerstand. Wir haben Angst, dass wir unsere Errungenschaften verlieren – alles, was wir aufgebaut haben.“
Arbeiten für Frauenkooperativen
Nesrîn Paşu sitzt hinter einer Nähmaschine in der nordsyrischen Stadt Heseke: „Wir sind wirklich sehr glücklich, dass wir Frauen arbeiten dürfen. Die Arbeit macht mir Spaß und befreit mich von der häuslichen Unterdrückung.“
Feiner Stoff gleitet durch ihre Hände. Eine Kollegin schneidet Material zurecht, eine andere steckt sandfarbenen Stoff an einer Büste ab.
„Seit 2015 mache ich diese Arbeit“, erzählt sie. „Es hat sich viel verändert: Heute können Frauen rausgehen oder spazieren gehen, so viel sie möchten. Früher musste selbst eine Frau, die gearbeitet hat, direkt danach wieder nach Hause. Heute kann die Frau tun und lassen, was sie möchte. Die Frau ist frei. Sie kann selbst entscheiden.“
„Die Arbeit macht mir Spaß und befreit mich von der häuslichen Unterdrückung": Nesrîn Paşu näht für eine Frauenkooperative in der nordsyrischen Stadt Heseke.© Deutschlandradio / Linda Peikert
Jahrzehnte herrschte in Syrien das Assad-Regime, dann kam 2011 der Aufstand, dann der Bürgerkrieg und die Dschihadisten. Für die meisten Frauen war es in diesen Zeiten undenkbar, selbst arbeiten zu gehen. Ihr Platz war zu Hause.
Aber die Ausrufung der Revolution 2012 in Kobanê änderte die Lage. Die Kurdinnen und Kurden begannen sich selbst zu verwalten, auf dem Gebiet mit dem kurdischen Namen Rojava - was für Westkurdistan steht - in Abgrenzung zu den kurdischen Gebieten in der Türkei, dem Iran und Irak.
Seit 2018 heißt das Gebiet: Autonome Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien und besitzt einen multiethnischen Anspruch. Das bedeutet auch Städte wie Heseke, ohne eine kurdische Mehrheit, gehören dazu. Hier beschäftigt die Frauenkooperative Lavîn etwa 20 Frauen.
„Wir sehen, dass es den Frauen nicht nur um Geld geht. Also nicht nur darum, wie sie mehr Geld verdienen können. Deshalb gibt es auch Bildungsangebote. Es geht auch darum, Frauen zu verändern. Dass sie sich weiterentwickeln“, sagt Cewher Mohamed.
Sie ist Vorsitzende aller Frauenkooperativen im Kanton Heseke. Auch sie konnte vor der Frauenrevolution nicht arbeiten gehen.
Vor der Revolution hat mein Mann gearbeitet, ich war zu Hause. Jetzt kann er nicht mehr arbeiten und ich gehe arbeiten. Wir helfen uns gegenseitig. Die Beziehung hat sich auch verändert: Früher kam er manchmal von der Arbeit und war sehr gestresst. Wenn er heute gestresst ist, dann sage ich: ‘Komm runter, entspann dich’. Wir haben heute einen ganz anderen Umgang miteinander.
Cewher Mohamed, Vorsitzende mehrerer Frauenkooperativen
Außerdem, sagt sie mit verschmitztem Lächeln, als das Mikrofon aus ist, gefalle ihr besonders gut, dass ihr Mann heute ihr den Abschiedskuss gebe. Früher sei das andersherum gewesen. Man müsse sich ja nicht vom Ehemann trennen, die neuen Möglichkeiten der Frau könnten auch der Ehe guttun.
Überall soll Gleichberechtigung herrschen
Sehr viele Probleme würden auch damit zusammenhängen, dass Frauen keine eigenen finanziellen Mittel haben, meint Dilar Dirik. Sie ist selbst Kurdin, in Deutschland aufgewachsen und arbeitet heute als promovierte Soziologin im britischen Oxford. Ihr Forschungsschwerpunkt: die kurdische Frauenbewegung, von der Unterdrückung bis zur Frauenrevolution.
„Wenn man den Begriff Revolution hört, denkt man natürlich immer erst an einen dramatischen Punkt, nach dem alles anders wird“, sagt sie. „Aber ich denke, Frauenrevolution, wie sie in der kurdischen Bewegung definiert wird, ist anders zu verstehen. Denn allgemein wird die Revolution nicht als ein Tag definiert, nachdem alles anders wird, sondern ein sehr langer gesellschaftlicher Prozess, der Jahrzehnte lang oder Jahrhunderte lang dauern kann.“
Ein Prozess, der mit der Parole „Jin, Jiyan, Azadi“ „Frauen, Leben, Freiheit“ für die Gleichstellung der Frau kämpft und seit dem Ausruf der Revolution die Möglichkeiten der Frauen in Nordostsyrien enorm erweitert hat. Das heißt praktisch vor Ort überall soll Gleichberechtigung herrschen, erklärt Dirik.
Ein Mann und eine Frau an der Spitze jeder Organisation, Kommune, jedem Rat und so weiter. Aber auch im Bereich der Justiz, allgemein im Bereich der Bildung, wird darauf aufgepasst, dass die Materialien zum Beispiel keine Stereotypen beibringen.
Dilar Dirik, Soziologin
Doch es gibt nicht nur die Doppelspitze als Sicherung der Machtposition für Frauen. Ein zentrales Element dieses Kampfes innerhalb der Gesellschaft sind autonome Frauenstrukturen: Also Institutionen, die ausschließlich für Frauen sind.
Sodass die Frauen „zum Beispiel in ihren autonomen Strukturen die generellen Strukturen, also die gemischten Strukturen, kritisieren können. Sie haben ein Veto, aber die generellen Strukturen können sich nicht in die Arbeit der Frauenbewegung einmischen“, sagt sie.
Wenn also zum Beispiel ein lokaler Rat für etwas stimmt, doch die lokale, autonome Frauenstruktur das für problematisch hält, haben sie ein Vetorecht. Andersherum gilt das nicht.
Frauensender Jin-TV hat anderen Blickwinkel
Redaktionskonferenz bei Jin-TV in der nordsyrischen Stadt Amûdê: Sieben junge Frauen besprechen im Newsroom die Nachrichten des Tages. Jin-TV heißt übersetzt Frauenfernsehen. Hier arbeiten nur Frauen, vor und hinter der Kamera. Seit 2018 ist Jin-TV in verschiedenen Sprachen auf Sendung. Allein in Nord- und Ostsyrien hat der Sender mehr als 70 Mitarbeiterinnen.
Darunter auch Dicle Ito: „In den meisten Redaktionen wurden Frauen nur als Moderatorinnen oder Schönheitsfiguren genutzt, um die Zuschauer an den Fernseher zu binden, aber die Frauen durften selten in Verantwortungspositionen mitarbeiten.“
Für die erfahrene Redakteurin und Moderatorin macht es einen großen Unterschied, in einem Kollegium nur mit Frauen zu arbeiten. Und sie möchte gemeinsam mit ihren Kolleginnen das öffentliche Bild der Frau verändern und andere Blickwinkel sichtbar machen.
“Vom politischen Programm, über die Gäste, die eingeladen werden, die Sprache, die man benutzt oder die Art und Weise man moderiert: Bei Jin-TV können wir vieles anders machen. Immer aus dem Blickwinkel der Frau. Das ist keine Welt, in der Männer alleine führen sollten, sondern das ist eine Welt, in der man zusammen führen könnte.”
Und damit meint Dicle Ito nicht nur Nord- und Ostsyrien: „Unser Ziel ist nicht nur die Frauenrevolution in Rojava, sondern eine universelle Frauenrevolution, denn auf der ganzen Welt werden Frauen unterdrückt. Die Frauenrevolution in Rojava ist zum Vorbild geworden. Wir wollen, dass sich alle Frauen gegenseitig unterstützen und die Gleichstellung in den Gesellschaften nach vorne bringen.“