"Frauen | Lyrik. Gedichte in deutscher Sprache"

Eine Anthologie als Debattenbuch

Von Insa Wilke |
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In Zeiten von Gendersternchen eine Lyrikanthologie, die sich der Frau im Gedicht widmet? Ganz schön gewagt. Und rasant! Über 500 Gedichte von und über Frauen zeichnen das kulturgeschichtliche Porträt einer Epoche: unserer!
Es gibt Gedichtsammlungen, die zeitgeschichtliche Zäsuren gesetzt haben. "Menschheitsdämmerung", 1919 von Kurt Pinthus herausgegeben, ist so eine Anthologie. Oder Jürgen Theobaldys 1977 veröffentlichte Generationsschau "Und ich bewege mich doch ..." mit Gedichten aus den Jahren um 1968.
Aufregend, wenn man in der Gegenwart den Eindruck hat, so ein Epochenbuch in der Hand zu haben, und dann gleich ein fast 900 Seiten starkes. Die Göttinger Literaturwissenschaftlerin Anna Bers hat es herausgegeben: "Frauen | Lyrik". Über 500 Gedichte versammelt das Buch, beginnend mit dem ersten Merseburger Zauberspruch aus dem 9. Jahrhundert und endend mit Barbara Köhlers Überschreibung von Eugen Gomringers Gedicht "Avenidas", das 2017 eine Debatte über Sexismus im Gedicht auslöste.

Von Lady Bitch Ray bis Elke Erb

Nun ist dies nicht einfach eine Sammlung, die weiblicher Autorschaft Sichtbarkeit verschaffen will. Das war 1978 das wichtige Ansinnen von Gisela Brink-Gabler mit ihrem Buch "Deutsche Dichterinnen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart".
Was Anna Bers darüber hinaus gelungen ist: ein kulturgeschichtliches Porträt, eine Zäsur, was geschlechterspezifische Betrachtung von Autorschaft angeht. Es geht in dieser Anthologie um das Konzept "Frau" und die binäre Konstruktion von Geschlecht. Und damit steht dieses Buch für eine der brisantesten Debatten des 21. Jahrhunderts.
Wie macht man das in einer Anthologie? Erst mal nur durch Auswahl und Komposition. Anna Bers versammelt eben nicht nur Gedichte von Hildegard von Bingen, Ingeborg Bachmann und Monika Rinck, sondern auch von Männern wie Heinrich von Kleist und Günter Grass, die nun wirklich nicht für feministische Haltungen bekannt sind. Sie stellt Reime und Lieder von Heinz Erhard und Hildegard Knef, die man eher in der Unterhaltungsschiene verortet, oder gar "Ich bin ne Bitch" von Lady Bitch Ray neben Texte der diesjährigen Büchner-Preisträgerin Elke Erb.

Streitbare und offene Haltung

Sie lässt auf ein Führer-Lob von Agens Miegel einen Text von Selma Meerbaum-Eisinger folgen, die mit 18 Jahren unter den Nazis umkam. Und sie bezieht Ikonen emanzipatorischer und antirassistischer Bewegungen wie die Dichterin May Ayim ein, die bislang in Anthologien deutschsprachiger Dichtung ausgeblendet wurden.
Allein diese Komposition eröffnet ganz neue Blicke auf die Lyrikgeschichte. Dadurch und durch ein System von Lektürepfaden sowie ein umsichtiges Nachwort gelingt Anna Bers etwas Paradoxes: Sie ruft Traditionen auf, unterläuft aber gleichzeitig problematische Mechanismen von Kanonisierung und Wertung. Man kann nur sagen: Wenn die streitbare und offene Haltung, die sich in dieser Edition zeigt, einmal die Signatur unserer Epoche kennzeichnen wird, läuft nicht alles falsch.

"Frauen | Lyrik. Gedichte in deutscher Sprache"
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Anna Bers
Reclam Verlag, Leipzig 2020
879 Seiten, 28 Euro

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