Hinweis zum Inhalt
Dieser Text enthält Schilderungen von emotionaler und sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern. Sollte Sie dies belasten, gehen Sie bitte achtsam mit Ihren Grenzen um.
Helma Sick: Die Geschichte einer Kämpferin
Helma Sick wächst in der Nachkriegszeit im Bayerischen Wald auf und erlebt eine Kindheit voller Entbehrungen und Gewalt. Doch sie findet ihr Lebensthema: Frauen und Geld. Am Ende wird sie unzähligen Frauen geholfen haben und Heilung finden.
Die Geschichte beginnt in Helmas Kindheit. Sie wird 1941 im Bayerischen Wald geboren, in Kriegszeiten. Helma Sick steht kein einfaches Leben bevor: "Du bist nichts. Aus dir wird nichts. Du bist potthässlich." Es sind Sätze wie diese, mit denen Helma Sick aufwächst. Aber Aufgeben kommt für sie nicht in Frage. Helma Sick entwickelt eine beflügelnde Wut. Und sie wird es zu etwas bringen. Sie wird nicht nur viel für sich selbst und die eigene Heilung tun, sie wird 2022 sogar das Bundesverdienstkreuz bekommen.
Die Familie wohnt in einer Kleinstadt. Der Vater ist Imker und Bienenzüchter, politisch aktiv und Geschäftsmann. Er besitzt ein Schreibwarengeschäft, zusammen mit seiner Frau. Ihre Mutter beschreibt Helma als tüchtige Geschäftsfrau und Hausfrau, treue Katholikin. Und Helma hat noch einen acht Jahre älteren Bruder.
Die Ehe ihrer Eltern ist keine glückliche, der Vater geht fremd, später ist er sehr krank. Die Mutter hat keinen Beruf, kein eigenes Geld und ist damit an den Vater gebunden. Helmas Welt ist damals sehr klein. Sie dreht sich vor allem um die Familie. Besonders um die Mutter. Aber nicht etwa, weil ihre Verbindung so eng wäre.
Nie gewollt - von Anfang an
"Meine Mutter hat mir jegliche liebenswerte Qualität abgesprochen", erzählt Helma Sick. "Und es fielen halt auch Äußerungen, die man einem Kind gegenüber niemals machen darf. Sie hat zum Beispiel gesagt: Wenn ich dich doch gleich nach der Geburt ertränkt hätte."
Es bleibt nicht bei Worten. Helmas Mutter schlägt auch zu. Den Bruder habe die Mutter unter schwierigen Bedingungen zur Welt gebracht, erzählt Helma. Auf seine Geburt folgt noch eine Totgeburt. Die Ärzte raten Helmas Mutter, kein weiteres Kind zu bekommen. Dann kommt Helma. Ihre Mutter habe sie von Anfang an nicht gewollt, sagt sie. Aus Lieblosigkeit sei Hass geworden. Und dieser habe Helmas gesamte Kindheit überschattet.
Helmas Vater ist sehr viel älter als die Mutter. Er liebt seine Tochter über alles. Zu sehr, wie Helma sagt: „Es war nicht nur reine Vaterliebe.“ Damals versteht Helma nicht, was los ist. Erst viel später wird ihr bewusst: Das ist Missbrauch. Auch die Gründe für die Wut der Mutter versteht Helma als kleines Mädchen nicht. Sie spürt nur die Ablehnung.
"Sie hat mir immer nur gesagt, dass ich hässlich bin, und ich habe das geglaubt. Ich habe bis zu meinem fast 30-jährigen Lebensalter gedacht, dass ich hässlich bin. Bin mit gesenktem Kopf durch die Straßen gegangen, weil ich meinen Anblick niemandem zumuten wollte."
Als Helma 17 ist, schickt ihre Mutter sie nach München, um zu arbeiten und möglichst bald zu heiraten. Abitur darf sie nicht machen, obwohl sie eigentlich gut ist in der Schule. In München arbeitet sie zwei Jahre als Sekretärin. Bis sie aus dem Wohnheim fliegt. Sie verliebt sich in einen Musikstudenten, der im selben Wohnheim wohnt. Und das ist damals streng verboten.
Rückkehr in die Abhängigkeit
Kein eigenes Geld, keine Bleibe. Helma muss zurück nach Hause. Und weiß genau, was sie dort erwartet. In den Augen ihrer Mutter ist sie gescheitert.
Inzwischen ist Helmas Vater gestorben. Er war der Einzige, der ihr so etwas wie Liebe gegeben hat. Nun ist auch das weg. Der Vater wollte Helma Geld vermachen. Doch das Testament ist nicht aufzufinden. Helma bekommt: nichts. Es folgen Angstzustände. Nachts kann Helma nicht mehr schlafen. "Ich hatte Albträume (...). Immerzu dachte ich, es kommt irgendwas Großes, Dunkles, Schwarzes auf mich zu. Ich bin schweißgebadet oft aufgewacht."
Mit Mitte 20 hat Helma einen Job als Sekretärin in einem Verkehrsunternehmen. Wird bald sogar Chefsekretärin. Aber psychisch geht es ihr deswegen nicht besser. Helma versucht, sich Hilfe zu holen.
Es sind die Sechziger: Ein heimischer Arzt verschreibt ihr Valium. Helma bekommt davon Ausschlag. An ihrer Situation ändert sich nichts. Doch dann macht sie etwas, was ihr zum ersten Mal Selbstvertrauen gibt. Sie braucht Geld für ihr Auto und deshalb fängt sie neben ihrem Job als Sekretärin an, sich etwas dazuzuverdienen.
Seit der Schulzeit kann Helma sehr gut mit der Schreibmaschine umgehen und sie beginnt, an den Wochenenden Schreibmaschinenkurse für Bauern zu geben. Dafür gibt es damals großen Bedarf. Die Landwirte müssen auf der Maschine schreiben lernen, um Abrechnungen und Bestellungen zu erledigen. Es läuft gut für Helma. "Ich war zufrieden, die waren zufrieden und ich hatte eine Bestätigung dafür: Wenn ich nicht hier rumjammere, was ja nichts bringt, sondern schau’, was ich kann, dann bin ich erfolgreich." Noch reicht Helmas neues Selbstvertrauen aber nicht, um das Elternhaus und ihre Mutter zu verlassen.
Erste Schritte in die Unabhängigkeit
Bis zu dem Tag, an dem ihr Chef an Helmas Schreibtisch tritt. Und etwas zu ihr sagt, was noch nie zuvor jemand gesagt hat: Sie könne viel mehr als das, was sie hier tue. Sie solle nach München gehen. Nächstes Jahr wolle er sie hier nicht mehr sehen.
Helma ist jetzt 29 Jahre alt. Und sie geht nach München. Dorthin, wo sie schon einmal gescheitert ist. Aber diesmal ist alles anders. Und dann dachte ich: „Ja, jetzt probiere ich es noch mal, jetzt habe ich Erfolg gehabt, jetzt habe ich auch ein ganz anderes Selbstbewusstsein. Das kann jetzt was werden.”
In der Zeitung findet Helma eine Stellenausschreibung: Ein Bauunternehmen sucht eine Sekretärin. Helma bekommt den Job, packt ihre Sachen und geht.
In München emanzipiert Helma Sick sich weiter: Sie tritt aus der Katholischen Kirche aus. Für ihre streng gläubige Mutter ist das ein Affront. Helma tritt der SPD bei und schließt sich politischen Frauengruppen an. Ein Wendepunkt in ihrem Leben.
Die Erkenntnis: Kein Einzelschicksal
Die Frauen, die Helma in München kennenlernt sind offen und modern. Sie haben Ideen, von denen Helma noch nie etwas gehört hat. Sie besucht Seminare, in denen es um die Unterdrückung von Frauen geht, um Gleichberechtigung.
Und ich habe dann wirklich zum ersten Mal begriffen, dass ich kein Einzelschicksal war. Dass das typisch ist für Mädchen meiner Generation. Dass sie ums Erbe betrogen werden, dass sie misshandelt werden, dass ihnen nichts zugetraut wird. Und mir sind 1000 Lichter aufgegangen, nicht nur eins!
Helma wird klar: Sie möchte anderen helfen, denen es wie ihr geht. Sie beginnt, sich in der Frauenbewegung zu engagieren, führt Debatten. Und wird in den Vorstand der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen gewählt. In dieser Zeit lernt sie auch ihren späteren Mann kennen, bei einem Seminar über Karl Marx. Viel versteht sie nicht. Sie schläft oft ein. Aber sie bleibt. Seinetwegen.
Sie heiratet mit Anfang 30. Und will sich beruflich verändern. Sie sucht nach mehr Sinn in ihrem Tun. Und findet ihn. Helma Sick nimmt eine Stelle als kaufmännische Geschäftsführerin für ein Frauenhaus an. Dem ersten Frauenhaus in München überhaupt. Und sie versteht etwas ganz Grundsätzliches. Etwas, das für die Frauen im Frauenhaus genauso gilt, wie für die Frauen aus Helmas Heimatort. Und für sie selbst: Ein großer Teil der Abhängigkeit von Frauen hängt damit zusammen, dass sie kein Geld haben.
Die Abhängigkeit der Frauen
Helma erinnert sich an ihre Tante, eine Bäuerin. Der Mann ist Alkoholiker. Häufig kommt er betrunken nach Hause, misshandelt seine Frau und wirft sie aus dem Haus. Das Bettzeug hinterher. Die Frau schläft dann zwei Tage im Stall. Und geht wieder zurück. Damals ist Helma 16 und fragt ihre Tante, warum sie ihren Mann nicht verlässt. Sie habe doch nichts, sagt die Erwachsene. Wo solle sie denn hin?
Im Frauenhaus wird Helma klar, dass der Entzug von Geld eine Form der Gewalt ist: "Denn wenn jemand kein Geld hat, ist die Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Und ich habe gemerkt, dass viele Frauen sich ein selbstbestimmtes und selbst finanziertes Leben überhaupt nicht vorstellen konnten. Und das war dann der große Mosaikstein in meinem Kopf."
Auch in ihrem Privatleben tut sich viel: Helma ist Anfang 40 als sie einen Sohn adoptiert. Vier Jahre lang bleibt sie zu Hause, um sich um das Kind zu kümmern. Nebenher macht sie ein Abendstudium zur Betriebswirtin. Es steht außer Frage, dass sie wieder erwerbsarbeiten wird. Nur was sie konkret machen will, das ist noch offen.
Bis zu einem Tag im Jahr 1986. Helma ist jetzt Mitte 40. Und findet in der Zeitschrift Brigitte einen weiteren Mosaikstein. Sie liest darin über eine Finanzberatung für Frauen in Bremen. Wieder denkt sie an die Tante, die geschlagen wurde und nicht weg konnte. An ihre eigene Geschichte. An die Frauen im Frauenhaus. Und plötzlich fügt sich alles zusammen: Ihnen allen wäre es besser gegangen, hätten sie finanzielle Unabhängigkeit gehabt. Und zu der möchte Helma Frauen fortan verhelfen.
Allen Widerständen zum Trotz
Helma Sick will eine Finanzberatung für Frauen gründen. Aber es sind die 80er-Jahre. Erst seit Anfang der Sechziger darf eine Frau ohne Zustimmung ihres Mannes ein eigenes Bankkonto haben. Und in Westdeutschland durfte ein Mann bis 1977 den Job der Frau kündigen, wenn er mit ihrer Haushaltsführung nicht zufrieden war. Helma trifft auf viel Unverständnis.
Einmal hält sie in München einen Vortrag, schildert die Misshandlungen der Frauen im Frauenhaus. Eine Stadträtin steht auf und sagt, sie könne nicht verstehen, warum Helma Sick sich so ereifere: „Pack schlägt sich. Pack verträgt sich.“ Helma ist entsetzt: „Man konnte nachts kaum schlafen, so schlimm war das. Und dann sagt die so was.“
In den Seminaren und Fortbildungen, die Helma besucht, sitzt sie fast ausschließlich unter Männern. Männer, die sie ignorieren oder sich über sie lustig machen. Nach einem Jahr werde Helma pleite sein, wird ihr prophezeit.
Aber Helma Sick lässt sich nicht irritieren. Sie besorgt sich eine Stelle in einem Finanzvertrieb. Absolviert so viele Schulungen wie möglich und liest alles, was ihr zum Thema Finanzen in die Hände fällt. Etwa zwei Jahre nach ihrer ersten Idee meldet Helma Sick ihr Gewerbe bei der Stadt an: Seit 1987 gibt es ihr Unternehmen „Geld und Frau“.
In ihrem Umfeld gibt es weiterhin Widerstand. Finanzberatung hat in der Zeit einen schlechten Ruf. Und das Frauenthema wird nicht verstanden. Aber es gibt etwas, dass Helma antreibt: ihre Wut. Angeheizt von all jenen, die sie seit ihrer Kindheit angezweifelt und kleingehalten haben.
Die Wut war aber nicht zerstörerisch, sondern konstruktiv. Ich wollte es allen beweisen. Und das, finde ich, ist ein absolut guter Motor für Erfolg.
Und Erfolg, den wird sie haben. In München gibt es bereits eine andere Finanzberaterin für Frauen. Zur gleichen Zeit entstehen auch in anderen Städten solche Beratungsangebote. Helma wird Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft „FinanzFachFrauen“.
1992, fünf Jahre nach der Firmengründung, schreibt "Die Zeit" ein Porträt über Helma Sick. Dann bekommt sie eine Einladung von der Frauenzeitschrift "Brigitte". Helma fährt nach Hamburg in die Redaktion. „Da saßen 40 Journalistinnen, Redakteurinnen um einen großen Tisch herum, und dann ging die Tür auf, und dann kam die damalige Chefredakteurin, legendär Anne Volk, (…) zur Tür rein und sagt: „Guten Tag Frau Sick. Ich sage Ihnen gleich, ich bin dagegen.“
Helma denkt: „Reiß dich zusammen, jetzt musst du klarmachen.“ Und Helma macht klar. In der heutigen Zeit, erklärt sie vor der versammelten Runde, sollte ein Frauenmagazin nicht nur über Mode, Kosmetik und Rezepte schreiben, sondern auch über Geld. Weil Geld ganz wesentlich das Leben von Frauen bestimme.
Helma Sick bekommt eine Kolumne in der Brigitte. Und wird diese jahrelang erfolgreich schreiben. Es folgen weitere Erfolge, Bücher, Ehrungen, und das Bundesverdienstkreuz. Die Firma läuft bis heute gut. 2008 hat Helma das Unternehmen an ihre Nichte Renate übergeben.
Was passiert ist, gehört zu ihr
Aber eine wird Helmas Lebenswerk bis zum Schluss nicht anerkennen: ihre Mutter. Als sie gerade nach München gezogen ist, fährt Helma jedes Wochenende nach Hause. Jedes Mal öffnet die Mutter mit geringschätzigem Blick die Tür. Den Schlüssel hat sie ihrer Tochter abgenommen. Jedes Mal sagt sie denselben Satz: „Wie siehst du denn wieder aus?“
„Ich hatte mich aber extra schöngemacht. (…) Und ich habe mir natürlich in späteren Jahren oft überlegt, wie kann man so blöd sein, sich dem immer wieder auszusetzen? Aber dahinter war natürlich die Not. Ich hatte gehofft, dass sie irgendwann sagt: Schön, dass du da bist. Ich freue mich, dass du kommst. Komm rein und jetzt machen wir was Nettes miteinander.“
Sie sagt es nicht. Nie. Doch auch davon wird Helma Sick sich emanzipieren. Zwei Therapien wird Helma machen.
Das war (...) einfach großartig. Weil ich konnte weinen. Ich konnte den ganzen Schmerz rausschreien. Ich habe Güte erfahren, Verständnis erfahren. Ich wurde für nichts verurteilt. Und ich bin gefördert worden und ermuntert worden. Und habe dadurch Heilung erfahren.
Heute sagt Helma, sie verzeihe beiden nicht. Nicht dem Vater. Und nicht der Mutter. Es gebe da diese gesellschaftliche Übereinkunft, dass Verzeihen immer etwas Gutes sei, sagt sie. „Ich verzeihe immer, wenn das Gegenüber Einsicht und Reue zeigt. Das ist dann überhaupt kein Problem. Aber es war mit beiden Eltern nicht möglich.“
Dennoch sei sie mit ihrer Geschichte im Reinen. Hege weder Groll noch Bitterkeit: „Ich habe das, was passiert ist, akzeptiert, als zu meinem Leben gehörig. Es hat mir ja auch gezeigt, dass man selbst mit solch schwierigen Lebenssituationen fertigwerden kann, wenn man sich bemüht darum.“
Helma Sick ist inzwischen über 80. Seit ihre Nichte Renate die Firma führt, hat sie mehr Zeit für Vorträge. Beratungen macht sie keine mehr. Sie lebt noch immer in München, in einer Seniorenresidenz. Allein. Von ihrem Mann hat sie sich mit 60 Jahren scheiden lassen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Quelle: Carina Schroeder, Deutschlandradio