Dieser Beitrag entstand während einer Residenz im Casa Pública der Agência Pública in Brasilien und wurde gefördert durch die gemeinnützige Initiative investigate e.V.
Schwarz, mit Baby, ohne Beistand
Brasilien hat mit über 720.000 Gefangenen die drittgrößte Gefängnisbelegschaft der Welt. Derzeit sitzen 42.300 Frauen im Knast, ihre Zahl steigt massiv an. Zwei Drittel sind schwarz, in der Regel sind sie arm, oft haben sie Kinder.
Ein Bild wie auf einer Postkarte: Der in Stein gemeißelte, schneeweiße Christus streckt seine Arme weit in beide Richtungen aus und gleichzeitig empor zum offenen Himmel. Daneben ein Bus mit der Aufschrift "Expresso da Paz" – der Friedensexpress. Vor ihm eine Warteschlange. Es könnte ein ganz normaler Linienbus sein, der Fahrgäste zu einer der berühmtesten touristischen Destinationen Rio de Janeiros bringt. Aber die Besucher haben kein Lächeln auf den Lippen und dies hier ist kein Urlaubsziel. In Bangu, 40 Kilometer vom Zentrum Rios entfernt, bewacht die kleine Version der weltbekannten Christusstatue den größten Gefängniskomplex des Bundesstaates Rio de Janeiro. 26.000 Gefangene sind hier untergebracht, 1.300 von ihnen Frauen.
"Jetzt wo ich das sehe: Wenn man im Gefängnis landet, verursacht das auch noch Arbeit für deine Familie. So viele Frauen, wie hier stehen, mit Kindern, die auf den Bus warten, den man noch nehmen muss", ...
... kommentiert der Taxifahrer. Heute ist in einem der Männergefängnisse von Bangu Besuchstag. Im Complexo Penitenciário de Gericino, wie der Gefängniskomplex offiziell heißt, befinden sich 26 Haftanstalten, vier davon für Frauen und eine davon ist das Frauengefängnis Nelson Hungria. Gäste gelangen hierher ausschließlich mit dem Friedensexpress. Wenn überhaupt Gäste kommen – für die Frauen von Bangu ist dies die Ausnahme. Der Großteil von ihnen erhält keinen Besuch.
Das Frauengefängnis Nelson Hungria befindet sich in der letzten Ecke des Komplexes, zwischen Bananenstauden und einer mit Staub belegten Asphaltstraße. Vor seinem grauen Tor wartet niemand.
"Wollen Sie ein Wasser oder einen Kaffee?"
"Ich möchte einen Kaffee, danke."
Eine Insassin, grünes T-Shirt, unterwürfige Haltung, bietet Getränke an. In Bangu klettern die Temperaturen zu dieser Jahreszeit auf bis zu 40 Grad. Obwohl es heute nur milde 15 Grad sind, rattert die Klimaanlage im Hintergrund. Das Büro der Direktorin ist der einzige klimatisierte Raum im Gefängnis. Die blonde Gefängnisdirektorin hat persönlich zwei Insassinnen ausgewählt, die Interviews geben dürfen. Während der Gespräche sind sie und die Pressesprecherin der staatlichen Gefängnisbehörde SEAP anwesend. Eine der Interviewpartnerinnen ist Fabiola da Silva.
"Ich habe mich mit einem Drogenhändler eingelassen. Nach der Abhörung eines Telefonats kam ich ins Gefängnis. Ich weiß nicht, was ich gesagt habe, aber ich habe bei nichts geholfen. Jetzt bin ich hier."
Ein Jahr sitzt sie deshalb bereits in Haft. Da Silva ist Mutter einer dreijährigen Tochter. Auf die Kleine passt ihre Patentante auf.
"Meine Tochter ist in Obhut ihrer Tante. Die schreibt mir nicht, aber von meiner Patentante bekomme ich jeden Monat einen Brief, in dem steht, wie die Dinge bei ihr sind und wie es meiner Tochter geht. Jeden Tag wird sie schlauer. Sie vermisst mich, ja. Aber sie weiß, wo ich bin. Und ihr ... ihr geht es gut."
Sie weiß nicht, warum sie im Gefängnis sitzt
Da Silva schießen Tränen in die Augen. Weshalb genau sie im Gefängnis sitzt, ist ihr selbst unerklärlich. Sie wurde bereits zwei Mal gerichtlich angehört, aber hat noch kein Urteil erhalten. Da Silva hat keinen Anwalt und bekommt keinen Besuch. Nach eigenen Angaben hat sie sich nicht am Drogenhandel beteiligt.
"Ich weiß nicht, was ich bei der Abhörung gesagt habe. Wie ich bereits gesagt habe, habe ich ihm in keiner Weise geholfen. Aber vielleicht habe ich etwas gesagt, was mich verdächtig gemacht hat. Ich erinnere mich nicht mehr daran, was ich mit ihm besprochen hatte."
Ob dies gerecht sei?
"Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich wirklich etwas gesagt, was damit zu tun hat. Dass ich die Frau von ihm bin, macht mich bereits zu einer Verbündeten. Er hat gehandelt, ich bin seine Frau. So bin ich Teil der Investigation geworden."
Die 25-Jährige wuchs in der Favela Retiro in Petrópolis auf, im Inneren des Bundesstaates Rio de Janeiro, rund sechzig Kilometer von der gleichnamigen Hauptstadt entfernt. Ihr Profil entspricht dem der durchschnittlichen brasilianischen Gefangenen.
"Schwarz, arm, Mutter, niedrige Bildung, das ist das generelle Panorama. Eine Frau, die im Drogenhandel aktiv ist, im illegalen Handel und die in niedrigen Positionen im Geschäft ist. Ohne Privilegien, so dass sie leicht der Chance ausgesetzt ist, erfasst und ins Gefängnis gesteckt zu werden", ...
… sagt Luciana Boiteux, Juristin und Kriminologin an der Bundesuniversität Rio de Janeiros, ein paar Tage später in einem schickeren Teil der Stadt. Sie hat zu den Haftbedingungen von Schwangeren und Müttern in Bangu geforscht.
Frauen landen leichter hinter Gittern als Männer
Ihre Feststellung: Frauen landen nicht nur leichter im Gefängnis als Männer, weil sie niedrigere Positionen im Drogenhandel einnehmen. 66 Prozent der inhaftierten Frauen erhalten zudem keinen Besuch. Die weiblichen Häftlinge werden hinter Gittern vergessen.
"Wenn Sie am Besuchstag zu einem Männergefängnis gehen, gibt es eine riesige Schlange. Frauen sind dort mit Kindern. Sie besuchen: Die Ehefrauen, die Mütter und so weiter. Im Frauengefängnis ist dies komplett anders. Sie erhalten wenig Besuch. In meiner Forschung über Mütter wurde dies deutlich. Falls die Frauen Besuch erhielten, kam er von ihren Müttern. Diese Genderdimension zeigt, dass die Pflege und Assistenz dieser Frauen auch nur durch verwandte Frauen realisiert wird und dass die Einsamkeit sehr groß ist."
Zwei Drittel der weiblichen inhaftierten Frauen in Brasilien sind schwarz, die Hälfte ist zwischen 18 und 29 Jahren alt. Die meisten haben nur einen niedrigen Bildungsabschluss. Drei Viertel aller inhaftierten Frauen sind Mütter. Der Grund für ihre Inhaftierung: Der Krieg gegen die Drogen.
"Wenn man von der Kriminalisierung des Drogenhandels spricht, muss man daran denken, dass die Frauen meistens bei sich zu Hause sind, in einer Favela, mit Kindern. Dort helfen sie zum Beispiel, Drogen zu verpacken. Das hat damit zu tun, dass sie ihre eigene Existenz garantieren wollen. Der Drogenhandel ist für viele Jugendliche mit geringer Bildung und für Frauen eine Beschäftigungsmöglichkeit, weil diese keinen Zugang zum formalen Arbeitsmarkt haben."
Prekäre Haftbedingungen
Der Weg vom Konsum oder Handel mit Rauschgift bis ins Gefängnis ist oft kurz: Gerichtsprozesse dauern häufig nur wenige Minuten. Anwaltlichen Beistand bleibt häufig diejenigen vorbehalten, die ihn sich leisten können. Auch Pflichtverteidiger werden nur selten gestellt. Anti-Haft-Aktivisten kritisieren die Masseninhaftierung als einen Schauplatz des Krieges gegen die Drogen, in dem der Staat gegen die ohnehin schon an den Rand gedrängte Bevölkerung kämpft – Schwarze oder Arme. Die Haftbedingungen sind dabei extrem prekär: Die Kapazität der Gefängnisse wird bis zu fünfmal überschritten. Der Staat komme seiner Pflicht nicht nach: Hygiene und gesundheitliche Versorgung werden vernachlässigt. Bei Fabiola da Silva springt die Kirche in die Bresche, die Staat und Gesellschaft hinterlassen. Sie hat sich im Gefängnis der "Igreja Universal" angeschlossen und geht täglich in den Gottesdienst. Die evangelikale Kirche bietet ihr Halt.
"Die Kirche hilft mir, ja. Sie bringt mir das Wort Gottes. Sie unterstützen uns auch mit Hygieneprodukten. Wir sind eine evangelikale Zelle. Von den 49 Insassinnen sind 20 aus dem evangelikalen Chor. Die meisten, die in diese Zelle kommen, verändern sich. Dies zeigt sich daran, wie sie sich den Wärterinnen gegenüber verhalten. Früher haben sie sie nicht respektiert, heute schon. Im Wort Gottes heißt es: Man muss die Autoritäten respektieren. Das machen wir: Autoritäten respektieren."
Da Silva blickt auf den Boden, während sich spricht. Anders als Roseane Aparecida Feira. Die zweite Interviewpartnerin fühlt sich ungerecht behandelt – und nimmt kein Blatt vor den Mund.
"Wenn die Justiz funktionieren würde, wäre es sehr gut. Die funktioniert aber nur für einige, für andere nicht. Für Politiker, ja. Aber für uns, die hier drinnen auf Gerechtigkeit warten, nicht. Ich bin seit dreieinhalb Jahren inhaftiert und warte auf eine öffentliche Anhörung. So viele Leute nach mir wurden schon angehört, freigelassen oder verurteilt. Wir wollen wissen, was aus unserem Leben wird. Und die Justiz funktioniert nicht."
Die Fünfzigjährige fällt aus dem durchschnittlichen Raster: Sie ist weiß, hat eine Universität besucht und bekommt regelmäßigen Besuch von ihrer Familie.
Vor ihrer Inhaftierung arbeitete sie als Krankenschwester in einer illegalen Abtreibungsklinik in Campo Grande, unweit des Gefängniskomplexes, in dem sie nun sitzt. Niemals hätte sie gedacht, dass sie eines Tages hinter diesen Gittern sitzen wird. Ihr Vergehen: Mord.
Abtreibungen sind in Brasilien illegal
"Die Person hat die Abtreibung gemacht und ist infolgedessen gestorben. Deshalb bin ich für Mord verantwortlich. Die Justiz ist nicht gerecht. Ich sollte eine Perspektive erhalten: Wissen, wie lange ich hierbleiben muss. Wann ich freikomme. Ein Urteil bekommen. Denn ich habe eine Familie, einen kleinen und einen großen Sohn. Deshalb will ich ein Urteil. Aber dass ich hier bin, halte ich für richtig. Denn es bringt mich dazu, dass ich besser darüber nachdenke, weshalb ich dort gearbeitet habe. Ich reflektiere meine Konzepte. Sollten Schwangerschaftsabbrüche legalisiert werden? Ja. Aber ich will davon nichts wissen. Bin raus. Ich will mein Leben nun anders gestalten."
In Brasilien sind Schwangerschaftsabbrüche illegal und nur in drei Fällen straffrei: Wenn die Schwangerschaft aus einer Vergewaltigung resultiert, das Leben der schwangeren Person gefährdet ist oder der Fötus an Anenzephalie leidet, eine Fehlbildung des Gehirns, bei der die Schädeldecke sich nicht schließt. Deshalb gibt es viele illegale Abtreibungskliniken, deren Kosten allerdings das brasilianische Durchschnittseinkommen exorbitant übersteigen. Wer sich diese nicht leisten kann, kauft auf dem Drogenmarkt illegale Abtreibungspillen oder treibt mit Hausmitteln ab, die die Schwangere das Leben kosten können. Laut einer Studie des brasilianischen Gesundheitsministeriums sterben täglich vier Frauen infolge der Komplikationen illegaler Abtreibungen. Wer überlebt, sich aber keinen guten rechtlichen Beistand leisten kann, kommt ins Gefängnis. 42 Frauen sitzen in Rio de Janeiro hinter Gittern, weil sie selbst abgetrieben haben. Feira weiß nicht, wie lange sie bleiben muss.
"Ich denke, dass Abtreibungen erlaubt werden sollten. Denn wenn sie legalisiert wären, würden viele Dinge nicht passieren. Abtreibung ist heutzutage eine Frage der öffentlichen Gesundheit. ich würde heute nicht mehr damit arbeiten und habe meine Meinung dazu vollständig geändert. Aber wenn es legalisiert werden würde und Leute ihre eigenen Entscheidungen fällen könnten, wären viele heimliche Dinge nicht notwendig."
"Meine Familie kann mich nicht besuchen"
Die Direktorin gestattet es, die beiden Interviewpartnerinnen zu ihren Zellen zu begleiten. Im Innenhof lädt eine Gruppe inhaftierter Frauen Essenspakete aus. Nieselregen fällt auf die in Plastikfolien verpackten Kekse. Ein Korb Bananen steht unter einem kleinen Dachvorsprung.
"Meine Familie hat keine Möglichkeit, mich zu besuchen. Dort drüben sind die Zellen."
… raunt Fabiola da Silva beim Gang durch den Hof. Der Gang mit den Zellen ist grau. Vögel fliegen durch ihn, einige der Insassinnen laden die Kekspackungen aus.
"Hallo, alles gut?", ...
… sagt eine der Gefangenen in gebetsmühlenartigem Ton. Feira bedankt sich für das Interview und wird von einer Aufseherin in ihre Zelle begleitet.
"Hand von den Gittern!", ...
… brüllt dieselbe Gefängnisdirektorin, die gerade noch so freundlich zu mir und der mich begleitendend Fotografin war, einer Insassin zu.
Fabiola da Silva verabschiedet sich, um zum Gottesdienst zu gehen. Wann sie das nächste Mal Besuch erhalten wird, ist ungewiss.
Hilft aktuelles Urteil den Müttern?
Dreiviertel aller inhaftierten Frauen in Brasilien sind Mütter. So auch da Silva und Feira. Wenn Frauen schwanger ins Gefängnis kommen und ihr Kind dort zur Welt bringen oder wenn ihre bis zu sieben Jahre alten Kinder nicht von Verwandten aufgezogen werden können, bleiben sie bei den Müttern. Im Februar 2018 urteilte der oberste Gerichtshof Brasiliens, dass noch nicht verurteilte schwangere Gefangene oder Gefangene mit Kindern bis zu zwölf Jahren ihre Strafe nicht mehr im Gefängnis absitzen müssen, sondern in ihren eigenen Häusern. Ein Fortschritt, der die überfüllten Gefängnisse entlasten soll. Fast zehn Prozent aller inhaftierten Frauen könnten so ihre Haftstrafe in ihren eigenen vier Wänden absitzen. Für da Silva und Feira würde es bedeuten, dass sie sich künftig zu Hause um ihre Kinder kümmern könnten.