Argentiniens Frauen setzen sich zur Wehr
Morde gegen Frauen sind in Lateinamerika weit verbreitet. Lange Zeit fielen die Strafen milde aus. Dagegen regt sich seit zwei Jahren Protest. Die Frauenbewegung "Ni una menos", "Nicht eine Frau weniger", übt Druck auf Öffentlichkeit und Politik aus - mit ersten Erfolgen.
Mataderos, ein Kleine-Leute-Viertel am Stadtrand von Buenos Aires. Die ruhigen Straßen sind gesäumt von einfachen Einfamilienhäusern und Handwerksbetrieben. Der brutale Angriff auf eine Frau, der sich hier im Februar 2010 ereignete, hätte auch woanders passieren können: Gewalt an Frauen kommt in ganz Argentinien und in allen Gesellschaftsschichten vor. Doch damals, vor sieben Jahren, schaute das ganze Land entsetzt nach Mataderos. Ein Mann hatte seine dreißigjährige Frau bei einem Streit in der gemeinsamen Wohnung mit Benzin übergossen und angezündet.
"Der Fall meiner Tochter Wanda markierte einen Einschnitt im Umgang mit Frauenmorden. Lange Zeit waren sie von der Gesellschaft als Verbrechen aus Leidenschaft verharmlost worden."
Ein Mord und seine Nachahmer
So die Mutter des Opfers, Beatriz Regal, im Wohnzimmer ihres Backsteinhauses – nur ein paar Straßenblocks vom damaligen Tatort entfernt. Elf Tage, nachdem ihr Mann sie in Brand gesetzt hatte, starb Wanda an ihren schweren Verbrennungen. Der Fall schlug hohe Wellen in Argentinien – weil der Täter Schlagzeuger einer bekannten Rockband war, aber auch, weil das Verbrechen so grausam war.
Erschreckenderweise fand es Dutzende von Nachahmern, die ihre Frauen ebenfalls anzündeten. Aber auch schon vor dem aufsehenerregenden Mord an Wanda waren regelmäßig Frauen von Männerhand getötet worden – im Durchschnitt eine Argentinierin alle eineinhalb Tage. Doch lange Zeit sahen nur feministische Gruppen diese Verbrechen als Ausdruck von Gender-Gewalt, von Frauenfeindlichkeit.
"Es war nicht leicht, zu erreichen, dass die Medien von Femizid sprechen, wenn eine Frau umgebracht wird, weil sie eine Frau ist", sagt Ada Rico, Präsidentin der Nichtregierungsorganisation La Casa del Encuentro, die sich seit eineinhalb Jahrzehnten gegen Gewalt an Frauen einsetzt.
Das Wort "Femizid" setzt im Alltag durch
Der Begriff Femizid stammt aus den Sozialwissenschaften, doch in Argentinien gehört er heute zur Alltagssprache. Das spanische Wort Femicidio hat sich in der Medienberichterstattung und in der öffentlichen Diskussion durchgesetzt. Den Argentiniern ist bewusst geworden, dass von Männern verübte Morde und Gewalt an Frauen gravierende Probleme ihrer Gesellschaft sind. Aktivistin Ada Rico dazu:
"Heute ist von Femizid und nicht mehr von Verbrechen aus Leidenschaft die Rede, wie die Morde an Frauen durch ihre Männer oder Ex-Männer früher genannt wurden. Der Zusatz 'aus Leidenschaft' rechtfertigte in gewisser Weise die Morde."
Argentinische Richter urteilten bei der Tötung einer Frau häufig, der Mann habe in einem Zustand "gewaltsamer Erregung" gehandelt – was so viel wie "Mord im Affekt" bedeutet. Diese juristische Auslegung wirkte sich strafmildernd aus. Auch Beatriz Regal machte zunächst die frustrierende Erfahrung, dass die Justiz den Mord an ihrer Tochter Wanda verharmloste:
"Der Staatsanwalt sagte zu meinem Mann und mir und unserem Anwalt: Bringen Sie mir Beweise dafür, dass ihre Tochter ermordet wurde. Ist das nicht die Aufgabe eines Staatsanwalts? Dennoch fingen wir an, selbst Beweise zu sammeln."
"Gewaltsame Erregung" als strafmildernder Umstand
In ihrem Wohnzimmer zieht Beatriz Regal einen Zeitungsausschnitt aus einer Mappe: einen Bericht über das Urteil gegen Wandas Mörder im Juni 2012. Das Gericht wandte damals den strafmildernden Umstand der "gewaltsamen Erregung" an und verurteilte den Angeklagten lediglich zu achtzehn Jahren Haft. Nicht nur Wandas Familie, auch die argentinische Öffentlichkeit reagierte empört. Die Mutter:
"Weder der Verteidiger des Angeklagten noch der Staatsanwalt hatte das gefordert. Wie kamen die Richter dazu, der Mann meiner Tochter habe im Affekt gehandelt? Immerhin hatte er zwei Flaschen Alkohol geholt, sie geöffnet und meine Tochter damit übergossen – das waren planmäßige Handlungen!"
Verschärfender Tatbestand Femizid
Auch unter dem Eindruck der niedrigen Strafe für Wandas Mörder beschloss Argentiniens Parlament Ende 2012, das Strafgesetzbuch zu ändern. Der Femizid wurde indirekt als verschärfender Tatbestand aufgenommen. Wörtlich heißt es nun, wenn ein Mann eine Frau getötet habe und es sich um geschlechtsbezogene Gewalt handele, müsse eine lebenslange Haftstrafe verhängt werden. Ada Rico von der Nichtregierungsorganisation La Casa del Encuentro erklärt:
"Viele Jahre hatten wir gefordert, dass der Femizid eine eigene Rechtsfigur wird. Das ist uns zwar nicht gelungen, aber immerhin kann es sich heute strafverschärfend auswirken, wenn die Mordursache geschlechtsspezifische Gewalt ist."
Schwerfällige Justiz
Doch die Praxis der Justiz ändert sich nur schleppend. Das zeigt etwa der Fall Wanda. Nachdem ihre Familie in die Berufung gegangen war, erhielt der Täter 2013 doch noch eine lebenslange Haftstrafe. Als strafverschärfend wertete das Berufungsgericht, dass es sich bei dem Opfer um die Ehefrau handelte. Aber als Femizid interpretierten die Richter den Mord nicht, trotz der Neuerung im argentinischen Strafgesetzbuch. Ada Rico:
"Den verschärfenden Tatumstand der geschlechtsspezifischen Gewalt wenden die Gerichte bisher ungern an. Ein Beispiel: Ein Mann hat eine Frau vergewaltigt und sie dann umgebracht. Und das Gericht argumentiert, das sei kein Femizid gewesen, weil der Mörder und sein Opfer nicht in einer Beziehung standen. In der argentinischen Justiz muss wirklich noch stark an der Gender-Perspektive gearbeitet werden – sehr stark."
Ob sich Täter und Opfer kannten oder nicht – für die Juristinnen und Psychologinnen, die ehrenamtlich bei La Casa del Encuentro arbeiten, ist es immer ein Femizid, wenn ein Mann eine Frau umbringt.
Eine Anlaufstelle für weibliche Gewaltopfer
Die NGO, deren Name auf Deutsch "Haus der Begegnung" bedeutet, hat ihren Sitz in einem betriebsamen Mittelklasse-Viertel von Buenos Aires. Dort unterhält sie eine Anlaufstelle für weibliche Gewaltopfer. Kein Schild hängt neben dem unauffälligen Eingang zwischen einer Parfümerie und einer Spirituosenhandlung. Frauen, die hierher kommen, sollen vor möglichen Verfolgern geschützt werden.
In Argentinien ist La Casa del Encuentro sehr bekannt geworden, weil es die erste Einrichtung war, die begann, die Frauenmorde zu zählen. Dabei stützte sie sich auf Medienberichte. 2008 war das, damals gab es noch keinerlei offizielle Zahlen. Die Nichtregierungsorganisation kam auf einen Frauenmord alle dreißig Stunden. Seit 2014 führt auch der Oberste Gerichtshof eine Statistik, der zufolge im Durchschnitt alle 37 Stunden eine Frau umgebracht wird.
Zehntausende gehen auf die Straße
Angesichts dieser bitteren Realität demonstrieren heute regelmäßig Argentinierinnen und Argentinier gegen Morde und Gewalt an Frauen. An einem verregneten Mittwochabend laufen Zehntausende schwarzgekleideter Menschen mit Schirmen durch das Stadtzentrum von Buenos Aires. Frauen, Männer, ganze Familien protestieren.
"Ich bin hier, weil ich die Morde an Frauen satt habe", fordert eine Argentinierin, die Haare nass vom strömenden Regen. "Ich bin selbst schon zwei Mal Opfer von Gewalt durch Männer geworden. Auch meiner Tochter ist es schon passiert. Die Justiz muss handeln, die Gewalt muss aufhören, es reicht!"
"Nicht eine Frau weniger"
Auf den Plakaten, die aus dem Meer von Schirmen hervorragen, stehen meist nur drei Wörter: "Ni una menos" – "Nicht eine Frau weniger". Unter diesem Motto fand vor zwei Jahren, im Juni 2015, erstmals ein landesweiter Protesttag gegen Frauenmorde statt. Ein Jugendlicher hatte seine vierzehnjährige schwangere Freundin erschlagen und wieder einmal war die Gesellschaft fassungslos. Damals trugen Argentinierinnen ihre Empörung zum ersten Mal massiv auf die Straße. Eine Demonstrantin:
"Es ist eine Pflicht für alle Frauen, zu protestieren. Wir müssen öffentliche Plätze besetzen und zeigen, dass wir viele sind, dass wir alle an einem Strang ziehen."
"Ni una menos" ist ein Slogan, den heute in Argentinien so gut wie jeder kennt. Die Gruppe von Journalistinnen, die vor zwei Jahren den ersten Protesttag organisierte, ist über den Erfolg und die Nachhaltigkeit ihrer Initiative immer noch erstaunt. Valeria Sampedro, eine junge Reporterin, arbeitet für den privaten Nachrichtenkanal Todo Noticias.
"Uns passierte damals folgendes: Es reichte uns nicht mehr, über die Frauenmorde zu berichten und diese schrecklichen Geschichten zu erzählen. Sondern wir wollten als Frauen, als Bürgerinnen aktiv werden. Alles begann mit dem Tweet einer Kollegin, die fragte: Wollen wir etwa tatenlos zusehen, wie sie uns töten?"
Der Protest organisiert sich auch über Soziale Medien
Erst reagierten Journalistinnen, dann andere Personen des öffentlichen Lebens und schließlich Hunderttausende Frauen in ganz Argentinien. Über Twitter und Facebook verbreitete sich #NiUnaMenos wie ein Lauffeuer. Am 3. Juni 2015 demonstrierte in Buenos Aires und in anderen Städten Argentiniens eine halbe Million Menschen. Ein Jahr später wiederholte sich der Protest, und im vergangenen Oktober war es der brutale Sexualmord an einer Schülerin, der erneut eine Groß-Demo auslöste. Journalistin Valeria Sampedro:
"Ich glaube, unser Aufruf hat an einen Nerv gerührt, an eine Empörung, die in Argentinien latent bereits vorhanden war. Es sind nicht nur die Frauen aufgewacht, sondern eine ganze gesellschaftliche Masse. Wir haben verstanden, dass wir durch unseren Protest Veränderungen herbeiführen können. Seit der ersten Großdemonstration ist das Thema auf der politischen Tagesordnung. Der Druck, den wir ausüben, bringt etwas!"
Ein nationaler Plan gegen Gewalt an Frauen
Das sieht auch die 54-jährige Fabiana Tuñez so, und sie muss es wohl wissen. Tuñez war früher Präsidentin von La Casa del Encuentro. Sie ist Mitgründerin jener Organisation, die den argentinischen Staat jahrelang aufforderte, gegen die Gewalt an Frauen aktiv zu werden. Als Präsident Mauricio Macri ihr vor eineinhalb Jahren anbot, den Nationalen Frauenrat zu leiten, sagte Fabiana Tuñez zu. Nun koordiniert sie selbst von höchster Regierungsstelle aus die Prävention und Bekämpfung der Gender-Gewalt. Tuñez' Büro befindet sich in einem schmalen, alten Gebäude in der Innenstadt von Buenos Aires.
"Eine der Forderungen der Ni-una-menos-Bewegung war, dass ein nationaler Plan gegen die Gewalt an Frauen erarbeitet wird. Als ich mein Amt antrat, machte ich mich sofort an die Arbeit – einen solchen Plan hatte ich ja als Aktivistin früher selbst gefordert. Im vergangenen Juli hat Präsident Macri den Plan vorgestellt und nun ist er im Prozess der Umsetzung. Natürlich wird die Gewalt gegen Frauen nicht wie von Zauberhand von einem Tag auf den anderen verschwinden. Aber immerhin hat unser Land zum ersten Mal einen strategischen Plan."
Der Druck der Zivilgesellschaft zeigt erste Erfolge
Der Plan hätte eigentlich schon vor Jahren fertig werden sollen – so sah es zumindest das Gesetz zum integralen Schutz der Frauen vor, das in Argentinien 2010 in Kraft trat. Doch lange Zeit geschah nichts. Zweifellos liegt es am gewachsenen Druck der Zivilgesellschaft, dass inzwischen 69 konkrete Maßnahmen formuliert worden sind. Fabiana Tuñez, Präsidentin des Frauenrats, nennt die wichtigsten:
"Als Maßnahme mit langfristiger Wirkung werden wir die Gender-Problematik in die Lehrpläne der Schulen aufnehmen. Mittelfristig sollen alle Angestellten von Justiz und Polizei fortgebildet und für den besonderen Tatbestand der geschlechtsspezifischen Gewalt sensibilisiert werden. Und als Sofortmaßnahme sind wir dabei, elektronische Fußfesseln einzuführen – zur Überwachung gewalttätiger Männer, denen die Justiz untersagt hat, sich ihren Frauen zu nähern. Auch eine Handy-App ist geplant, mit der Frauen alarmiert werden, wenn der Angreifer in der Nähe ist. Außerdem sollen sechzig Zufluchtsorte für Gewaltopfer und Frauenhäuser eröffnet werden."
Die Politik nimmt das Problem ernst
Das Vorhaben ist ehrgeizig und die Umsetzung kann dauern. Langwierige Verhandlungen mit den Provinzen sind erforderlich, Argentinien ist ein föderaler Staat. Die gute Nachricht ist, sagt Fabiana Tuñez, dass der Plan gegen Gewalt an Frauen einen eigenen Etat hat. Und das hat es in Argentiniens Geschichte tatsächlich noch nie gegeben. 47 Millionen Pesos – umgerechnet gut 2,7 Millionen Euro – stellt die Regierung Macri zur Verfügung. Der Kongress hat Ende letzten Jahres grünes Licht gegeben – mit den Stimmen von Regierung und Opposition. Fabiana Tuñez glaubt, dass das Problem Gender-Gewalt von der Politik heute ernst genommen wird – und hofft auf einen allmählichen kulturellen Wandel.
"Im lateinamerikanischen Vergleich hat Argentinien bei der Gesetzgebung große Fortschritte gemacht. Unsere große Herausforderung bleibt, die patriarchalische Macho-Kultur auszurotten. Machismo ist in diesem Land etwas Alltägliches. Nur ein Beispiel: Frauen werden in öffentlichen Verkehrsmitteln oft angegrapscht. Wenn wir heute bei den Schülern ansetzen, werden wir die Ergebnisse in zwanzig Jahren sehen. Dann werden wir sicher eine Gesellschaft mit anderen Werten haben."
Der Protest springt über die Nationalgrenzen
Für Gesellschaften mit anderen Werten demonstrieren Menschen heute auch in Peru, Chile und Uruguay. Die argentinische Protestbewegung "Nicht eine Frau weniger" hat andere Länder Südamerikas erfasst, in denen Macho-Gewalt ebenfalls traditionell stark ausgeprägt ist. Und auch dort werden Morde von Männern an Frauen heute Femizide genannt.
Beatriz Regal, die Mutter der von ihrem Mann in Brand gesteckten Wanda, unterstützt die Protestbewegung aktiv. Dass Wandas Mörder im Gefängnis sitzt, ist für Regal nicht genug. Sie geht in Schulen, um junge Argentinier für das Problem der Gender-Gewalt zu sensibilisieren.
"Argentiniens Frauen zeigen eine beeindruckende Stärke. Der Aufruf von Ni una menos hat uns alle zusammengeschweißt. Wir werden nicht aufhören, gegen die Gewalt an Frauen zu kämpfen."