Gleichberechtigung geht anders
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Geschlechtergerechtigkeit - in Albanien ein Fremdwort: Etwa die Hälfte der Frauen sind von häuslicher Gewalt betroffen. Viele Männer betrachten ihre Frauen als persönlichen Besitz. Söhne sind erwünscht, weibliche Föten werden oft abgetrieben.
Vorhin hat Erjona Rusi noch ihre tägliche Fernsehsendung moderiert. Jetzt sitzt sie in einem der vielen Cafés in der Innenstadt von Tirana. Und redet, redet und redet:
"Meine Freunde sagen, ich sei ein Workaholic. Ich finde immer Arbeit."
Die junge Frau mit den langen blonden Haaren scheint über nicht enden wollende Kraftreserven zu verfügen.
"Ich habe zwei Fernsehshows, einen Teilzeitjob als PR-Beraterin. Ich habe also drei Jobs. Und das Bitch-Magazin ist Nummer vier. Aber damit verdiene ich nichts. Das mache ich nur aus Leidenschaft. Das ist eine Internetseite mit Neuigkeiten zum Thema Feminismus und Geschlechtergerechtigkeit."
Seit vergangenem Jahr betreibt die Journalistin mit Hilfe von ein paar Kolleginnen das Onlinemagazin und gilt seitdem als eine der feministischen Vorkämpferin im kleinen Drei-Millionen-Einwohner-Land Albanien. Als eine mit ziemlich extremen Positionen. Allein schon der Name ihrer Internetseite gilt als Provokation.
"Wir haben so viele Internetseiten und Medien, die viel über Politik berichten, über Showbusiness, aber nichts über Feminismus und Geschlechtergerechtigkeit oder häusliche Gewalt oder über Stereotypen, all das, was uns helfen würde, als Gesellschaft voranzukommen. Also habe ich mir gesagt: Okay, wir brauchen das."
Die häusliche Gewalt ist das größte Problem
Eines der am meisten diskutierten Themen sei Gewalt in der Ehe. Denn eine von zwei Frauen sei häuslicher Gewalt durch ihren Partner ausgesetzt, heißt es in einer aktuellen Studie der albanischen Statistikbehörde. Etwa 20 Prozent erleben physische oder sexualisierte Gewalt durch den Ehemann oder Freund.
"Ja, das ist das größte Problem, häusliche Gewalt."
Während die Kellner zu ihr herüberschauen – sie haben die TV-Moderatorin sicher erkannt – referiert Rusi weiter über ihre Theorie zur häuslichen Gewalt und den Ursachen.
"Für meine Arbeit als Journalistin und für Frauennetzwerke habe ich überall in Albanien Interviews geführt mit Männern, die ihre Frauen geschlagen haben. Und was ich als Gemeinsamkeit in all diesen Interviews gefunden habe, ist ein Satz, den wir nicht vergessen sollten. Sie sagen: 'Wir wurden so erzogen, das wurde uns so beigebracht, dass der Mann das letzte Wort hat. Dass der Mann der Chef ist.'"
Die Männer haben Angst vor dem Urteil der Gesellschaft
Ein Geschlechterstereotyp, das auch für Männer nur schwer zu durchbrechen sei, meint Rusi – zündet sich eine Zigarette an und bestellt noch eine Coca-Cola.
"Mal angenommen, du bist ein toller Mann: Du möchtest deine Frau respektieren und ihr helfen. Zum Beispiel möchtest du einkaufen gehen, auf dem Markt. In einer sehr patriarchalisch geprägten Region Albaniens würden Leute dann sagen: Du bist kein echter Mann. Sie verspotten dich. Viele der Männer haben Angst vor dem Urteil der Gesellschaft. Das fürchten sie mehr als das Gesetz oder Strafen. Dass Leute sagen: 'Schau, er wurde von seine Frau verlassen, von seiner Frau geschieden.' So – und was macht er? Er bringt seine Frau um."
2006 verabschiedete das albanische Parlament zwar ein Gesetz, um Frauen besser vor häuslicher Gewalt zu schützen. Frauen können Schutzanordnungen stellen. Und seitdem trauen sich deutlich mehr Frauen, ihren gewalttätigen Partner anzuzeigen. Im Jahr 2005 waren es noch nicht mal hundert Meldungen, seit 2014 liegen die Zahlen jährlich bei über 3000. Doch die Dunkelziffer ist noch immer hoch, da ist sich Rusi sicher.
"Frauen haben noch immer Angst, das zur Anzeige zu bringen. Manche denken, er wird es nicht wieder tun. Anderen haben Angst, dass sie die Familie zerstören, wenn sie ihn anzeigen. Und wiederum andere tun es nicht, weil sie keine wirtschaftliche Unabhängigkeit haben. Wo sollen sie hingehen, wenn sie sich scheiden lassen? Deswegen ist mir die Botschaft so wichtig: Gebt Mädchen eine gute Ausbildung. Denn wenn sie wirtschaftlich unabhängig sind, sind sie es auch in jeglicher anderen Art und Weise. Wenn ich wirklich Probleme mit meinem Mann habe, ist mir das egal: Ich lass mich scheiden und lebe allein. Aber dafür braucht man wirtschaftliche Unabhängigkeit. Und nur ein kleiner Teil der Frauen hier haben das."
Die Frau als Besitz des Mannes
An einer großen Hauptstraße von Tirana liegt das Anwaltsbüro von Elona Saliaj. In dem kleinen Raum mit Glasfront zum Gehweg könnte genauso gut eine Autovermietung oder ein Reisebüro untergebracht sein. Nur die juristischen Abschlussurkunden sowie die Auszeichnung an der einen Wand und die kleine Justitia-Statue im Regal verweisen auf Saliajs Arbeit als Notarin und Anwältin. Außerdem setzt sie sich seit Jahren für Frauenrechte ein – klärt im ganzen Land darüber auf, welche Besitzrechte Frauen haben.
"Als ich die Workshops in den Dörfern gemacht habe, haben mir viele Frauen gedankt und gesagt, wir wussten nicht, dass wir diese Rechte haben und Männern gegenüber gleichgestellt sind."
Dass Frauen auch ein Anrecht auf Familienbesitz oder Erbe haben, werde bis heute oft einfach ignoriert. Denn den alten Traditionen zufolge sind die Frauen eher Besitz, als dass sie selbst etwas besitzen.
"Der Frau werden keine Rechte, kein Besitz zugestanden. Noch nicht einmal von ihrem Vater, denn aus seiner Sicht wird die Frau in eine andern Familie einheiraten und dort versorgt. Auch ihr Bruder, der allen Familienbesitz erbt, sieht das so. Und wenn sie heiratet, sieht der Ehemann sie als seinen Besitz an und setzt sie unter Druck: 'Wenn du dich scheiden lässt, verlierst du alles – auch dein Vermögen'."
Während die Juristin erzählt, schlüpft eine junge Frau fast lautlos durch die Tür der Anwaltspraxis. Ilda Cadra ist eine von Saliajs Klientinnen. Eine der vielen, die mit ähnlichen Problemen zu ihr in die Kanzlei gekommen sind. Sie wurden von ihren Ehemännern geschlagen, haben sich scheiden lassen – und stehen plötzlich mittellos da. Besitz wird ihnen verweigert. Und ein Gerichtsverfahren kann sich über Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte hinziehen. Ilda Cadra ist nach ihrer Scheidung wieder bei ihren Eltern eingezogen, weil sie kein Geld hat.
"Erst hatten wir eine Bar, daraus wurde ein Restaurant und das wuchs und wurde zusätzlich eine Veranstaltungshalle. Ich habe täglich zwei Schichten gearbeitet, um sechs Uhr morgens geöffnet, um 23 Uhr abgeschlossen. Ich habe unten im Restaurant gearbeitet und bin zwischenzeitlich hoch in den ersten Stock gegangen, wo wir wohnten, hab da gewaschen, gekocht, auf die Kinder aufgepasst. Ich möchte das, was mir zusteht. Ich bin Mutter von zwei Kindern und war 14 Jahre lang seine Frau. Ich habe in unserem Geschäft gearbeitet, habe Steuern und alle Gebühren gezahlt. Und nun habe ich nichts."
Wenn sämtlicher Besitz auf den Ex-Mann eingetragen ist
Elona runzelt die Stirn, während Ilda ihre Geschichte erzählt:
"Als ich einen solchen Fall zum ersten Mal bearbeitet habe, habe ich meine Kollegen gefragt, ob solche Fälle häufig vorkommen. Und sie haben gesagt: Ja, ja, das gibt es oft, aber das geht uns ja nichts an. Niemand war bereit, das überhaupt als wirkliches Problem anzuerkennen und nach einer Lösung zu suchen."
Also nahm die Anwältin es selbst in die Hand, machte politisch Druck und schlug vor, dass bei Grundbucheinträgen grundsätzlich die Namen beider Ehepartner vermerkt werden sollen. Auf diese Weise können Frauen ihr Anrecht schneller belegen, müssen kein langjähriges Gerichtsverfahren abwarten. Mittlerweile ist dies Vorschrift. Oft ignorieren Notare und Beamte die Vorgaben aber. Auch bei Ilda Cadra. Sämtlicher Besitz ist auf dem Namen ihres Ex-Mannes eingetragen. Dies sei leider noch immer die Normalität, meint die Notarin.
In den Institutionen herrscht eine männliche Mentalität
Saliaj: Mehr als 80 Prozent der Immobilien sind im Besitz von Männern. Denn: Nur die Männer unterschreiben Verträge. Und auch vor Gericht wird Männern öfter der Besitz zugesprochen.
Autorin: Also ist das Gericht nicht neutral?
Saliaj: Nein, ist es nicht. Das ist das Problem. Wir haben Gesetze, die die Rechte der Frauen berücksichtigen, aber vor Gericht und in den Institutionen respektieren sie Frauen nicht. Denn hier herrscht eine männliche Mentalität.
Ilda Cadra hat sich trotzdem entschieden, vor Gericht zu ziehen: Sie möchte um ihr Recht kämpfen, auch wenn dies Jahre dauern kann.
Gerade hatte sie noch eine Besprechung wegen des Coronavirus, erzählt die Ärztin Rubena Moisiu. Aufrecht, in weißem Kittel, mit rotgeschminkten Lippen steht sie vor der Geburtsklinik von Tirana: eine imposante Erscheinung inmitten all des frisch herausgeputzten Krankenbesuchs, der sich vor der Tür der Geburtsklinik staut – und vergeblich hofft, eingelassen zu werden. Denn das Virus verhindert den Besuch:
"Nein, niemand außer Personal und den Patienten."
Wenn der Ultraschall über Leben und Tod entscheidet
Moisiu arbeitet seit 33 Jahren in der Gynäkologie, lehrt als Professorin und ist als Chefärztin für die komplizierten Operationen zuständig. Und sie ist eine der wenigen, die bereit ist, über ein ziemlich heikles Thema zu sprechen, das ebenfalls mit dem traditionellen Rollenbild und den Besitzverhältnissen von Mann und Frau in Albanien zu tun hat.
"Junge oder Mädchen?" Das sei fast immer die erste Frage nach einer Ultraschalluntersuchung, erzählt Moisiu, während sie eine Frau beobachtet, die gestützt auf ihren Partner der Kliniktür entgegenwatschelt. Die Antwort der Ärztin kann dann über ein Leben entscheiden.
"Sie wollen Jungen. Bei einer Hochzeit wünscht jeder dem Brautpaar: 'Herzlichen Glückwunsch – und möget ihr einen Jungen bekommen'. Die albanischen Männer denken, wenn sie Jungen haben, seien sie männlicher."
Zu viele Mädchen sind unerwünscht
Einer der Gründe, weswegen jede Familie mindestens einen Sohn, einen Stammhalter haben möchte. Zu viele Mädchen sind dagegen unerwünscht. Und so geschieht hier, mitten in Europa, was sonst eher aus Indien oder China bekannt ist: Weibliche Föten werden abgetrieben.
"Die Leute haben heute nur noch ein oder zwei Kinder. Deswegen wollen sie sichergehen: Wenn sie bereits ein Mädchen haben, möchten sie danach einen Jungen bekommen. Und die medizinischen Möglichkeiten, das Geschlecht zu identifizieren, haben in den vergangenen Jahren zugenommen."
Zwar sind Abtreibungen in Albanien nur bis zur zwölften Schwangerschaftswoche erlaubt. In dieser Zeit lässt sich das Geschlecht per Ultraschall noch nicht bestimmen. Danach ist ein Schwangerschaftsabbruch nur in Ausnahmesituationen und mit einer ärztlichen Bestätigung zulässig. Abtreibungen aufgrund des Geschlechts sind also illegal – und dennoch sind sie Klinikalltag, sagt Moisiu.
"Eine Möglichkeit ist ein medizinischer Nachweis, dass sie auch nach der zwölften Woche abtreiben dürfen, sie kaufen diesen Beleg. Eine andere ist: Es gibt Pillen. Sie sind in den Apotheken erhältlich, weil sie bei Magenproblemen helfen. Aber sie führen auch zu Uterus-Kontraktionen. Und das weiß jeder. Die kann man verwenden. Und dann kommen die Frauen ins Krankenhaus: Ups, ich bin krank. Oh Gott. In unserer Behandlungsakte steht dann: plötzliche Fehlgeburt, weil sie dir nicht die Wahrheit sagen."
"Es ist Mord"
Offizielle Statistiken zum Thema gibt es nicht. Und selbst manche Ärzte würden das Phänomen leugnen. Aber die Geburtsstatistik zeigt: Es werden sehr viel mehr männliche Babys geboren. In manchen Jahren sind es 108, die auf 100 Mädchen kommen. Mal sogar 111. Das natürliche Geburtenverhältnis liegt bei 105 Jungen zu 100 Mädchen.
"Dieses Verhältnis ist zu hoch, um natürlich zu sein. Es ist keine natürliche Rate. Also kann man daraus schlussfolgern, dass selektive Abtreibung dies bewirkt. Sie können Mädchen umbringen. Ich nenne es umbringen. Es ist Mord."
Eine Frau, die keinen Sohn gebärt, galt deswegen früher in Albanien oft als nutzlos. Ehen wurden deswegen geschieden. Heute ermöglicht es die moderne Medizin, dieser vermeintlichen Schande zu entgehen. Vor einigen Jahren sei es ihr gelungen, einige Parlamentarierinnen für das Problem der selektiven Abtreibung zu interessieren, erzählt Moisiu. Alle Gesetzesinitiativen seien aber im Sand verlaufen. Und heute rede keiner mehr über das Thema. Weswegen? Keine Ahnung, sagt die Ärztin. Und sie weiß, wovon sie spricht:
"Ich habe zwei Töchter. Und meine älteste Tochter hat auch zwei Mädchen. Die Jüngste ist schwanger und erwartet Zwillinge, einen Jungen und ein Mädchen. Sie hätten das Gesicht meines Mannes sehen müssen, als er erfahren hat, dass es ein Mädchen und ein Junge wird. Endlich habe ich einen Enkel! Und er ist sehr gebildet. Aber trotzdem sagt er: 'Ich gehe unter bei all den Mädchen. Ich will einen Enkel.' Wir lachen darüber, aber die Mentalität ist da. Dessen müssen wir uns bewusst sein."