Frauenrechte

Patriarchat 2.0

17:50 Minuten
Rahaf Mohammed al-Kunun (M), die aus Saudi-Arabien geflohen ist, neben Surachate Hakparn (r), Chef der Einwanderungspolizei von Thailand, am internationalen Flughafen in Bangkok.
Rahaf Mohammed al-Kunun (M), die aus Saudi-Arabien geflohen ist, neben Surachate Hakparn (r), Chef der Einwanderungspolizei von Thailand, am internationalen Flughafen in Bangkok. © Immigration Police/AP
Moderation: Marcus Richter und Vera Linß · 02.03.2019
Audio herunterladen
"Absher" ist eigentlich eine Verwaltungsapp der saudischen Regierung. Gleichzeitig ist sie Ausdruck eines Systems, das Frauen unterdrückt. Doch Kontrolle über Frauen durch digitale Technik gibt es nicht nur in Saudi-Arabien.
Rahaf Mohammed al-Kunun hat es geschafft. Die junge Saudi-Araberin ist im Januar aus dem Land geflohen, dessen patriarchale Strukturen sie unterdrückten: Sie hatte sich gegen eine Zwangsehe zu Wehr gesetzt und sich vom Islam losgesagt. Nach eigenen Angaben wurde sie von männlichen Angehörigen ihrer eigenen Familie geschlagen und bedroht. Inzwischen hat al-Kunun Asyl in Kanada bekommen.
In Saudi-Arabien versuchen immer wieder Frauen gegen den Willen ihrer Familien aus dem Land zu fliehen. Doch für diese Flucht gibt es ein großes Hindernis: Saudi-Araberinnen dürfen nur mit der Genehmigung eines männliches Vormundes ins Ausland reisen.
Über die App Absher, eine Verwaltungsapp der saudischen Regierung, kann der Mann seiner "Schutzbefohlenen" Berechtigungen erteilen, wann und wo sie das Land verlassen kann, wohin sie reisen darf – und die Erlaubnis auch wieder entziehen. Nutzt eine in Absher registrierte Frau an einem Flughafen oder einem Grenzübergang ihren Pass, sendet die App ihrem Vormund eine Benachrichtigung.

Archaische Strukturen in Form von Klicks

Einschränkung von Frauenrechten – integriert in einer Regierungs-App: Inwieweit spiegelt das die gesellschaftliche "Standard-Einstellung" gegenüber Frauen wider? "Es ist nicht so, dass die Unterdrückung via dieser App für alle Frauen gleich ist. Das hängt stark davon ab, in welche Familie man geboren ist. Es gibt auch sehr liberale Familien. Wenn du in so eine Familie geboren bist, dann spürst du es nicht so stark. Dann ist es auch kein Problem für dich", sagt die Saudi-Arabien-Expertin Miriam Seyffarth.
Die Islamwissenschaftlerin Miriam Seyffarth.
Die Islamwissenschaftlerin Miriam Seyffarth.© Deutschlandradio - Andreas Buron
Abir Ghattas von Human Rights Watch betont, es gelte grundsätzlich: "Ich würde sagen, der Standard ist: Frauen dürfen nicht reisen. Das bedeutet, die Grundeinstellung ist: Frauen sind Bürger zweiter Klasse." Im Prinzip ist die von der Regierung herausgegebene App Absher damit eine Benutzeroberfläche für Unterdrückung. Archaische Strukturen werden dort in Form von Klicks ausgedrückt und aufrechterhalten.

Handy kapern und selbst Genehmigungen erteilen

Doch die App Absher sei immer noch besser als das System zuvor, als Männer ihren Frauen die Reiseerlaubnis schriftlich erteilten, sagt Miriam Seyffarth. Denn verschafft sich eine Saudi-Araberin Zugriff auf die App, hat sie auch Kontrolle über ihre Reisefreiheit.
"Heute gibt es Leute, die das Telefon vom Papa oder vom Ehemann nehmen, sich mal eben schnell online die Berechtigung geben, die Koffer packen und sich aus dem Staub machen. Das ging früher ohne die App nicht, deswegen weiß ich nicht so genau, ob man sagen kann, es ist besser oder schlechter, dass es die App gibt", berichtet Seyffarth.

Verantwortung der App-Anbieter Google und Apple

Eine Flucht ist aber sehr gefährlich. Wenn die Frau erwischt wird, besteht unter Umständen Lebensgefahr. Eine App, die ein System unterstützt, das Leben bedroht: Inwieweit haben die Vertreiber dieser Apps, Apple und Google, die Verantwortung, die App aus ihren Stores zu nehmen?
"Apple und Google haben grundsätzlich diese Verantwortung gegenüber ihren Nutzern. Sie haben sogar Richtlinien in ihrem System, dass sie Apps verbieten können, die Threads und Belästigung erleichtern", sagt Menschenrechtsaktivistin Ghattas. Es würde politisch ein Zeichen setzen, wenn die beiden Firmen Saudi-Arabien dazu zwingen würden, den Teil der App Absher, der die Reisefreiheit von Frauen einschränkt, herauszunehmen, so Ghattas.

"Vormundschaft abschaffen"

Die Saudi-Arabien-Expertin Miriam Seyffarth geht noch einen Schritt weiter: "Es ergibt viel mehr Sinn, die Gelegenheit jetzt zu nutzen, wenn man zum Beispiel Google oder Apple ist, und zu sagen: Für euch wäre es wirtschaftlich viel sinnvoller – und auch für uns, für unser wirtschaftliches Wachstum, wenn ihr das Vormundschaftssystem abschaffen würdet. Denn dadurch könnt ihr die tatsächliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Teilhabe von Frauen und die Entfaltung ihres Potentials unterstützen."
Doch bisher blieb es allein beim Versprechen der beiden Plattformbetreiber, den Fall Absher zu prüfen. Was auch daran liegen könnte, dass Saudi Arabien ein wichtiger Wirtschaftspartner ist: Die königliche Familie investiert im Silicon Valley, für die USA ist das Land ein strategischer Partner in der Region.
Hoffnung, so spitzt Abir Ghattas von Human Rights Watch zu, gebe es vor allem, wenn Saudi-Arabien kein Öl mehr habe. Damit würde die Macht des Landes schwinden und es sei eher gezwungen, sich dem Gebot der Menschenrechte anzuschließen, wonach Frauen und Männer gleich behandelt werden.

Formen digitaler Gewalt in Deutschland

Aber wie sieht es eigentlich in Deutschland in Bezug auf Bevormundung durch digitale Technik aus? Hier gibt es zwar keine diskriminierenden Regierungs-Apps, aber dafür eine ganze Reihe von Spionage-Apps. Solche Anwendungen sprechen dasselbe archaische Muster an wie Absher: den Partner kontrollieren.

Was tun gegen digitale Gewalt und Cyberstalking?
Umfassende Informationen zum Thema und auch eine Suche für Beratungsstellen vor Ort hat der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe auf seiner Homepage.
Das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" bietet bundesweit Beratungen für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben: 08000 116 016
Infos zum Schutz vor SpyApps gibt es auf der Webseite "Mobilsicher".

Die Rechtslage ist in Deutschland eindeutig: Es ist strafbar, das Telefon einer anderen Person zu nutzen, um zu lauschen oder an Bilder zu kommen. Gemacht wird es trotzdem. Und es gibt auch andere Formen digitaler Gewalt. Doch politisch spielen diese keine Rolle, sagt Anne Roth, die sich als netzpolitische Referentin der Linken und Aktivistin mit dem Thema beschäftigt.

Digitale Gewalt nimmt zu

"Es gibt keine Bereitschaft, auch nur zu erfassen, wie groß das Problem ist. Obwohl sich die Bundesregierung mit der Unterzeichnung der Istanbul-Konvention verpflichtet hat, zu dem Thema Statistiken zu führen und Studien zu beauftragen", sagt Roth.
Eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke habe gezeigt, dass in diesem Bereich kein Interesse bestehe. Doch das Problem sei sichtbar: "Der Bundesverband Frauenberatungstellen und Frauennotrufe hat unter den eigenen Mitgliedern eine Umfrage gemacht, wo Beratungsstellen gefragt wurden: 'Begegnet euch das - digitale Gewaltformen im Bereich häusliche Gewalt?' Und die haben gesagt: 'Ja, das taucht ständig auf und nimmt auch massiv zu."
Mehr zum Thema