"Komme ich heute ins Gefängnis?"
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Seit Jahrzehnten engagiert sich Eren Keskin für Frauenrechte. Heute rechnet die kurdische Rechtsanwältin täglich mit ihrer Verhaftung. Insgesamt 143 Verfahren sind in der Türkei aktuell gegen sie anhängig, das Land verlassen will sie auf keinen Fall.
Eren Keskin muss noch einmal kurz ans Handy, bevor das Interview beginnen kann. Es ist ihre 86-jährige Mutter, die sich vergewissern will, ob die Tochter noch in Freiheit ist. Mehrmals am Tag fragt die alte Dame nach, und das nicht etwa, weil sie vergesslich wäre: Eren Keskin kann tatsächlich jeden Augenblick ins Gefängnis kommen.
"Jeden Tag wache ich mit der Frage auf, ob ich heute ins Gefängnis komme. Es ist anstrengend, so zu leben. Ich habe eine alte Mutter, ich habe Katzen, ich habe eine Kanzlei - ich muss regeln, wie alle versorgt werden, wenn ich ins Gefängnis muss. Das stresst. Es ist eigentlich unfassbar, dass Menschen in diesem Jahrhundert noch eingesperrt werden, weil sie anders denken als der Staat."
143 Verfahren gegen sie
Keskin weiß selbst nicht mehr, wie oft sie schon vor Gericht gestellt worden ist, weil sie anders denkt. Aktuell sind 143 Verfahren gegen sie anhängig, weil sie sich mit der kurdischen Zeitung "Özgür Gündem" solidarisiert hatte und deshalb für deren Berichte verantwortlich gemacht wird – die Justiz wertet sie als Terrorpropaganda. Die ersten Urteile sind schon gefallen und liegen nun Berufungsrichtern vor, die sie jeden Moment und ohne Verhandlung bestätigen können.
"Derzeit liegt den Richtern eine Verurteilung zu zwölfeinhalb Jahren Haft vor, aber das ist längst nicht alles. Insgesamt kommen Haftstrafen auf mich zu, die ich in meinem Leben nicht absitzen kann. Außerdem bin ich zu hohen Geldstrafen verurteilt, die versuche ich in Raten abzustottern. Wenn ich eine Rate verpasse, komme ich sofort in Haft."
Als Menschenrechtlerin ist Eren Keskin international bekannt, unter anderem als langjährige Vorsitzende des türkischen Menschenrechtsvereins IHD, doch in ihrem Alltag als Rechtsanwältin engagiert sie sich insbesondere für Frauenrechte. Dafür entschied sie sich im Gefängnis, wo sie Mitte der 90er Jahre schon einmal einsaß – auch damals wegen einer Meinungsäußerung zur Kurdenfrage.
Kostenloser Rechtsbeistand für Frauen
"Ich habe im Gefängnis erlebt, wie sexuelle Gewalt als Folterinstrument eingesetzt wird. Ich habe gesehen, dass Frauen in der Polizeihaft sexuell misshandelt, vergewaltigt oder gefoltert wurden - und es gab niemanden, an den sie sich wenden konnten. Als ich 1997 aus dem Gefängnis kam, habe ich eine Rechtshilfe für Frauen gegründet, die in der Polizeihaft sexuell missbraucht wurden. Seither leiste ich mit meiner Kanzlei kostenlosen Rechtsbeistand für betroffene Frauen, ohne Ansehen der Person oder der Vorwürfe. Das ist für mich zu einem Lebenswerk geworden."
Auf Panels und Konferenzen informiert Eren Keskin über die Menschenrechtsverletzungen an Frauen hinter Gittern und über Gewalt gegen Frauen in allen Gesellschaftsbereichen. Dabei kritisiert sie nicht nur den Staat und seine Strukturen, sondern prangert auch den Chauvinismus in den eigenen Reihen an.
"Auch alternative Organisationen haben militärische und patriarchale Strukturen, darin ähneln wir leider unseren Herrschern. Das ist mir im Gefängnis sehr aufgefallen, dass auch bei den oppositionellen Gruppierungen immer die Männer das Sagen hatten und die Frauen nicht. Das ist ein Widerspruch: Einerseits wenden wir uns gegen diesen Staat, andererseits kopieren wir seine Strukturen. Davon müssen wir uns befreien."
Eren Keskin kämpft gegen alle Zwänge, die Frauen auferlegt werden – auch ganz persönlich. Die 59-Jährige pflegt einen markanten Stil mit toupiertem Haar und dramatischem Make-up, der ihr früher viel Kritik einbrachte, auch von Mitstreiterinnen. Keskin hielt ungerührt durch: Jede Frau solle sich kleiden dürfen, wie sie will, sagt sie. Inzwischen ist die Kritik an ihrem Aussehen längst verstummt und dem Respekt gewichen – Respekt für ihren Mut, für ihren Intellekt und für ihre Integrität. Eine Flucht ins Ausland kommt für Eren Keskin trotz der drakonischen Strafverfolgung nicht in Frage.
Flucht ist keine Option
"Ich habe von Anfang an gesagt, dass ich nicht gehen werde. Wenn man verurteilt wird und flieht, dann wird das schnell vergessen. Aber wenn man bleibt und ins Gefängnis geht, dann wird das öffentlich diskutiert, dann bewegt das etwas. Ich bin auch 1995 ins Gefängnis gegangen, obwohl ich hätte fliehen können, weil ich davon überzeugt bin, dass wir unseren Kampf aus dem Gefängnis fortsetzen können. Deshalb verlasse ich das Land nicht."
Statt sich ins Ausland abzusetzen, packt Eren Keskin ihren Koffer deshalb für das Gefängnis. Für die Mutter und die Katzen hat sie Betreuung gefunden. Wenn der Vollzugsbescheid kommt, wird sie sich von ihnen verabschieden müssen, vielleicht für immer. Sie werde dennoch mit erhobenem Haupt gehen, sagt Eren Keskin.
"Ich glaube daran, was ich tue, und das respektieren sogar meine Gegner. Ich bin noch nie von einem Richter beleidigt worden, sie haben mich alle immer mit Bedauern verurteilt. Wenn ich nicht dafür eintreten würde, woran ich glaube, würde ich meine Selbstachtung verlieren. Ich will mich aber selbst achten können und stehe deshalb dafür ein, was ich denke."