Fred Pearce: "Fallout. Das Atomzeitalter – Katastrophen, Lügen und was bleibt"
Aus dem Englischen übersetzt von Tobias Rothenbücher
Antje Kunstmann Verlag, München 2020
350 Seiten, 25 Euro
Das strahlende Erbe des Atomzeitalters
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Für sein Buch "Fallout" reiste der preisgekrönte britische Wissenschaftsjournalist Fred Pearce an die Orte, wo Atombomben explodierten und Atommeiler barsten. Gleichzeitig verlegt Rowohlt einen Klassiker neu: Robert Jungks "Heller als tausend Sonnen".
Malerisch brandet die Irische See an die Küste der Grafschaft Cumbria. Hier buddeln Kinder im feuchten Sand und Hunde graben tiefe Löcher. Kaum jemand weiß, dass der Boden schon wenige Zentimeter unter der Oberfläche radioaktiv zu strahlen beginnt. "Fallout" heißt das neue Buch des Wissenschaftsjournalisten Fred Pearce – eine packende Reportagereise an die Orte, wo Atombomben explodierten, Atommeiler barsten und strahlende Fässer in Bergwerken rosten.
Platzende Uranbrennstäbe in Sellafield
Cumbria mit der riesigen Nuklearanlage Sellafield ist einer dieser Orte. Weil die britische Regierung 1957 dringend eine Wasserstoffbombe testen wollte, mussten große Mengen an Plutonium und Tritium her. "Auf dem Kreis junger Wissenschaftler, der die Anlage betrieb, lastete ein enormer Leistungsdruck", weiß der Autor und schildert, wie eine Kettenreaktion aus Übereifer, mangelnden Sicherheitsvorkehrungen, Dummheit und versagenden Warnsystemen zu einem Beinahe-GAU führten.
Niemand merkte, dass die Temperatur im Inneren des Meilers auf immense 1300 Grad Celsius anstieg. Uranbrennstäbe platzten, der Alarm ging nicht los, radioaktiver Rauch quoll aus dem Schornstein, Filter versagten, Mitarbeiter wurden auf das Reaktordach geschickt und dort vergessen, während man die Anlage mit verstrahltem Wasser flutete. Auch an die Bevölkerung dachte niemand – keine Warnung, keine Evakuierung.
Versagen in grotesken Ausmaßen
Sellafield, das damals noch Windscale hieß, ist kein Einzelfall, zeigt das Buch auf beklemmende Weise. Sämtliche Atombombentests und Atomkatastrophen gingen einher mit einem menschlich-ethischen und technischen Versagen von grotesken Ausmaßen.
Anders als Robert Jungks Klassiker "Heller als tausend Sonnen" – dieser Tage bei Rowohlt neu herausgegeben –, das Biografien und Ehrgeiz der berühmten Atomforscher des 20. Jahrhunderts in den Mittelpunkt stellt, befasst sich "Fallout" vor allem mit den Folgen für Arbeiter, Feuerwehrleute, Anwohner.
Das Vertrauen der Bevölkerung verspielt
In seiner akribischen Detailtreue oft nervenzerrüttend spannend und menschlich berührend erzählt Fred Pearce vom Schicksal der "Liquidatoren" in Tschernobyl, der Inselbewohner im Pazifik und der Fischer vor Fukushima. Sie alle wurden von geheimniskrämerischen Behörden und Politikern gründlich im Stich gelassen.
Tatsächlich neigt der Autor sogar zu der Meinung und begründet dies ausführlich, dass die zivile Nutzung der Atomkraft hinsichtlich der Strahlenbelastung möglicherweise vertretbar sein könnte. Selbst die Langzeitwirkung von Unfällen fällt nach seinen Recherchen wahrscheinlich weniger schlimm aus als vielfach befürchtet. Dennoch sei die Technik passé, so Fred Pearce, denn das Vertrauen der Bevölkerung sei verspielt.
Pizza à la Strahlenschlamm
Und so schenkt auch den Touristen an der Irischen Küste bis heute niemand reinen Wein ein, berichtet das Buch. Vor einigen Jahren fabrizierte ein Umweltaktivist eine "Pizza" mit Küstenschlamm und überreichte sie einer Londoner Behörde. Prompt kam die Pizza in ein Atomlabor zur Quarantäne und wurde anschließend in einer Spezialdeponie versenkt.
Robert Jungk: "Heller als tausend Sonnen – Das Schicksal der Atomforscher"
Rowohlt Verlag, Reinbek 2020
416 Seiten, 22 Euro