Fred Vargas: "Der Zorn der Einsiedlerin"
Aus dem Französischen von Waltraud Schwarze
Limes-Verlag, München 2018
512 Seiten, 23 Euro
Kommissar Adamsberg entdeckt die Spinnen
In Südfrankreich sterben mehrere Männer, angeblich am Biss der Braunen Einsiedlerspinne. Kommissar Adamsberg ahnt, dass mehr dahinter steckt - und ermittelt wie gewohnt versponnen und eigenwillig in Fred Vargas' wunderbar widersinnigem Universum.
Eigentlich fühlt er sich auf dem isländischen Felsblock in Grímsey ganz wohl, aber dann ereilt Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg eine Nachricht aus der französischen Heimat: Seine 27-köpfige Brigade criminelle braucht seine Hilfe bei einem Mordfall, der gar nicht so einfach ist: Eine Frau wurde ermordet, als Täter kommen der Ehemann und der Geliebte infrage. Widerwillig reist Adamsberg zurück nach Paris und beginnt unter den besorgten Blicken seines Stellvertreters Adrien Danglard mit der Aufklärung des Falls.
Aber es ist nicht das Rätsel um die ermordete Frau, das Adamsbergs nebelverhangenen Verstand beschäftigt und Commandant Danglard irritiert. Vielmehr beginnt Adamsberg, sich für Todesfälle zu interessieren, die mit einer Spinne zusammenhängen. Genauer gesagt: der Loxosceles reclusa, der Braunen Einsiedlerspinne. Eine sehr scheue Gattung, die in versteckten Ecken lebt. Aber nun sind an ihrem Gift mehrere Männer gestorben. Der Haken: Damit das Gift der Einsiedlerspinne tötet, muss eine stattliche Anzahl der seltenen Spinnen zur gleichen Zeit zubeißen. Also kommen erste Theorien über Mutationen auf. Doch Adamsberg ahnt, dass mehr an diesen Todesfällen hängt.
Ein Kommissar, der ein Wolkenschaufler ist
Seltsame Todesfälle und ein Kommissar, der eher ein Wolkenschaufler denn ein analytischer Mastermind ist, sind die Hauptzutaten von Fred Vargas' erfolgreicher Reihe um Adamsberg und seine Brigade criminelle. Die Tradition des französischen Polizeiromans dient ihr lediglich als Gerüst, ihre Brigade ist eine Ansammlung wundervoller Charaktere, die seit dem ersten Band 1991 stetig gewachsen ist. Deshalb ist jeder neue Band immer auch ein Wiedersehen mit Figuren wie Lieutenant Veyrenc mit den roten Haarsträhnen, der wie Adamsberg aus den Pyrenäen stammt und gelegentlich in Alexandrinern spricht. Oder aber der wundervollen Lieutenant Violette Retancourt, eine starke Frau, von Adamsberg meist als Göttin bezeichnet.
So hat sich Vargas in den vergangenen Jahren ein wunderbar widersinniges Universum erschaffen, in dem die Pest in Frankreich wieder ausbrechen oder eine Horde Untoter ihr Unwesen treiben kann. Das ist die zweite wesentliche Zutat eines Vargas-Krimis: Inspiration und ihre Fälle findet die Französin in weniger bekannten Märchen, Sagen und Volksglauben. In diesem Buch steuern die Einsiedlerspinnen Schauer und Grusel bei, dazu kommen aber die Geschichten der menschlichen Einsiedlerinnen, die sich in früheren Zeiten eingemauert haben – aus religiöser Überzeugung, sagen die einen. Aus tiefster Verzweiflung, die anderen.
Wie Wegsehen Gewalt und Ausgrenzung ermöglicht
Hierin liegt das Bestechende an "Der Zorn der Einsiedlerin": Bei aller Wiedersehensfreude, bei allen vertrauten Mustern, aller Skurrilität der Charaktere und allem Fantastischen der Krimihandlung ist dieser Roman in der heutigen Gesellschaft verankert. Vargas vergisst nicht, dass die Frauen, die einst von der Gesellschaft verstoßen wurden, noch heute ausgegrenzt und im Stich gelassen werden. Sie macht darauf aufmerksam, dass seit Jahrhunderten Wegsehen und Schweigen Gewalt und Ausgrenzung ermöglichen.
In den Eigenheiten und Macken der Charaktere, in den Legenden und den Fällen dieses Kriminalromans steckt Traumatisches. Deshalb ist "Der Zorn der Einsiedlerin" noch lange kein realistischer Polizeiroman, er ist eindeutig verankert im Vargaschen Universum. Doch in der Aufklärung des Falls, in dem Schauer und Grusel steckt auch die bittere Erkenntnis, dass sich manches einfach nicht ändert.