Hören Sie hier auch ein Interview mit Frederick Taylor. Von Joachim Scholl
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Der Anfang vom Ende
06:38 Minuten
Wie erlebten ganz normale Menschen das Jahr vor dem Zweiten Weltkrieg? Mithilfe von Zeitungsartikeln, Tagebucheinträgen und Briefen zeichnet Frederick Taylor ein Stimmungsbild. Mancher Ton aus der Vergangenheit klingt dabei erscheckend aktuell.
Wenn keiner einen Krieg wollte, gäbe es ihn auch nicht. Kriege sind hausgemacht, von Menschenhand ausgeführt, von menschlichen Hirnen ersonnen. Insofern irritiert der Titel des neuen Buches von Frederick Taylor. Der englische Untertitel jedoch macht deutlich, wen der Historiker im Blick hat, wenn er vom "Krieg, den keiner wollte" spricht: "A people’s history."
Normalbürger stehen im Zentrum seiner gut vierhundertseitigen Untersuchung, also nicht nur jene, die die Schalthebel der Macht bedienen und letztlich die Kriege verantworten. Aus Perspektive derjenigen, die in Großbritannien und im damaligen Deutschen Reich ihrem Tagwerk nachgehen, in den Urlaub fahren, Theater spielen, Kinos oder Konzerte besuchen, Männer, Frauen und Kinder, beschreibt Taylor das letzte Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.
Aufgrund üppigen Quellenmaterials zeichnet er ein Stimmungsbild jener Zeit, die an der Oberfläche als relativ normal erlebt wurde, doch von Kriegsangst grundiert war. Eine gewisse Sympathie für die Politik Hitlers, ist im Großbritannien dieser Tage durchaus nicht unüblich. Die Aufnahmebereitschaft für Flüchtlinge aus Nazideutschland hält sich in Grenzen, die Begründungen dafür unterscheiden sich kaum von denen, die heute in der EU gegenüber Flüchtlingen aus Afrika und dem Nahen Osten vorgebracht werden.
Der Preis des Friedens
Ende September 1938 dann, auf dem Höhepunkt der Sudetenkrise, erscheint ein Kriegsausbruch plötzlich greifbar nah – doch Hitler ahnt, dass das deutsche Volk noch nicht bereit ist, ihm dabei zu folgen. Dennoch erhöht er, ermutigt von der strategischen Unentschlossenheit seiner Gegenspieler in London und Paris, den Druck auf die Tschechoslowakei. Deren Preisgabe durch Chamberlain und Daladier im Rahmen des Münchner Abkommens wird von vielen Engländern zwar als Verrat betrachtet, zugleich aber als Preis für den Erhalt des Friedens akzeptiert.
Auch nach der Reichspogromnacht sieht die öffentliche Meinung in Großbritannien, keinen Grund, die Regierung zu einer Änderung ihrer (Flüchtlings)politik zu drängen. Initiativen zur Unterstützung von Flüchtlingen sind eher privat. Dennoch traut man Hitler nicht mehr.
Einmarsch in Polen
Deutschland, dessen Gesellschaft weitaus stärker militarisiert ist als die britische, wird nun durch systematischen Propagandaeinsatz kriegsreif gestimmt. Nachdem deutsche Truppen im Frühjahr 1939 auch in Prag einmarschieren, gesteht Chamberlain das Scheitern seiner Appeasement Politik ein. Er will immer noch keinen Krieg, Hitler hingegen plant bereits für Ende August 1939 den Einmarsch in Polen – den die meisten Deutschen dann tatsächlich als notwendig ansehen.
Taylor erzählt dieses letzte Jahr vor Kriegsausbruch anhand vieler einzelner Stimmen. Er collagiert sein vielfältiges Material sinnvoll, springt in der Chronologie vor und zurück, ist mitunter redundant, doch in der Gesamtheit absolut überzeugend. Insgesamt ist seine Darstellung der letzten Monate vor Kriegsausbruch weitaus stringenter als beispielsweise Florian Illies "1913" oder "Menschenrauch – Wie der Zweite Weltkrieg begann" von Nicholson Baker, die sich auch beide des Prinzips der Vielstimmigkeit und plastischer Einzelszenen bedienten.
Die Vergangenheit klingt wie die Gegenwart
Es gelingt dem Autor wunderbar ein Bild vom Alltag entstehen zu lassen. Er gibt Zeitungsartikel wieder und Tagebucheinträge, zitiert diplomatische Dokumente, öffentliche Reden und persönliche Briefe. Wir erfahren etwas über den Stellenwert des Fernsehens, wie KdF-Reisen vonstattengingen, welche Filme im Kino liefen, welche Schlager gehört wurden. Wie und wann die Bevölkerung Luftschutzbunker im Garten baute, was in der Kneipe gesprochen wurde, wohin man reiste. Teil dieses Alltags ist auch die Politik. Und so kommen Politiker und Militärs ebenso zu Wort wie die Sozialarbeiterin oder der arbeitslose Mechaniker.
Besondere Brisanz bekommt das Buch, weil es, ohne einen direkten Hinweis, an vielen Stellen den Eindruck erweckt, über seinen eigentlichen Stoff hinaus zu gehen: Taylor spricht über die Vergangenheit und das klingt mitunter so, als spräche er auch von unserer Gegenwart.
Frederick Taylor: "Der Krieg, den keiner wollte"
Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Heide Lutosch
Siedler Verlag, München 2019
429 Seiten, 30 Euro