Freiburger Thesen nach 40 Jahren

Liberale werden immer gebraucht

Von Christoph Giesa · 27.10.2011
Den Älteren wird es noch in Erinnerung sein, auch wenn es heute fast surreal wirken muss: Es gab eine Zeit, in der die FDP-Spitze sich Gedanken darüber machte, wie ein "Dritter Weg" zwischen Kapitalismus und Marxismus aussehen könnte.
Nun liegt dies schon einige Jahrzehnte zurück. In der Zwischenzeit hat sich einiges verändert. Die damals diskutierte Grundfrage allerdings, wie man den Kapitalismus zähmen und damit zu einem Instrument machen kann, der Freiheit und Lebenschancen für alle garantiert, gewinnt gerade wieder an Konjunktur – ohne dass allerdings allzu viele Menschen dabei an den Liberalismus denken.

Das ist schade. Denn ursprünglich entstammt die freiheitliche Denkrichtung der Auflehnung gegen eine absolutistische, ungerechte und bevormundende Obrigkeit, die den Menschen die Luft zur freien Entfaltung nahm. Eine Herrschaft von wenigen über viele ist für Liberale immer ein Graus gewesen – und diese Logik gilt grundsätzlich genauso für Behörden und Märkte.

Monopole und Oligopole, marktbeherrschende Stellungen jeglicher Art, zerstören den Wettbewerb. Solcherlei Situationen zu vermeiden, war daher immer schon das Ziel liberaler Ordnungspolitik; die Erkenntnis, dass es durchaus nötig sein kann, in den Markt einzugreifen, um sein Funktionieren zu garantieren, war allerdings lange Zeit wenig populär. Nun scheint das Pendel genau in die andere Richtung zu schlagen, was neue Gefahren für die Freiheit mit sich bringt.

An dieser Stelle werden Liberale gebraucht, um für Mäßigung sorgen, aber auch dafür, dass Politik, Wirtschaft und Bürger, dass all jene also, welche die Gesellschaft bilden, untereinander verbunden bleiben. Auch hier lässt sich die Situation durchaus mit der Zeit Anfang der 70er vergleichen, als der Sozialismus große Sympathien auslöste und nicht wenige von einer Revolution träumten.

Eine Besinnung auf den Geist der Freiburger Thesen von damals ist fraglos auch heute wieder eine Aufgabe. Sie formulierten klare Antworten auf Fragen, die den Menschen auf der Seele brannten, ohne sich von Neiddebatten oder Klassenkampfrhetorik antreiben zu lassen.

Die Liberalen erkannten, dass sich ein umfassendes Freiheitsverständnis nicht darauf beschränkt, formale Ansprüche an den Staat zu stellen und unberechtigte Zugriffe seiner Organe abzuwehren, sondern ein Recht auf Teilhabe an Staat und Gesellschaft einbezieht.

Werner Maihofer formulierte schon 1971, dass eine fortschrittliche liberale Gesellschaft es schaffen müsse, ein Staatsbürgertum hervorzubringen, das aus "Arbeitern, die nicht zu Proletariern deklassiert sind, und Bürgern, die nicht zu Bourgeois denaturiert sind" gleichermaßen besteht.

Diesem Ziel ist man nicht unbedingt nähergekommen - in Zeiten, da einkommensschwache Bürger verarmen und reiche sich weigern, gesamtgesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Diese Erkenntnis sollte jeden Liberalen schmerzen und so lange unruhig schlafen lassen, bis die Realitäten andere sind.

Das Ziel einer nachhaltigen Demokratisierung aller Gesellschaftsbereiche, wie es vor 40 Jahren formuliert wurde, ist noch nicht in zufriedenstellendem Maße umgesetzt. Wenn derzeit mehr und mehr über Tendenzen hin zu einer postdemokratischen Gesellschaft diskutiert wird, scheint der richtige Zeitpunkt gekommen, auch dieses Ziel endlich wieder aus der Mottenkiste zu holen. Es gibt auch heute noch viel zu tun.

Wer behauptet, liberale Kernforderungen wären inzwischen umgesetzt und deswegen habe sich der Kampf für die Freiheit in den westlichen Demokratien erledigt, der verkennt, wie fragil jede noch so hart erkämpfte Freiheit in stürmischen Zeiten ist.

"Noch eine Chance für die Liberalen", möchte man daher mit den Worten von Karl-Hermann Flach rufen. In der Hoffnung, dass die Freien Demokraten dann auch in der Lage sind, diese zu nutzen. Denn die Liberalen werden immer gebraucht – für Demokratie, Bürgerrechte, gesellschaftliche Verantwortung und faire Märkte.

Christoph Giesa arbeitet als Publizist und Unternehmensberater in Hamburg, war Landesvorsitzender der Jungen Liberalen Rheinland-Pfalz, Initiator der Bürgerbewegung zur Unterstützung von Joachim Gauck als Bundespräsidentschaftskandidat und Mitbegründer der linksliberalen FDP-Vereinigung "Dahrendorfkreis". Er schrieb das Buch "Bürger. Macht. Politik” (Campus-Verlag 2011). Das Zeitgeschehen kommentiert er in seinem blog.christophgiesa.de und als Kolumnist von "The European".
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