Wenn der Rettungsring vorbeischwimmt
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Freie Musiker scheinen in der Pandemie vom Staat umsorgt zu werden. Doch die Maßnahmen greifen nicht. In einer Umfrage haben 29 Prozent der freien Musikerinnen in Berlin angegeben, den Beruf stattdessen aufzugeben.
Soforthilfe, Novemberhilfe, Neustarthilfe für Soloselbstständige - solche Namen tragen die Hilfspakete der Bundesregierung, die die mangelnden Verdienstmöglichkeiten von professionellen Musikern und anderen Künstler im Shutdown der Konzert- und Opernhäuser entschädigen sollen.
Doch fast ein Drittel der freien Musikerinnen in Berlin haben in einer digitalen Umfrage des Landesmusikrates Berlin angegeben, dass sie ihren Beruf aufgeben werden. Woran liegt das? Es ist eine Situation, die auf eine tiefere Krise der freien Musikszene in Deutschland hindeutet. Künstler, Musikverbände und die Kulturpolitik geben darauf zögerlich, aber immer konturierter Antworten.
Orchester-Aushilfen gehen leer aus
Festangestellte Orchestermitglieder werden weiterbezahlt, Aushilfen in diesen Orchestern aber nicht – ebenso wenig wie viele freie Gesangssolisten an Opernhäusern oder die Mitglieder kleinerer Ensembles.
Ein spezialisierter freiberuflicher Barocktrompeter etwa, der seine Haupteinnahmen mit den festlichen Klängen in Oratorien zu Ostern und Weihnachten erzielt, muss wohl auf Einnahmeausfälle in fünfstelliger Höhe zurückblicken, wenn er für das Corona-Jahr 2020 Bilanz zieht. Für Komponistinnen und Komponisten sowie für ihre Verlage fallen die Tantiemen aus der Aufführung ihrer Werke weg. Verarmung droht den Musikschaffenden deshalb in einem modernen Wohlfahrtsstaat wie Deutschland eigentlich nicht in gleicher Weise wie im Europa früherer Jahrhunderte.
Weltweit einmalig: die Künstlersozialkasse
Immerhin gibt es in Deutschland die Künstlersozialkasse, eine Einrichtung, die freiberuflichen Künstlern und Journalisten bei den laufenden Kosten für ihre Kranken- und Pflegeversicherung hilft und auch die Hälfte der regelmäßigen Zahlungen für ihre Rentenversicherungen übernimmt – wie bei normalen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Weltweit ist das einmalig.
Neben der langjährigen Einrichtung der KSK seit den 1970er-Jahren haben Bund und Länder seit Beginn der Pandemie zahlreiche Hilfsprogramme für Soloselbstständige auf den Weg gebracht, von denen auch freiberufliche Musikerinnen und Musiker profitiert haben.
Fast ein Drittel der freien Musiker in Berlin gibt auf
Der Dirigent Ralf Sochaczewsky, Mitglied im Präsidium des Landesmusikrats Berlin, zählt diese Maßnahmen auf: Soforthilfe, Stipendienprogramme, Sozialschutzpakete, Überbrückungshilfen. Das klingt nach einer differenziert aufgefächerten Unterstützung, bei der für alle Soloselbständigen etwas dabei sein sollte. So scheint es aber nicht zu sein.
Im Dezember letzten Jahres schreckte eine Umfrage des Landesmusikrats Berlin auf: Ein Drittel der freien Musikerinnen und Musiker in Berlin möchte den Beruf wechseln oder hat dies bereits getan. Was die Umfrage ebenfalls ergab: Viele vom Veranstaltungsverbot Betroffene aus der freien Musikszene haben gar keinen Antrag auf Unterstützung gestellt.
Leben ohne Lebenshaltungskosten?
Nur wenige Hilfsprogramme zahlten auch für die Lebenshaltungskosten von Musikerinnen und Musikern. Gerade dafür aber durfte die Berliner Soforthilfe für soloselbständige Künstler schon zwei Wochen nach Start des Programms nicht mehr beantragt werden. Man musste bei einer späteren Prüfung nachweisen können, dass man von diesem Geld nicht seine normalen Lebenshaltungskosten bezahlte, sondern ausschließlich laufende Kosten für Arbeitsräume und Material.
Solche Kosten haben aber soloselbständige Kulturschaffende oft nur in geringem Maße. Die erste Soforthilfe des Landes Berlin in der Covid-19-Pandemie haben im letzten Frühjahr also nur die eher schnellen Antragsteller bekommen. Verwirrung war die Folge – und dann Enttäuschung und Panik.
Angepasste Hilfsangebote erwartet
Die Bundesregierung hatte Kritik geübt an der Großzügigkeit, mit der der Berliner Senat die ersten Soforthilfen für Soloselbständige auszahlte. Hatten Bundespolitiker Angst, dass hier zu hohe Erwartungen gegenüber zukünftigen Unterstützungsprogramme von Bundesseite geschürt würden?
Berlins Kultursenator Klaus Lederer von der Partei Die Linke hatte sich von den Soforthilfen des Berliner Senats tatsächlich erhofft, dass sie eine Vorbildwirkung entfalten: für künftige Künstlerhilfen aus der Bundesregierung. Denn diese, so hoffte Lederer zu Beginn der Pandemie, mussten bald kommen.
Berliner Sonderweg
Klaus Lederer: "Wir haben diese 5000 Euro ausgerollt. Die waren gut. Die hätte ich am liebsten über die ganze Dauer der Pandemie gemacht. Aber das war leider nicht möglich, weil wir das hier einfach als Landeshaushalt nicht stemmen können. Also wir haben hier einen hohen dreistelligen Millionenbetrag innerhalb von drei Tagen, vier Tagen, fünf Tagen unter die Leute gebracht, in der Hoffnung, dann auch den Bund zu veranlassen, das dann auch zu übernehmen.
Weil ich auch der Ansicht bin, soziale Sicherung ist Bundesangelegenheit. Da können die nichts erzählen vom Kulturföderalismus. Das halte ich für ein Argument, das nicht zieht. Wenn große Autokonzerne Bundeshilfe bekommen haben, da hat man sich ja auch nicht hingestellt und hat gesagt: Wirtschaftsförderung ist Landesangelegenheit. Kümmert euch mal selber."
Der Bund übernahm tatsächlich die Soforthilfen, als die Landeshaushalte überfordert waren – aber er ersetzte den Soloselbständigen nur ihre Betriebsausgaben. Musiker haben Betriebsausgaben jedoch nur in sehr geringem Umfang. Viele sind unsicher, ob außer Fahrtkosten auch neue Saiten oder neue Noten überhaupt dazuzählen.
Alarmstufe rot
Erst mit der sogenannten Novemberhilfe wurde dies berücksichtigt. Erst zu einem Zeitpunkt also, als viele Freischaffende bereits ihre Altersvorsorge angegriffen hatten. Die Sängerin Sarah Krispin, aktiv in der Initiative "Alarmstufe Rot", erklärt, weshalb diese und andere Maßnahmen dennoch oft nicht alle Musikerinnen erreichten.
"Da bestand das Problem, dass zumindest im Bereich der Künstlerinnen doch wieder einige durchs Raster gefallen sind. Das kann man an ein paar Punkten erklären, zum Beispiel am Aspekt Auslandseinkünfte. Professionelle Musiker etwa, die nur von Konzerten leben, sind natürlich international tätig und haben Auslandseinkünfte. Und diese durfte man aber bei der Berechnung des Referenzumsatzes für 2019 nicht angeben.
Und dann hat sich aber etwas Gutes ereignet. Es fand mehr Kommunikation statt. Ich glaube, auch durch die Initiative der 'Alarmstufe Rot' gab es einen stärkeren Draht der Kultur auch zur Politik. Und die Verbände haben natürlich auch immer mehr gemacht. Und es wurde in der Neustarthilfe jetzt ganz viel angepasst."
Fiktiver Unternehmerlohn als Alternative
Ein Kurzarbeitergeld für Selbstständige – der sogenannte fiktive Unternehmerlohn – wird von vielen Künstlerinnen favorisiert und findet auch in der großen Politik mittlerweile zunehmend Anhänger. Selbst Kulturstaatsministerin Monika Grütters scheint mit ihrem Werben um Hartz IV für Künstler etwas vorsichtiger geworden zu sein.
Vielleicht auch, weil sie gemerkt hat: Wenn etwa Musiker sich in die Grundsicherung begeben, gehen sie eventuell nicht nur für die Dauer des Lockdowns ihrem Beruf verloren.
Bewahren von Vielfalt
Es gibt Stimmen aus der freien Musikszene in Deutschland, die diese grundsätzlichen Probleme durch neue, jüngere Musikverbände lösen wollen, weil in ihren Augen Interessenvertretungen wie der Deutsche Musikrat oder der Tonkünstlerverband den Draht zum entscheidenden Bundeswirtschaftsministerium nicht herstellen konnten.
Lose Netzwerke von selbstständigen Kreativen werden für die Wissensgesellschaft der Zukunft wichtiger als die großen Industriekonzerne sein, man sollte sich deshalb politisch an den Bedürfnissen der Freischaffenden orientieren – diese Empfehlung ist nicht neu. Wird sie sich in der realen Wirtschaftsförderung nach der Pandemie niederschlagen? Wie vielfältig wird die deutsche Musiklandschaft in Zukunft noch sein?