Prügelknabe im kalten Kunstkrieg
Der Autor Bernd Stegemann wirft in seinem neuen Buch "Lob des Realismus" der Freien Theaterszene vor, ihre Projektkultur sei ein Abbild des neuen Kapitalismus. Tobi Müller hat ein einschlägiges Festival besucht und widerspricht dieser "abenteuerlichen" Kritik.
Zwischen Düsseldorf und Mülheim an der Ruhr bin ich in einem Bus gefahren, der zu einer Bühne wurde. Und im Festivalzentrum sah ich mitunter auch die Klischees des Freien Theaters, also nackte Performer und einer, der auf die Bühne kotzte. Echt. Das Festival Impulse, aus Geldnot lange eine Biennale, zeigt wieder jedes Jahr die Highlights abseits des Stadttheaters. Dabei erfindet Impulse auch eigene Formate, wie zum Beispiel den Bus des Bildenden Künstlers Phil Collins. Natürlich gibt es auch künstlerische Moden im Freien Theater, aber die Vielfalt der Formen ist deutlich größer als im Stadttheater.
Weder teure Bühnenbilder noch aufwendige Technik
Die ersten Tage beim Festival Impulse waren eine Reise in ein Kunstgebiet, das sich zum Stadttheater wie eine Parallelgesellschaft verhält. Mehr Ausländer, mehr Reibung, mehr vorgetragene Kritik, auch an den eigenen Formen, die man wählt. Jahrelang haben sich die Stadttheater eingebildet, es gebe keine Gräben mehr zur Freien Szene. Manche freien Projektemacher schweigen aus Höflichkeit. Oder aus Angst, weil sie sich ein Stück des Kuchens erhoffen. Andere hören entnervt weg, weil sie diese Sonntagsreden nicht mehr aushalten, die der reiche Onkel im Stadttheater hält. Es gibt zwei Theatersysteme in Deutschland, die Mauer steht, es herrscht ein Kalter Kunstkrieg.
Die Öffnung der Stadttheater findet nur dahin statt, wo zusätzliche Gelder von Stiftungen oder Sozialtöpfen winken: zu "anderen Stadtteilen" und "anderen Zuschauerschichten". Die Theater wollen damit weiter wachsen. Das ist ein Verdrängungskampf, den man auch mal ohne Schmuseschleier führen könnte.
Beim Impulse Festival sah ich weder teure Bühnenbilder noch aufwendige Technik. Auch die alten Schauspieler, die ich gerne im Theater neben den jungen sehe, fehlen im Freien Theater. Weil es kaum Modelle gibt, damit in Würde zu überleben. Mitte 40 war etwa das Greisenhafteste, das unbegleitet auf die Bühne durfte.
Veränderung als Frontalangriff
In Deutschland fehlt ein durchfinanziertes Haus, das solche Kunst in die Mitte des Programms stellt und kontiniuerliche Entwicklung erlaubt. Es gibt nur Produktionshäuser wie etwa der Mousonturm in Frankfurt am Main, das Hebbel am Ufer in Berlin, kurz HAU, Kampnagel in Hamburg oder einzelne Festivals. Diese Strukturen sind in keinster Weise mit der Sicherheit der Stadttheater zu vergleichen. In Berlin gibt es zum Beispiel fünf große Schauspielhäuser mit dem gleichen Modell. Eins dieser Theater, die Volksbühne, soll nun ein anderes Modell probieren. Unter Chris Dercon wird man dort in zwei Jahren vielleicht Abende sehen, die man, ärmer produziert, jetzt schon bei Impulse sehen kann.
Doch das Stadttheater wertet diese Veränderung als Frontalangriff. Das erinnert an die Mehrheitsgesellschaft, die panisch reagiert, wenn die ersten Einwanderer in der Hierarchie aufsteigen. Klar: die Kunst ist nicht anders als die Gesellschaft, die sie hervorbringt.
Das abenteuerlichste Argument in diesem Herrschaftsdiskurs lautet aber: Die Projektkultur der Freien Gruppen sei die Speerspitze des Neoliberalismus, während im Stadttheater noch Widerstand gegen die Verhältnisse geleistet werde. In der Tat, Freie Gruppen müssen jedes Stück, jedes Projekt auf dem Markt der Fördertöpfe neu anbieten, weil sie selten regelmäßige Förderung kriegen oder diese nicht reicht. Deswegen dem Freien Theater eine Komplizenschaft mit dem Neuen Kapitalismus anzudichten, ist etwa so, als würde man frischen Hartz-IV-Empfängern in Bochum die Schließung der Opel-Werke vorwerfen.