Freihandel als Projekt der Mächtigen

Eine kleine Verteidigung des Protektionismus

Die Flaggen von Europa und den USA werden am 25.10.2016 in Schwerin (Mecklenburg-Vorpommern) mit einem Beamer auf Container projiziert.
Der Freihandel schützt vor allem die reichen Nationen, die Entwicklungsländer sitzen in der Falle - meint Journalistin Ulrike Herrmann. © dpa / ns Büttner
Von Ulrike Herrmann · 10.05.2017
Europäer sind entsetzt, wenn US-Präsident Donald Trump mit protektionistischen Maßnahmen droht. Gern wird der Eindruck erweckt, als sei Freihandel der einzige Weg, um zu Wohlstand und Reichtum zu gelangen. Die Wirtschaftskorrespondentin der "taz", Ulrike Herrmann, sieht das anders.
Die heutigen Industrieländer wurden nicht etwa durch Freihandel reich – sondern durch Protektionismus. Es lohnt ein kurzer Rückblick. Der Kapitalismus setzte etwa 1760 in England ein, und für ein Jahrhundert waren die Briten die führende Wirtschaftsnation.

Die Industrieländer wurden durch Protektionismus reich

Die europäischen Nachbarn und die USA wollten diesen technologischen Abstand so schnell wie möglich aufholen – und setzten daher im 19. Jahrhundert Tricks ein, die bis heute sehr vertraut erscheinen. Man betrieb Industriespionage, klaute und kopierte die begehrte Technologie. Dazu gehörten etwa Textilmaschinen, Eisenbahnen, Stahlverhüttung und Koksherstellung. Gleichzeitig sorgten hohe Zollschranken dafür, dass die eigenen Industriebetriebe gegen die überlegene britische Konkurrenz geschützt waren.

Freihandel schützt Supermächte

Das Motto hieß also: Protektionismus, nicht Freihandel. Besonders hoch waren die Zölle in den USA, die im Durchschnitt zwischen 35 und 50 Prozent lagen – und zwar von 1820 bis zum Zweiten Weltkrieg. Die Amerikaner reduzierten ihre Zölle erst ab 1950, als sie unangefochten die globale ökonomische Supermacht waren. Dieses Muster lässt sich stets beobachten: Freihandel ist ein Projekt der Mächtigen. Die Zölle werden erst abgeschafft, wenn die eigene Industrie zu den Weltmarktführern gehört und Konkurrenz nicht mehr fürchten muss.

Die Entwicklungsländer sind in der Falle

Heute befinden sich die Entwicklungs- und Schwellenländer in der gleichen Situation, in der Deutschland oder die USA im 19. Jahrhundert waren. Sie müssen versuchen, den technologischen Abstand zu verringern, der sie von den Industrieländern trennt.
Allerdings sind die Entwicklungsländer heute mit einem Problem konfrontiert, das die Deutschen oder Amerikaner vor 150 Jahren bei ihrer Aufholjagd noch nicht hatten: Durch den technologischen Fortschritt steigt die Mindestgröße ständig, die eine Fabrik haben muss. Selbst große Länder wie Argentinien sind zu klein, um sich hinter Zollmauern zu verschanzen und nur für den eigenen Markt zu produzieren.
Die Entwicklungsländer befinden sich in einer Falle: Sie sind auf weltweiten Freihandel angewiesen, damit sie für ihre Produkte Abnehmer finden. Gleichzeitig begünstigt aber genau dieser Freihandel die etablierten Industrieländer, die technologisch überlegen sind und daher Konkurrenz nicht fürchten müssen.

Die Kluft hat sich ausgeweitet

Zudem ist es für die Entwicklungsländer heute ungleich schwerer, überhaupt noch aufzuholen. Als die Europäer im 19. Jahrhundert die Briten beklauten, war der technische Abstand viel geringer. Die reichsten Länder waren höchstens vier Mal produktiver als die ärmsten.
Inzwischen hat sich die Kluft enorm ausgeweitet, und ein reicher Staat wie den USA ist 60 Mal so produktiv wie ein armes Land wie Äthiopien. Selbst Schwellenländer wie Brasilien hängen weit hinterher und sind fünf Mal weniger produktiv als die USA oder Deutschland.
Dies bedeutet: Wenn sich heute ein Land wie Brasilien gegen die Übermacht der Industrieländer wehren will, dann reichen Zölle von 40 Prozent nicht, wie sie die USA im 19. Jahrhundert erhoben haben – sondern es müssten Zölle von weit über 100 Prozent sein.

Protektionismus muss erlaubt sein

Trump hat also nicht völlig Unrecht: Protektionismus muss erlaubt sein – allerdings nur für Entwicklungs- und Schwellenländer.
Für Industrieländer wie die USA hingegen sind Zölle extrem schädlich. Denn dieser künstliche Schutz würde dazu führen, dass die heimischen Unternehmen sich dem Wettbewerb entziehen und überteuerte Preise verlangen können. Die Zeche müssten die amerikanischen Konsumenten zahlen.
Trumps Fehler ist also, dass er die USA offenbar für ein Entwicklungsland hält. Und das ist nun wirklich erstaunlich.

Ulrike Herrmann ist Wirtschaftskorrespondentin der Tageszeitung "taz", ausgebildete Bankkauffrau, Historikerin und Autorin zahlreicher Sachbücher. In diesen Tagen erscheint ihr neuer Titel "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung".

Die Wirtschaftskorrespondentin der "taz" Ulrike Herrmann, aufgenommen am 14.03.2010 in Köln
© picture alliance / dpa / Horst Galuschka
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