"Uns ist ein Maulkorb abgenommen worden"
Die USA wollen die Standards beim Verbraucherschutz im TTIP-Abkommen senken, so geht aus Medienberichten hervor. Greenpeace will heute den bislang geheimen Verhandlungstext veröffentlichen. Darin sieht der Europa-Abgeordnete Sven Giegold einen Erfolg des investigativen Journalismus.
Sven Giegold, Europaabgeordneter der Grünen, hat die von Greenpeace für heute angekündigte Veröffentlichung des bislang zum größten Teil geheimen Verhandlungstextes des transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP begrüßt. Es sei ein großer Fortschritt, dass den Abgeordneten jetzt sozusagen "der Maulkorb" abgenommen worden sei, sagte Giegold:
"Es war doch demokratieunwürdig, dass wir diese Dokumente zwar lesen durften, mit den Bürgerinnen und Bürgern aber nicht darüber sprechen können."
Hier habe sich investigativer Journalismus zum wiederholten Male als Korrektiv von "intransparenter Hinterzimmerpolitik" verdient gemacht, meinte Giegold vor dem Hintergrund der bereits bekannt gewordenen Informationen von "Süddeutscher Zeitung", WDR und NDR.
Die geheime Verhandlung zwischenstaatlicher Abkommen passe nicht mehr in unser Verständnis von Demokratie, äußerte Giegold:
"Das ist ein obrigkeitsstaatliches Verhältnis zur Transparenz. Hinterher, wenn die Verhandlungen fertig sind, dann wird das Ergebnis veröffentlicht. Und dann kann man nur noch 'Ja' oder 'Nein' sagen als Parlamentarier."
Transparenz als "Irreführung der Bürger"
Es sei auch "skandalös", dass die öffentlichen Informationen der EU-Kommission aus ihrer Transparenz-Initiative zu TTIP an zentralen Stellen von dem abwichen, was tatsächlich in den Texten stehe.
Grundrechte und Demokratie dürften nicht ökonomischen Zwecken untergeordnet werden, betonte Giegold. So sei in den öffentlichen Zusammenfassungen des Freihandelsabkommens bisher nicht deutlich geworden, dass der von amerikanischer Seite geforderte stärkere europäische Marktzugang für Agrarprodukte mit den Wünschen der deutschen Seite in Bezug auf die Automobilindustrie verknüpft werde. Das sei eine Irreführung der Bürger:
Grundrechte und Demokratie dürften nicht ökonomischen Zwecken untergeordnet werden, betonte Giegold. So sei in den öffentlichen Zusammenfassungen des Freihandelsabkommens bisher nicht deutlich geworden, dass der von amerikanischer Seite geforderte stärkere europäische Marktzugang für Agrarprodukte mit den Wünschen der deutschen Seite in Bezug auf die Automobilindustrie verknüpft werde. Das sei eine Irreführung der Bürger:
"Wenn ich Transparenz mache, dann muss ich sie auch richtig machen, sonst ist sie nur vorgetäuscht."
Kritik am Sonderzugang für Lobbyisten
Giegold kritisierte auch die im Abkommen offenbar enthaltene Vereinbarung über die "regulatorische Kooperation":
"Und das finde ich als Parlamentarier unakzeptabel: Dass in Zukunft Lobbyisten einen Sonderzugang zur Gesetzgebung bekommen sollen, der ihnen über diese Verträge garantiert wird, bevor die entsprechenden Probleme überhaupt öffentlich diskutiert werden können."
Die "regulatorische Kooperation" sei aus seiner Sicht ein weiterer Schritt dahin, "dass mächtige Interessengruppen zu viel Einfluss in unserer Demokratie bekommen".
Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Ein Punkt, der bei TTIP, dem geplanten Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA, besonders für Argwohn sorgt, ist die Geheimniskrämerei. NDR, WDR und "Süddeutsche Zeitung" konnten nun geheime Papiere auswerten, die ihnen von Greenpeace zugespielt wurden. Das Fazit: Die USA machen beim Verbraucherschutz extrem Druck auf die EU und der Dissens ist größer als oft behauptet. Ich spreche darüber jetzt mit dem Grünen-Europaabgeordneten und TTIP-Kritiker Sven Giegold, guten Morgen!
Sven Giegold: Guten Morgen, Herr Frenzel!
Frenzel: Herr Giegold, Sie haben diese Veröffentlichung gleich nach Bekanntwerden als Dienst an der Demokratie bezeichnet. Worin besteht dieser Dienst?
Giegold: Ja, also, aus meiner Sicht ist der bisherige Zustand ja der, dass wir diese Dokumente als Abgeordnete in den TTIP-Leseräumen einsehen dürfen. Und dass uns jetzt sozusagen der Maulkorb abgenommen worden ist, ist ein großer Fortschritt. Denn das war doch demokratieunwürdig, dass wir diese Dokumente zwar lesen durften, mit den Bürgerinnen und Bürgern aber nicht darüber sprechen konnten.
Und hier hat investigativer Journalismus zum wiederholten Male sich als Korrektiv von intransparenter Hinterzimmerpolitik verdient gemacht. Also, ich bin jedenfalls froh, dass ich jetzt endlich mit den Bürgern darüber sprechen kann.
Frenzel: Warum kann Greenpeace das tun, Details veröffentlichen, warum machen Sie es nicht einfach selbst?
Giegold: Ja, das ist eine sehr gute Frage. Ich glaube, der Hintergrund ist der, dass zwischenstaatliche Abkommen immer im Geheimen verhandelt wurden, mit ganz wenigen Ausnahmen im Rahmen der Vereinten Nationen. Das passt aber nicht mehr in unser Verständnis von Demokratie, sondern das ist ein obrigkeitsstaatliches Verhältnis zu Transparenz. Hinterher, wenn die Verhandlungen fertig sind, dann wird das Ergebnis veröffentlicht und dann kann man nur noch Ja oder Nein sagen als Parlamentarier.
Heute brauchen wir einen Prozess, dass zumindest bei internationalen Verhandlungen, die Gesetzgebung vorbereitet, dass dort Transparenz auch im Prozess ernst genommen wird. Und für mich ist schon skandalös, dass die Informationen, die die EU-Kommission in ihrer Transparenz-Initiative zu TTIP öffentlich gestellt hat, an zentralen Stellen abweichen von dem, was tatsächlich in den Texten steht.
Grundrechte und Demokratie stehen über ökonomischen Zwecken
Frenzel: Möglicherweise tun sie das, damit sie nicht auf ganz verlorenem Posten sind mit den Amerikanern, die ja alles geheim halten. Ist das nicht eine nachvollziehbare Strategie, wenn man nicht über den Tisch gezogen werden will?
Giegold: Also, ich finde halt, dass man Grundrechte und auch Demokratie nicht einfach ökonomischen Zwecken unterordnen darf. Und dazu zählt auch, was in Verhandlungen bequem ist. Der zentrale Punkt hier wirklich ist: Wenn ich auf der einen Seite sage, in den Verhandlungen habe ich ein Problem, weil die amerikanische Seite sagt, wir wollen den Marktzugang für unsere aus unserer Sicht fragwürdigen Agrarprodukte nach Europa verbessern, und umgekehrt die Europäer das Interesse haben, für den Automobilsektor einen besseren Marktzugang herauszuholen, dass das verknüpft wird und ich lasse das aus den Zusammenfassungen, die ich öffentlich stelle, einfach weg, dann ist das doch eine Irreführung der Bürgerinnen und Bürger. Also, wenn ich Transparenz mache, dann muss ich sie auch richtig machen, sonst ist sie nur vorgetäuscht.
Kritik an "Kuhhandel" bei den TTIP-Verhandlungen
Frenzel: Aber Herr Giegold, Sie sind ja ein erfahrener Politiker, Ihre Partei hat gerade in Baden-Württemberg Koalitionsverhandlungen abgeschlossen. Ist das nicht ein ganz normaler Prozess, dass man sagt, wir gehen mit unseren Forderungen rein – also die Amerikaner mit dem Wunsch, ihre genmanipulierten Lebensmittel auch in Europa verkaufen zu dürfen, und sagen, das können wir machen, oder vielmehr ihr müsst das zulassen, wenn ihr eure Autos bei uns verkaufen wollt - ist das nicht legitim, so zu verhandeln?
Giegold: Also, dass ein solcher Kuhhandel auch Teil von Verhandlungen ist, erstaunt nicht. Was aber nicht normal ist, ist, dass man eine Zusammenfassung veröffentlicht, die dann entscheidende Knackpunkte einfach weglässt.
Das Demokratieproblem besteht aber in etwas noch anderem: Der EU-Kanada-Vertrag CETA, der ja ausverhandelt ist, ist 1.600 Seiten lang. Wenn Sie am Schluss – und so war das beim Kanada-Abkommen ja – einfach nur den Vertrag vorgelegt bekommen, dann stehen Parlamentarier unter dem Druck, jetzt, entweder lasse ich den Vertrag scheitern oder ich sage Ja zu dem ganzen Paket.
Dass ein solcher Vertrag, der praktisch alle Marktsegmente abdeckt und viele Kompromisse enthält, dass das hoch problematisch ist, wenn nicht im Verfahrensprozess schon Transparenz herrscht, das ist ja offensichtlich. Und deshalb sind die Bürger ja auch so sauer und ich kann das gut verstehen.
Hat die EU-Kommission nicht hart genug verhandelt?
Frenzel: Haben Sie Sorge, dass die Europäer, also namentlich die Europäische Kommission am Ende nicht hart genug verhandelt? Die Frage ist ja: Muss man sich einlassen auf diesen Deal, den die Amerikaner zum Beispiel da aufbauen, Autos gegen Lebensmittel?
Giegold: Nun gut, also, schon jetzt ist es so, dass die Vorhersagen über das hohe Wirtschaftswachstum und neue Arbeitsplätzen, die von manchen Instituten prognostiziert werden – nicht von allen –, die sind ja nur erfüllbar, wenn man wirklich ein großes Paket schnürt. Inzwischen ist das Paket ja massiv abgerüstet. Und insofern ist auch die Kommission unter Druck, nicht ein Mini-TTIP abzuschließen. Und darüber hinaus muss man einfach sagen, dass es dann irgendwann wirklich wehtut.
Und gerade das, was offensichtlich im Bereich des Verbraucherschutzes hier drin steht, dass das Vorsorgeprinzip nicht abgesichert ist, obwohl es in den europäischen Verträgen steht, und umgekehrt der US-Senat, 26 Senatoren – das sind ja nun wirklich viele, von beiden Seiten des politischen Spektrums – erklären, sie unterschreiben keinen Deal, wenn dort nicht auch Marktzugang für Hormonfleisch, Gentechnik und so weiter enthalten ist, dann muss man sich irgendwann wirklich fragen, ob man ein solches Abkommen überhaupt will. Und aus meiner Sicht stehen Demokratie und Standards eindeutig höher als ein kleines bisschen Wirtschaftswachstum. Und hier geht es ja nun wirklich um kleine Brötchen, über die wir insgesamt reden.
Schiedsgerichte sind nicht vom Tisch
Frenzel: Umstritten sind die Schiedsgerichte, also die Frage: Können Staaten verklagt werden, wenn sie sich – ich vereinfache mal – nicht marktkonform verhalten? Da sah es bis dato eigentlich so aus, als seien die vom Tisch, zumindest hat uns das unser Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel glauben lassen. War das voreilig nach dem, was jetzt da in den Veröffentlichungen steht?
Giegold: Das ist vor allem ein Missverständnis. Denn Sigmar Gabriel und die EU-Kommission haben ja keineswegs das Ende der Schiedsgerichte angekündigt, sondern die Schiedsgerichte im Wesentlichen umbenannt. Und diese Umbenennung haben die Amerikaner nicht akzeptiert. Und das wird offensichtlich jetzt in Dokumenten deutlich, dass man keine Berufung möchte und keine unabhängigere Berufung der Schiedsrichter. Das ändert aber nichts daran, dass es sich um Sonderklagerechte zwischen Unternehmen handelt, die Unternehmen zwar gegenüber Staaten schiedsgerichtsartig durchgesetzte Schadensersatzrechte geben, aber ihnen keine Pflichten auferlegen.
Und das ist das Kreuz der internationalen Investitionspolitik, dass Unternehmen, wenn sie im Ausland Schäden anrichten, kaum haftbar gemacht werden, selbst bei schweren Verstößen gegen Menschenrechte, umgekehrt aber jetzt Sonderklagerechte eingeräumt bekommen. Und daran hat der Gabrielsche Vorschlag nichts geändert und deshalb kann auch gar nicht die Rede davon sein, dass die Schiedsgerichte jemals vom Tisch waren.
Einfluss mächtiger interessengruppen
Frenzel: Herr Giegold, ich komme noch mal kurz auf Ihre kleinen Brötchen! Andere sagen ja, es ist ein ziemlich großes Brot, 40 Prozent des Welthandels. Muss man da nicht doch vielleicht ein paar schmerzhafte Kompromisse machen, wenn man ein solches großes Projekt durchsetzen möchte?
Giegold: Also, natürlich muss man Kompromisse machen, ich bin auch überhaupt nicht dagegen, dass man Handelserleichterungen vornimmt. Zum Beispiel gibt es viele Bereiche, gerade beim Bürokratieabbau, auch in einigen Bereichen beim Zollabbau, die kann man nur begrüßen. Umgekehrt … Und dass man dort auch Kompromisse macht bei den jeweiligen wirtschaftlichen Interessen, ist normal.
Was aber nicht zur Disposition stehen darf, sind unsere demokratischen Verfahren und Rechte. Und dort enthält eben das Paket, das jetzt aufgedeckt wurde, neben den Schiedsgerichten auch noch die sogenannte regulatorische Kooperation. Und das finde ich als Parlamentarier unakzeptabel, dass in Zukunft Lobbyisten einen Sonderzugang zur Gesetzgebung bekommen sollen, der ihnen über diese Verträge garantiert wird, bevor die entsprechenden Probleme und regulatorischen Standards überhaupt öffentlich diskutiert werden können. Diese regulatorische Kooperation ist aus meiner Sicht ein weiterer Schritt dahin, dass mächtige Interessensgruppen zu viel Einfluss in unserer Demokratie bekommen.
Frenzel: Das sagt der Europaabgeordnete Sven Giegold. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Giegold: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.