Freiheit als großes Lebensthema

Rezensiert von Stephan Hilsberg |
Joachim Gauck wirbt in seinem Buch für seine Vorstellungen von Freiheit, Verantwortung und Toleranz. Dabei leitet er sein politisch-freiheitliches Selbstverständnis aus dem Motto der friedlichen Revolution ab.
Das schmale Bändchen trägt den Titel "Freiheit - ein Plädoyer", ist aber vom Duktus her eher eine Predigt. Das braucht man ihm, dem Pfarrer, nicht übelzunehmen. Ein wahrhaft christliches Selbstverständnis hat in unserem Land schon vielen zur Ehre gereicht. Und dem protestantischen Theologen Gauck kann man abnehmen, dass seine Repliken auf die biblische Schöpfungsgeschichte und die christliche Dogmatik keine bloßen Attitüden sind.

Doch etwas ganz anderes sind seine Botschaften.

Im vorgelegten Band versucht er für seine Vorstellungen von Freiheit, Verantwortung und Toleranz zu werben. Gauck leitet sein politisch-freiheitliches Selbstverständnis aus dem Motto der friedlichen Revolution schlechthin ab. "Wir sind das Volk!" skandierten die Demonstranten 1989. Gauck kommentiert:

"Dieser Satz hat uns gelehrt, dass wir, wenn wir unserer Sehnsucht glauben, und ihr vertrauen, unsere Angst verlieren."

Ein solcher Satz stimmt immer, denn er beschreibt die Kraft, die wir Menschen bekommen, wenn wir beginnen bei uns selbst zu sein, und unsere eigenen Visionen zu verwirklichen. Für Gauck beginnt dieser Zustand aber erst mit der Erlangung der politischen Freiheit während der Wende. Er schreibt:

"Wir, die wir die Bürgerrechte nicht hatten, waren zwar auch wertvoll - aber Bürger waren wir nicht."

An dieser Stelle ist Gauck ganz bei Angela Merkel, die glaubt, dass Ostdeutsche ihre Leistungsfähigkeit in der DDR nicht austesten konnten. Das aber ist ein grundsätzlicher Irrtum, weil das Selbstverständnis eines die Freiheit liebenden Menschen nicht von der Diktatur abhängt, in der er gezwungen ist zu leben.

Wer seine Freiheit liebt, und sie als unveräußerlich betrachtet, der kämpft um sie, ganz egal, wie widrig die Zeitumstände sind, die der eigenen Freiheit entgegenstehen. Und wer sich zu dieser Freiheit durchringen kann, der wird auch seine zwischenmenschlichen Beziehungen als freier Mensch gestalten, was in der Tat in einer Diktatur ungleich schwieriger ist als in einer Demokratie.

Schade, dass diese Erkenntnis in Deutschland mit seinen beiden überwundenen Diktaturen nicht zum Allgemeingut gehört. Gauck vermittelt sie leider auch nicht.

Seine Vorstellungen von Verantwortung gehören da schon eher zum Allgemeingut, aber mit einem Tick ins Konservative hinein, und tunlichst zu hinterfragen.

Auch hier ist er wieder sehr theologisch, indem er das berühmte Bibelzitat: "Gott erschuf den Menschen zu seinem Bilde ..." ergänzt durch den Halbsatz: "mit der wunderbaren Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen".

Am Schluss seiner Schrift spricht er sogar davon, dass "die Freiheit der Erwachsenen Verantwortung heißt".

Als ob die Jugend keine Verantwortung zu tragen hätte! Doch auch abgesehen von dieser merkwürdigen Einschränkung auf die Erwachsenenwelt ist der Gedanke keineswegs zwingend. Freiheit ist mehr als Verantwortung, erst recht im öffentlichen Bereich. Freiheit beinhaltet das Recht, dem eigenen Lebensentwurf zu folgen, die eigene Identität zu finden und zu bestimmen.

Genau das hatte die SED den Ostdeutschen verweigert. Und deshalb ist diese Partei auch verantwortlich für die Folgen dieser Diktatur in der Gesellschaft, angefangen bei den geknickten oder gar zerstörten Biographien, über die Deformationserscheinungen bis hin zur Deindustrialisierung Ostdeutschlands 1990. Letztlich ist sie auch für die Spätfolgen mitverantwortlich, wozu die Aber-Milliarden gehören, die der Wiederaufbau Ostdeutschlands bisher gekostet hat. Hier ist man mit dem Begriff der Verantwortung an der richtigen Adresse. In diesem Sinne sind wir alle für die Folgen unseres Handelns verantwortlich.

Wo aber, wie bei Gauck, Verantwortung zum Selbstzweck wird, finden Menschen ihre Befriedigung erst in Leitungspositionen. Und das hat nichts Modernes mehr an sich.

Und das ist bei Gauck nicht der einzige verdrehte Begriff. An anderer Stelle taucht plötzlich die "Bezogenheit" auf.

"Es ist freilich so, dass Verantwortung und Bezogenheit nicht nur von Glaubenden oder anderen Gläubigen gelebt werden können. Für mich ist die religiöse Wertsetzung stark."

Dazu muss man wissen, dass die Bezogenheit durch die Psychologie ihren spezifischen Sinn bekommen hat. Erich Fromm wollte damit erklären, wie Menschen erst in ihrer Bezogenheit auf andere sich selbst erfahren und entwickeln können. Gauck entkleidet nun diese Bezogenheit ihres psychologischen Inhalts und verwendet dieses Wort in trivialer Weise als seine eigene persönliche Bezogenheit auf seinen Glauben. Dabei bleibt er seiner Zunft treu, die nicht selten die Herausforderungen modernen Denkens zu meistern sucht, indem sie, um bei der Bibel zu bleiben, alten Wein in neue Schläuche gießt.

Diese Art zu argumentieren hat in einem Internet-Blog zu dem interessanten Kommentar geführt, dass Gauck Debatten anregt, an denen er selbst nicht mehr beteiligt sein wird.

Zur Gauck’schen Persönlichkeit gehören übrigens auch die Sorgen, die er sich um die bundesdeutsche Demokratie macht, wenn er sie auch geschickt in seinem Appell an den Stolz der Demokraten versteckt hält. Aber auch damit steht er nicht alleine, wenn man beispielsweise an die entsprechenden Sorgen seines hanseatischen Landsmanns Helmut Schmidt denkt. Und natürlich kann die Demokratie keinen Ewigkeitsanspruch haben.

Aber sie ist längst so sehr zum Allgemeingut geworden, dass sie nicht mit Samthandschuhen angefasst werden muss. Joachim Gauck warnt in seiner Schrift zwar vor der "Tradition unserer antikapitalistischen Selbstgeißelung". Doch auch von dem mutmaßlich künftigen Bundespräsidenten werden wir uns nicht daran hindern lassen, unsere offene Gesellschaft weiterhin dort zu kritisieren, wo das nötig ist - und sie damit zu stärken.

Gauck ist ja viel herumgereist in unserem Land, hat viel geredet und dabei viel Ergriffenheit produziert. Diese ist sicher nicht seiner Sprache alleine zu verdanken, sondern auch seiner Persönlichkeit, sowie der Sehnsucht der Menschen nach Werten und ihrer glaubhaften Verkörperung. Gauck scheint die Menschen, die ihm zuhören, zu verzücken.

Wahrscheinlich braucht er das. Das dürfte seine eitle, narzisstische Seite sein. Seine Art zu reden wird ihn nun an die Spitze unseres Staates führen. Keine Frage, besser als sein Vorgänger ist er allemal. Er verkörpert viele gute Seiten, aber vor Überhöhung sollte man ihn schützen.

Besprochen mit Stephan Hilsberg

Joachim Gauck: Freiheit. Ein Plädoyer
Kösel Verlag, 2012
Cover: "Joachim Gauck: Freiheit. Ein Plädoyer"
Cover: "Joachim Gauck: Freiheit. Ein Plädoyer"© Kösel Verlag