Robin Celikates ist Professor für Praktische Philosophie an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Erforschung des zivilen Ungehorsams und forscht zu Fragen gesellschaftlicher Gegenwartsdiagnosen, zur Demokratietheorie und Kritischen Theorie.
Kämpfe am Bosporus – und hier
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Seit zwei Monaten protestieren Studierende der renommierten Istanbuler Boğaziçi-Universität gegen den von Präsident Erdoğan politisch eingesetzten Rektor. Es geht um die Freiheit der Wissenschaft. Ein Fall, der auch uns interessieren sollte.
Während in Deutschland die selbst ernannten Verteidiger der Wissenschaftsfreiheit ideologische Nebelkerzen werfen und vom vermeintlichen Siegeszug von Political Correctness, Cancel Culture und Identitätspolitik fabulieren, ist der Angriff auf die Universität am Bosporus der neueste Eintrag auf einer langen Liste staatlich orchestrierter Attacken gegen kritische Intellektuelle und Akademiker.
Freilich, Autonomie und Wissenschaftsfreiheit waren in der Türkei schon immer prekär und umkämpft, und nach dem gescheiterten Putsch von 2016 sind sie mehr und mehr ins Visier der Regierung geraten. Jetzt drohen ihre letzten Reste – man muss es so hart sagen – "gleichgeschaltet" zu werden. Dabei lässt der Angriff auf die Boğaziçi-Universität zwei Grundzüge der Regierungspolitik besonders hervortreten.
Die Strategie der Umkehrung
Erstens perfektioniert die türkische Regierung die Strategie der Umkehrung: Die politische Übernahme der Uni wird als Kampf gegen übermäßige Politisierung verkauft, friedlich protestierende Studierende und Opfer von Polizeigewalt werden als anti-demokratische Agitatoren diffamiert und als Terroristen verfolgt.
Das steht in einer Linie mit den Vorwürfen der terroristischen Propaganda und der Beleidigung des türkischen Staats, mit denen Oppositionelle in der Türkei regelmäßig überzogen werden. Wie der Philosoph Jason Stanley am Beispiel von Trump gezeigt hat, sind solche Umkehrungen ein Grundmuster faschistischer Propaganda.
Die Gewalt, die im "Wir" liegt
Zweitens zeigt sich in der exzessiven Reaktion des Staates gegen die Studierenden und insbesondere gegen die verletzliche LGBTQ-Community, die in der Ideologie eines homogenen nationalen "Wir" angelegte Gewalt.
Im Namen dieses "Wir" wird der Kampf um Hegemonie so weit verschärft, dass schon die bloße Existenz von Minderheiten und von Stimmen, die Ausdruck real existierender sozialer und kultureller Vielfalt sind, als Bedrohung erscheinen muss. Wer, wie ein Student in einem kursierenden Video, nicht dem Befehl folgt, seinen Blick auf den Boden zu richten und den ihm zugewiesenen Platz einzunehmen, bekommt die harte Hand des Staates zu spüren.
Warum aber sollte es uns hierzulande interessieren, was an den Universitäten "hinten, weit, in der Türkei" geschieht? Erstens bekommen die guten Gründe für grenzüberschreitende Solidarität ein besonderes Gewicht durch die vielfältigen Verflechtungen, die Deutschland und die Türkei verbinden, nicht zuletzt, weil neben der Arbeitsmigration auch viele politisch Verfolgte aus der Türkei Zuflucht in Deutschland gefunden haben.
Zweitens aber sollten wir uns nicht zu sehr in Sicherheit wiegen, denn die beiden eben beschriebenen Logiken finden sich in Ansätzen auch hier. Die hiesigen Verteidiger der Wissenschaftsfreiheit fokussieren gerade nicht auf die realen Einschüchterungstaktiken von Rechts und auf die Versuche, Rassismuskritik als rassistisch zu diffamieren. Oder die Selbstverteidigung gegen antidemokratische Diskurse in eine Einschränkung der demokratischen Freiheit zu verkehren.
Diskursive Verschiebung nach rechts
Dabei zeigen sich auch hier die Abwehrreflexe eines "Wir", das zur kritischen Selbstbefragung und zur Veränderung seines Selbstverständnisses im Lichte real existierender sozialer Diversität nicht willens ist. Wer etwa sexismus- und rassismuskritische Initiativen als primäre Gefährdung der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit identifiziert, reproduziert ein gefährliches Muster.
Man muss nur nach Frankreich blicken, wo die Regierung im Namen der Wissenschaftsfreiheit eine Jagd auf vermeintliche "linksislamistische" Netzwerke an den Unis inszeniert, um zu sehen, wohin diese Logik sehr schnell führen kann, wenn sich die diskursiven und politischen Verhältnisse immer weiter nach rechts verschieben.