Freiheit für Ingrid Betancourt

Von Hans Christoph Buch |
Tickt Südamerika anders als Europa, ist die Gewalt dort historisch oder gar genetisch vorprogrammiert - von den Menschenopfern der Azteken über die Gräueltaten der Konquistadoren bis zu Menschenrechtsverletzungen diktatorischer Regimes?
Wer so argumentiert, vergisst, dass Lateinamerika von Europa geprägt und dass dessen Geschichte kaum weniger gewalttätig ist. Das gilt auch für Kolumbien, das seit Jahren durch Drogengangster und Paramilitärs, Morde und Entführungen von sich reden macht.

Doch der Augenschein täuscht. Kidnapper gab es zu allen Zeiten: Von den Riffpiraten, die ein isländisches Dorf überfielen, um die Einwohner als Sklaven zu verkaufen, bis zur jüngsten Entführungswelle in Afghanistan und Irak, wo Politik und Verbrechen eine unauflösliche Verbindung eingehen. Auch im Jemen oder in Nigeria waren und sind Entführungen ein lukratives Geschäft, aber in Kolumbien wurde ein Massenphänomen daraus, eine regelrechte Kidnapping-Industrie, die Familien zerrüttet und die Grundlagen der Gesellschaft untergraben hat.

Der Name der vor sechs Jahren entführten früheren Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt steht stellvertretend für unvorstellbares Leid, das die Opfer und deren Angehörige durchmachen, ein Wechselbad von Hoffnung und Enttäuschung bei der Suche nach einer humanitären Lösung oder einem politischen Kompromiss - ganz zu schweigen von unerfüllbaren Lösegeldforderungen.

Die Freilassung Ingrid Betancourts, die mehrmals aus der Geiselhaft zu fliehen versuchte, schien im Januar unmittelbar bevorzustehen, aber der jüngste Militärschlag Kolumbiens gegen die Nummer zwei der Farc-Guerilla, Raúl Reyes, der in einem Dschungelcamp hinter der ecuadorianischen Grenze im Schlaf getötet wurde, hat eine friedliche Lösung der Krise in weite Ferne gerückt. Ecuador und Venezuela beriefen ihre Botschafter ab, und Hugo Chávez droht Kolumbien mit Krieg - aggressives Säbelrasseln, mit dem der populistische Staatschef von Schwierigkeiten im eigenen Land abzulenken versucht.

Doch ein Krieg ist unwahrscheinlich, denn Präsident Uribe ist nicht nur mit George Bush, sondern auch mit Raúl Castro befreundet, und Kuba, dessen Wirtschaft von Erdöl aus Venezuela abhängt, hat kein Interesse an der Eskalierung des Konflikts. Trotzdem reagiert Lateinamerika aufgeschreckt, denn Grenzstreit unter Nachbarn gibt es auf dem Kontinent zuhauf, und die Unantastbarkeit des nationalen Territoriums gilt als sakrosanktes Prinzip, dessen Verletzung gefährliche Präzedenzfälle schafft. Und es ist ein offenes Geheimnis, dass die Farc im unzugänglichen Grenzgebiet zu Ecuador und Venezuela operiert und sich durch Überschreiten der Grenze der Verfolgung entzieht.

Wer oder was sind die Bewaffneten Revolutionsstreitkräfte Kolumbiens, deren Ursprung in den Bürgerkrieg der 50er Jahre zurückreicht? Hervorgegangen aus der moskautreuen KP, stieg die Farc nach dem Kollaps der UdSSR in den Drogenhandel ein, vom Anbau bis zur Vermarktung des Kokains. Im Kampf um Dschungellabors und Schmuggelwege konkurriert die Guerilla mit Gangstern und Paramilitärs, aber die Todfeinde gehen Zweckbündnisse ein und tauschen Gefangene aus, deren Verkauf der Farc zur Auffüllung der Kriegskasse und als politisches Druckmittel dient.

Durch ihre Menschenverachtung hat die Guerilla das Volk gegen sich aufgebracht, das, unhängig und überparteilich, zu Hunderttausenden auf die Straße ging, um ein Ende der Gewalt zu fordern. Die selbsternannte Befreiungsfront wurde vom "Fisch im Wasser" zum Krebsgeschwür, und der Tod des Farc-Sprechers Manuel Reyes ruft so wenig Mitgefühl hervor wie der des Drogenbarons Pablo Escobar.

Doch Präsident Uribe schnitt sich ins eigene Fleisch: Sein grenzüberschreitender Militärschlag hat nicht nur Nachbarländer verstimmt, sondern alle Friedensbemühungen durchkreuzt und eine humanitäre Lösung unmöglich gemacht. Die Nacht-und-Nebel-Aktion unterläuft die Vermittlungsversuche von Nicolas Sarkozy, ebenso wie die Spaniens und der Schweiz, und ist Wasser auf die Mühlen von Chávez, der Uribe als Lakaien von Bush diffamiert, so dass als Vermittler nur Castro übrig bleibt.

Hinzu kommt, dass der getötete Manuel Reyes kein militärischer, sondern ein politischer Führer war und die Rebellen bei Friedensgesprächen mit der Regierung in Genf vertrat. Die Rache der Farc, die durch Freilassung prominenter Geiseln guten Willen bekundete, wird nicht auf sich warten lassen und den Verdacht erhärten, dass die Guerilleros keine Befreier, sondern Terroristen sind.

Das Leid der Entführten und ihrer Familien nimmt kein Ende, und vermutlich kommt die kranke Ingrid Betancourt, wenn sie dann noch am Leben ist, als letzte frei - zusammen mit drei entführten Amerikanern, dem wertvollsten Faustpfand der Farc.


Hans Christoph Buch, 1944 in Wetzlar geboren, wuchs in Wiesbaden und Marseille auf und las im Jahr seines Abiturs (1963) bereits vor der Gruppe 47. Mit 22 Jahren veröffentlichte er seine Geschichtensammlung "Unerhörte Begebenheiten". Ende der 60er Jahre verschaffte er sich Gehör als Herausgeber theoretischer Schriften, von Dokumentationen und Anthologien. Auch mit seinen Essays versuchte er, politisches und ästhetisches Engagement miteinander zu versöhnen. Erst 1984 erschien sein lang erwartetes Romandebüt: "Die Hochzeit von Port au Prince". Aus seinen Veröffentlichungen: "In Kafkas Schloss", "Wie Karl May Adolf Hitler traf", "Blut im Schuh", "Tanzende Schatten" und zuletzt "Tod in Habana".