Die Missgunst hat die Bastille erobert
Frankreich hat aufgerüstet und darüber vergessen, dass Misstrauen gegenüber Nachbarn und Mitmenschen das Zusammenleben ruiniert. Der Fremde ist in Paris nicht länger der, der Hilfe braucht, sondern das potentielle Böse.
Die Tür der Metro öffnet sich und vier bis auf die Zähne bewaffnete Uniformierte steigen ein. Maschinenpistole fest im Griff starrt mich der Offizier der Truppe an. Drei Metrostationen dauert es, bis er sich entschliesst, den eiskalten von mir unerschütterlich erwiderten Blick seiner stahlblauen Augen abzuwenden. Für mich war es ein Test: Ich lasse mich nicht einschüchtern: Weder von mordenden Terroristen noch von dieser martialischen Demonstration der Staatsmacht. Ein Gefühl der Beklommenheit und der Ohnmacht gegenüber dieser vom Ausnahmezustand abgesegneten Allmacht des Militärs beschleicht mich. Gott sei Dank habe ich helle Haare, blaue Augen und sehe nicht wie ein Araber aus, denke ich mit einem Anflug von Traurigkeit. Frei – fühle ich mich schon längst nicht mehr in Paris, der Stadt wo sie einst im Namen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Bastille gestürmt haben.
Freiheit als etwas, das als erstes geopfert wird?
Ist die Freiheit damit zum ersten Kollateralschaden der Terrorattacken geworden? Wie leichtfertig gibt die Grande Nation doch dieses hehre Gut preis, verlängert ein um’s andere Mal den Ausnahmezustand, macht sich gläsern für Abhöraktionen und unterwirft sich der Omnipräsenz bewaffneter Polizisten, Gendarmen und Soldaten. Sie prägen längst das Bild des einst als Stadt der Liebe gepriesenen Paris.
Statt Liebe herrscht Misstrauen, nicht offen, nur in verstohlenen Blicken, in der von Aggressivität geprägten Stimmung ist es fühlbar. In die Stadt des Lichtes hat sich der dunkle Schatten des Terrors eingeschlichen. Dahin ist die Leichtigkeit, auch wenn die Terrassen der Restaurants prall gefüllt sind und im Bataclan wieder vor Publikum musiziert wird. Die Begleitmusik des Alltags sind die gebetsmühlenartig vorgetragenen Beteuerungen der Politiker, man befände sich im Krieg gegen den Terror, gegen den Islamischen Staat.
Kein Wunder, wenn solche Worte im Gedächtnis haften bleiben und man den Feind im Alltag unweigerlich in arabisch oder afrikanisch aussehenden Menschen sucht. Dass man mit dieser Rhetorik die Terroristen aufwertet scheint so manch einem Redner zu entgehen. "Die Hassprediger sitzen doch in den Moscheen!"
Körperkontrollen statt Laisser faire
Die Bürde der Religion ist schwer zu tragen in und nach dieser Zeit des Terrors in Paris besonders für Muslime, aber auch für Juden und Christen. Die einen fühlen sich – zu Recht – stigmatisiert, die anderen bedroht. Verständlich, denn der Terror ist gut getarnt. Die potentiellen Terroristen leben mitten unter uns – in Paris, in Frankreich.
Meist sind sie sogar Franzosen, keine weithergereisten, leicht auszumachenden Fremden. Perfide schneiden sie Priestern im Gotteshaus die Kehle durch – trotz elektronischer Fußfessel. Soll man gleich 10.000 vermeintliche Islamisten einlochen? Paris atmet schwer: Die ständig durchgeführten Taschen- und Körperkontrollen in Einkaufszentren, Museen und öffentlichen Gebäuden gehören schon zur Routine. Ich lasse sie verständnisvoll über mich ergehen. Schließlich ist es für meine Sicherheit. Dennoch umhhüllt mich ein Hauch von Trauer: Ich vermisse das Laisser faire, jene unendliche Leichtigkeit, diesen spielerischen Flirt mit einer Stadt, die immer hektisch, aber ein Ort war, wo man das Leben in vollen Zügen genießen konnte.