Freiheit oder Staat

Brauchen wir ein Grundrecht auf Sicherheit?

04:47 Minuten
Polizisten stehen in einem Gang des des Landgerichts Berlin.
Polizisten im Landgericht Berlin beim Prozess gegen einen Clan-Chef: Sicherheit ist kein Grundrecht, sondern Staatsaufgabe, meint Matthias Buth. © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Paul Zinken
Ein Kommentar von Matthias Buth · 12.01.2021
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Wenn Corona-Kritiker notorisch auf ihre Freiheitsrechte pochen, könnten ihre Gegner nicht ebenso berechtigt ein „Grundrecht auf Sicherheit“ einfordern? Der Jurist Matthias Buth gibt darauf eine Antwort und meint: Beide Vorstellungen berühren sich.
Die Pandemie hat zwei gegenläufige Entwicklungen sichtbar gemacht: zum einen sind es die Verschwörungs-Querdenker, Reichsbürger und Pegida-Freunde, die sich in Straßen und Medien gegen den Staat wenden und im Ausleben ihrer Freiheitsrechte eine Diktatur sowie internationale Mächte beklagen, also dem Staat misstrauen.
Zum anderen treten nun publizistisch Leute wie Gerhard Schindler auf, der langjährige Chef des Bundesnachrichtendienstes. Er fordert ein Grundrecht auf Sicherheit und meint damit besonders den individuellen Schutz vor Kriminalität, der im Grundgesetz zu verankern sei.
Schindler sieht die Bundesrepublik durch alle Arten von Kriminalität im Innern und auch von außen gefährdet, der Bürger sei nicht mehr sicher. Und deshalb müsse gehandelt werden.

Schon Schily forderte ein Grundrecht auf Sicherheit

Die Diskussion ist nicht ganz neu und nimmt ein Begriffspaar in den Blick, das Sprengkraft hat, nämlich Freiheit und Staat. Bereits der ehemalige SPD-Bundesinnenminister Otto Schily wollte ein Grundrecht auf Sicherheit schaffen angesichts der Terrorüberfälle auf die Twin Towers am 11. September 2001.
Schily wollte schärfere Sicherheitsgesetze und so staatliche Befugnisse auf Kosten individueller Freiheitsrechte ausweiten. Er stützte sich dabei auf den Staatsrechtler Josef Isensee, der sich schon 1982 für das Grundrecht auf Sicherheit ausgesprochen und es einer von ihm selbst diagnostizierten "liberalen Staatsabwehrdoktrin" entgegensetzt hatte.
Es geht bei der Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit um unser Staatsverständnis. Maßgeblich für Deutschland ist das Grundgesetz. In den Artikeln 1 und 2 ist festgeschrieben, dass der Staat zu schützen hat, was wesensbestimmend für alle im Rechtsstaat ist, nämlich: das Leben und die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Es ist Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die Grundrechte auszuleuchten und zu präzisieren.

Eingriff in die Freiheitsrechte aller

Würde ein eigenständiges Grundrecht auf Sicherheit in die Grundrechte der Verfassung implementiert, wäre der Staat nicht etwa nur politisch gehalten, sondern einklagbar verpflichtet, alle Menschen in Deutschland vor jedweder Beeinträchtigung ihrer Sicherheit zu schützen.
Ernsthaft betrieben würde das in die Freiheitsrechte aller eingreifen und so die Rechtsarchitektur der Verfassung erschüttern. Ein obrigkeitlicher Staat à la Orban wäre die Folge. Dem angeblichen kollektiven Sicherheitsbedürfnis würden individuelle Freiheitsrechte geopfert.
Wer will einen solchen Staat? Bemerkenswert ist: Die Querdenker-Ideologien und politischen Vorstellungen des ehemaligen BND-Chefs Schindler und zuvor schon des Innenministers Schily berühren sich - diejenigen, die den Staat abschaffen wollen und die anderen, die so viel Staat wollen, dass er nicht mehr unsere freiheitliche Demokratie ist.

Sicherheit ist Staatsaufgabe

Beides führt zu einer Denkschule, die jener des NS-Staatstheoretikers Carl Schmitt nicht fern ist, denn dieser wollte den Staat, wo nur die Politik entscheidet.
Beides wollen wir nicht, denn Sicherheit ist kein Grundrecht, sondern Staatsaufgabe. Die Bundesrepublik als freiheitlich demokratischer Rechtsstaat hat nämlich die originäre Aufgabe, ihre Bürger vor Angriffen auf Leib und Leben zu schützen, also für ihre elementare Sicherheit zu sorgen. Der Rechtsstaat ist sowohl Adressat als auch Garant des Freiheitsbegehrens der Bürger.
So bekämpfen alle Innenminister auch die international agierende Clan-Kriminalität und sexualisierte Gewalt gegen Kinder im Netz. Das Grundgesetz ist auch dafür die Basis. Rechtsphilosophische Debatten zu neuen Grundrechten hebeln es aus. Das muss verhindert werden. Wir brauchen kein Grundrecht auf Sicherheit.

Matthias Buth wurde 1951 in Wuppertal geboren. Er ist Lyriker und Publizist und veröffentlichte zuletzt die Bücher "Die weiße Pest", Gedichte in Zeiten der Corona" (PalmArtPress, Berlin 2020) und "Der Schnee stellt seine Leiter an die Ringmauer / Poetische Annäherungen an Rumänien und andere Welten" Pop Verlag, Ludwigsburg 2020. Der promovierte Jurist war bis Ende 2016 Justiziar im Kanzleramt bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) und ist nunmehr Rechtsanwalt.

© Quelle: privat
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