Freiheit, sich selbst neu zu erfinden

Von Kerstin Zilm |
Mehr als 60 Kunstinstitutionen in Los Angeles - Museen, Galerien, Universitäten, Stiftungen - feiern mit fast 200 Ausstellungen und einer Performance-Woche die Geburtsstunde der dortigen Kunstszene. Mit dem Projekt will sich L.A. als Kunstmetropole der Zukunft etablieren.
Vielseitig. Tiefgehend. Bahnbrechend. Experimentell. Politisch. Humorvoll. Das alles ist Kunst, die in der Nachkriegszeit in Los Angeles entstand. Dank mehr als zehn Millionen Dollar aus dem Getty Research Institute für Archivforschung, Künstlerinterviews, Recherche und Rekonstruktionkann das nun auch die ganze Welt erfahren. Bewohner von Los Angeles werden dabei genauso überraschende Entdeckungen machen wie Besucher der Metropole am Pazifik, prophezeit Institutsdirektor Thomas Gaehtgens:

"Immer wieder haben die Kalifornier so etwas darunter gelitten zu denken, also New Yorker - und vor allem die New Yorker haben gedacht - bei uns spielt die Musik und in Kalifornien ist nicht so viel los. Das ist ungerecht. Es ist die Geschichte und die Bedeutung der kalifornischen Kunst und die Originalität der kalifornischen Kunst unterschätzt. Übrigens in Deutschland ist sie relativ bekannt."

Ed Rucha, David Hockney und Herb Ritts sind auch in den USA weithin bekannte Namen. Künstler wie John Baldessari, Ed Kienholz, Judy Chicago und Fred Hammersley sind dagegen außerhalb der US-Kulturszene hier kaum bekannt. "Pacific Standard Time" gibt ihnen Platz und mehr als 1000 national wie international wenig bekannten Künstlern. Das Projekt vermittelt ein umfassendes Bild von Aufbruchstimmung, politischer Spannung und Experimentierfreude der entstehenden Kunstszene von Los Angeles. Die war geprägt von Dadaismus, Surrealismus, deutschem Expressionismus, von Wagemut, einfachem Leben im Sonnenschein und Optimismus, erinnert sich Judy Chicago, die mit Performance-Kunst und Installationen Kunst- und Geschlechtergrenzen überwand:

"Künstler hatten den Raum, darüber nachdenken, Kunst zu schaffen, nicht zu verkaufen. Wir alle wollten ernst genommen werden. Es gab außerdem die Freiheit, sich selbst neu erfinden. Das ermöglichte mir eine Kunstform zu finden, in der ich als Künstlerin ich selbst sein konnte. Und das war unersetzlich."

Befreit vom Schatten europäischer Kunst und der Kunstszene in New York entwickelte Los Angeles eigene Kunstformen, inspiriert von Licht, Freiheit, neuen Materialien der Luft- und Raumfahrtindustrie, von Feminismus, Rassenunruhen und Vietnamkrieg. Assemblage-Kunst hat an der Westküste ihre Vorreiter. Afro-Amerikanische Künstler setzten Erfahrungen der Watts-Aufstände in ihre Werke um und im Ostteil der Stadt entwickelte sich die Chicano-Kunst der Latinos. Dabei konnte man lange nicht von einer wirklichen L.A.-Kunstszene sprechen, erklärt Getty-Research-Direktor Thomas Gaehtgens:

"Zu einer Kunstszene gehören ganz viele Faktoren: die Künstler, die Galeristen, die Consumer, also Sammler und Institutionen, die Kunst lehren. Das war alles nicht da. Die Künstler waren erstmal alles in einem. Das ist ein wirklicher Aufbruch gewesen, der innerhalb von 50 Jahren zu einer etablierten Kunstszene geführt hat."

Vieles von dieser Geschichte drohte verloren zu gehen. Nach wie vor sind Los Angeles und seine Bewohner deutlich besser darin, sich neu zu erfinden, als Traditionen zu pflegen oder sich auf Vergangenheit zu besinnen. Das Getty Research Institute beschloss vor mehr als zehn Jahren, dem entgegenzuwirken und begann gezielt, Künstlerarchive aufzukaufen und zu katalogisieren sowie Künstler zu interviewen und forderte Museen auf, ihre Archive nach Kunstwerken und Dokumenten aus der Zeit zwischen 1945 und 1980 zu durchforsten. Sie fanden Gemälde, Performance-Videos, Keramik, Schmuck, Fotos, Möbel, Surfboards und so viele andere Objekte, dass daraus das ganz Süd-Kalifornien umfassende Projekt entstand.

Eine wichtige Rolle spielt in vielen Ausstellungen der besondere "L.A.-Look", der das Image Kalifornien weltweit prägte. Pacific Standard Time präsentiert das unter anderem in seiner LACMA-Designshow "Living in a Modern Way, 1930 - 1965". Co-Kuratorin Bobbye Tigerman hat das Titelbild einer Zeitschrift von 1951 mit Objekten der Zeit rekonstruiert:

"Das zeigte Eames-Stühle, Keramik von Harrison McIntosh, Möbel von Van Keppel-Green. All das wurde zuerst auf der L.A. - Messe präsentiert und reiste dann mit einer vom US-Außenministerium finanzierten Ausstellung nach Deutschland um während des Kalten Krieges für diesen erstrebenswerten Lebensstil zu werben."

In diesem Look war kein Platz beispielsweise für das verstörende "Five Car Stud", das Ed Kienholz von 1969 bis 1972 in Los Angeles schuf, dort aber bisher nie gezeigt wurde. Das Tableau stellt in einer von Autoscheinwerfern angestrahlten Szene den gewalttätigen Überfall maskierter Männer auf einen Schwarzen dar und wurde erstmals 1972 auf der Dokumenta gezeigt.
Auch in Deutschland weniger bekannt ist dagegen die politische Kunst der Latino-Künstlergruppe ASCO - spanisch für "Abscheu" oder "Ekel" - , die in ihren Werken Kunst mit Guerilla-Taktiken und Aktivismus mischte. Ihr Markenzeichen war die No-Movies-Bewegung - Filme ohne den Gebrauch von Zelluloid. ASCO-Mitbegründer Gronk:

"Wir wussten irgendwie, dass wir nicht in Filmen sein würden, so wie Hollywood damals funktionierte. Wir wollten vergängliche Kunst schaffen und dafür niemanden um Erlaubnis bitten. Also gingen wir zum Beispiel auf die Straße, stellten eine von uns gegen die Wand, klebten sie mit Kreppband fest, fotografierten sie und nannten es ein Instant-Wandgemälde."

"Pacific Standard Time" bietet tatsächlich für jeden etwas zum Entdecken. Die bedeutendsten Strömungen kalifornischer Kunst der Nachkriegszeit werden in den großen Museen wie Getty, LACMA und MOCA gezeigt. Wer die wirkliche Vielfalt der über 1300 ausgestellten Künstler erfassen will, muss sich allerdings mindestens eine Woche Zeit nehmen, ins Auto steigen und über die Freeways nach San Diego und Santa Barbara fahren, nach Santa Monica und Palm Springs. Wer das tut, wird selbst Teil des Kunstwerks Kalifornien und begibt sich in diesem Fall auf eine Reise, die sich lohnt.

Informationen des Getty Research Institute zu "Pacific Standard Time"