Leben ohne Schule
Rund 1000 Kinder in Deutschland sind "Freilerner". Sie lernen in Projekten statt in Fächern: was, wann und wie lange, bestimmen sie selbst. Das verstößt allerdings gegen das Gesetz.
"Mama, Möhren und Lauch sollen doch in das eine Sieb zusammen, nä?"
Jara Rempf hat Besuch von ihrer Freundin Liv aus Schweden. Die 17-jährigen Mädchen sitzen am Küchentisch und schneiden Gemüse, bereiten das Essen vor. Vor ein paar Jahren hat auch Jara mit ihrer Familie eine Zeitlang in Schweden gelebt.
Schwedisch lernt die damals Zehnjährige ganz nebenbei von ihrer Freundin Liv. Wie gut ihre Tochter spricht, fällt Mutter Jessica nach ein paar Monaten bei einem Schwimmbad-Besuch auf:
"Weil sie hat nämlich mit ihren Freundinnen schwedisch gesprochen, und als sie mich getroffen hat, mit mir natürlich deutsch, und das hatte die Bademeisterin beobachtet und da wurde Jara gefragt: Warum kannst du denn so gut Deutsch?" (lacht)
Jessika Rempf ist Anfang 40, mit feinen Gesichtszügen, schulterlangen blonden Haaren. Sie steht daneben, schaut den Mädchen beim Schnibbeln zu, und wirft in den Topf, was die ihr rüberreichen. Auch Jaras vier Jahre ältere Schwester Chalina sitzt mit in der Küche. Sie lernt die Sprache anders. Chalina arbeitet ein paar Sprach-Lern-CDs durch, verliert aber schnell die Lust daran:
"Ich hab's teilweise so gemacht, dass ich über den Tag verteilt die Vokabeln aufgeschrieben hatte in ein kleines Büchlein, das ich immer dabei hatte, und bin dann abends zu Livs Mutter gegangen, die ist eben halb Deutsche, und hab dann eben auch teilweise Vokabeln gelernt. Das hab ich dann aber nur zwei Wochen gemacht, dann wurde mir das auch zu doof. Und dann hab ich immer direkt gleich gefragt. So hat man das dann gelernt."
Eine Schneiderlehre, auch ohne Schulabschluss
Als sich 2010 in Schweden die Gesetze verschärfen, auch dort eine strenge Schulpflicht vorgeschrieben wird, zieht die Familie zurück nach Deutschland, ins niedersächsische Wendland. Hier leben die Rempfs heute noch – am Rande eines 500-Seelen-Dorfes, im Untergeschoss eines roten Backsteinhauses, drei Zimmer, Küche, Bad. Aus dem Küchenfenster geht der Blick auf den Hof, Wäsche hängt auf der Leine – dahinter ein kleiner Garten, dann Äcker, Wiesen, der Wald.
Jaras große Schwester Chalina ist mittlerweile 21 und gerade fürs Wochenende aus Hannover gekommen. Dort macht sie eine Schneiderlehre, auch ohne Schulabschluss. Schlank, mit strahlend blauen Augen und blondem Pferdeschwanz sitzt sie am Küchentisch und trinkt einen Tee. Ihretwegen haben sich die Eltern damals entschieden, ihre beiden Töchter nicht mehr zur Schule zu schicken.
Chalina: "Ich konnte mich nicht auf den Stoff konzentrieren, das merke ich auch jetzt wieder in der Berufsschule, dass es mir echt schwer fällt und ich echt fertig bin nach der Schule und überhaupt keine Lust mehr hab auf irgendwelche sozialen Kontakte."
Chalina ist 12, als sie die Schule verlässt. Mit der Art des Lernens hatte sie eigentlich gar kein Problem, erzählt sie. Die Familie lebt damals noch in Hamburg, Chalina besucht eine fortschrittliche Reformschule und ist sogar stolz darauf. Auch mit den Lehrern kommt sie gut aus. Es ist die Atmosphäre, die Unruhe und die ständigen Konflikte der anderen untereinander, die Chalina zunehmend belasten. Ihre Mutter erinnert sich noch gut:
"Wir haben das dann immer besprochen, sie hat sich ausgeweint, teilweise haben wir dann Rollenspiele gemacht, damit sie gucken konnte, wie sie am nächsten Tag anders reagieren kann oder wie sie auch einen Schüler in Schutz nehmen kann, ohne sich mit der Lehrerin anzulegen. Und ich war innerlich selbst schon so: Ja, ist das jetzt die Lebenszeit mit meinem Kind? Dass ich am Nachmittag die Schulthemen aufarbeite?"
Als Jessika Rempf eines Tages versucht, ihre Tochter wieder einmal zu besänftigen, bricht es plötzlich aus Chalina heraus.
Jessika: (wird laut) "'Ja ich weiß das, ich weiß das, aber scheiße, ich kann das nicht mehr, ich kann nicht das alles so miterleben und dann selber nicht aggressiv werden. Ich schaff das nicht mehr, ich will nicht mehr.' Ja – die hat richtig mit voller Kraft das rausgebrüllt. Und das war für mich dann wirklich der innere Moment, wo ich gesagt hab, ich muss jetzt einen Weg rausfinden."
Es wird kurz still am Tisch. Auch Chalina hört das erste Mal, welcher Moment für ihre Mutter zum Schlüsselerlebnis wird. Für die Familie ein Wendepunkt, der mitten in eine Zeit großer Veränderungen bei den Rempfs fällt. Vater Gunnar kündigt seinen Job als Zimmermann. Und seine Frau, die eigentlich Lehrerin werden will, bricht nach neun Semestern ihr Lehramtsstudium ab. Die Eltern nehmen ihre Kinder aus der Schule und verlassen Hamburg.
Im Fahrwasser ihrer großen Schwester verlässt auch Jara die Schule als Achtjährige. Sie hat zwar nicht dieselben Probleme wie Chalina, fühlt sich dort aber auch nicht wohl. Im Unterricht gegängelt, wenn Lehrer nur einen Lösungsweg zulassen, wo Jara auch andere findet. Die Pausen verbringt sie oft allein.
Die Familie zieht zunächst aufs Land, es folgen Aufenthalte in Frankreich und Schweden, bis sie nach vier Jahren Wanderschaft wieder zurück ins Wendland kommen. Dort trennen sich die Eltern, doch Vater Gunnar wohnt nur ein paar Häuser weiter.
Das Lehrbuch hat keine Chance
Rund eintausend Kinder gibt es in Deutschland, die nicht zur Schule gehen – ohne Schule lernen, sogenannte Freilerner. Frei zu lernen, das bedeutet für sie, in Projekten zu lernen statt in Fächern. Was, wann und wie lange – das bestimmen die Kinder selbst. Ein Baumhaus bauen, einen Garten anlegen, ein Theaterstück einüben. Dabei würden sie sich viele Fähigkeiten nebenbei aneignen, erklärt Jessika Rempf, vor allem Grundfertigkeiten wie Lesen, Schreiben, Rechnen. Als angehende Grund- und Mittelstufenlehrerin will sie sich anfangs allerdings auch mal mit einem Lehrbuch mit den Kindern hinsetzen. Doch damit kann sie bei denen gar nicht landen.
Chalina: "Da hab ich auch immer sofort zugemacht, wenn Mama ankam und meinte: 'Komm Chalina, jetzt mal bisschen Mathe machen.' Das ging gar nicht. Da bin ich sofort weg gegangen, also es ging gar nicht."
Dem Theorie- und Fächerlernen verweigern sich die Mädchen. Homeschooling – Schule zuhause – ist mit ihnen nicht zu machen. Sie beschäftigen sich nur mit dem, was sie wirklich interessiert, fragen kurz nach, wenn sie nicht weiter kommen. Chalina macht vor allem Musik, spielt Geige und Gitarre und beschäftigt sich mit Stricken, Filzen und Nähen. Jaras große Leidenschaft sind Pferde. Morgens versorgt sie die Tiere, nachmittags trainiert sie mit ihnen.
Vor dem Essen ist noch etwas Zeit, mit der Stute Lola an Jaras Lieblingsthema zu arbeiten: der Tier-Mensch-Kommunikation – eine Verständigung, die hauptsächlich über Körpersprache funktioniert. Als Freilernerin will Jara auch mit ihren Pferden möglichst frei arbeiten:
"Freiarbeit basiert darauf, dass ich denen zeige: Ich bin hier, ich lauf jetzt hier rum und ich hab Lust, was mit euch zu machen, ich lade sie dann ein, mit mir eine Bewegung zu machen, oder einfach nur zu mir zu kommen. Und wenn sie dann bei mir sind, kann ich eben auch das Halfter anziehen oder auch nicht, und dann mit dem Halfter durch Signalgebung noch einige Aufgaben mit denen üben."
Alles, was Jara schon kann, hat sie mit den Tieren selbst erarbeitet, in Kursen gelernt, oder sich angelesen. Statt Kinderbüchern liest sie von klein auf Pferdefachliteratur, erzählt sie.
Das Fehlen in der Schule blieb mehrere Jahre unerkannt
Die Kommunikation mit der Stute wirkt schon sehr fein abgestimmt – sie reagiert auf Bewegungen, Geräusche, Berührungen – wenn auch noch nicht immer so, wie Jara sich das wünscht. Ein paar Mal steigt Lola.
Jara: "Das ist ihre Reaktion halt auf den Druck. Viele Pferde beißen dann oder buckeln, zum Beispiel beim Reiten, aber sie steigt immer. Es sieht dann immer erst krass aus, und ich hab's ihr dann ja auch absolut verboten, weil es einfach echt gefährlich sein kann, wenn der Huf mich jetzt trifft. Aber ich seh dann halt auch, o.k. – die hat das wirklich nicht gecheckt, so. Und da muss ich jetzt erst mal noch in meinem Buch nachschlagen, gucken, was für Zeichen kann ich ihr noch geben, um ihr zu signalisieren: Ich würde gerne, dass du seitwärts gehst."
Die meisten Freilerner eignen sich neues Wissen erst an, wenn sie es wirklich brauchen – so wie Jara jetzt. Das hat den Vorteil, dass man es auch tatsächlich behält. Dem schulischen Anspruch nach Allgemeinbildung entgegen sie mit dem Einwand: Das meiste würde man eh wieder vergessen. Sehr vorausschauend ist diese Art des Lernens nicht. Tatsächlich hat Jara aber bereits konkrete Zukunftspläne. Auf dem Heimweg erzählt sie davon, wie sie später leben möchte. Sie sieht sich auf einem Bauernhof und möchte ihr Wissen weiter geben:
"Wie funktioniert das wirklich, Mensch-Tier-Kommunikation. Ich würde schon gerne unterrichten und Kurse geben und klar – dafür muss ich mich erst mal selber weiter bilden."
Das tut sie auch jeden Tag – nur nicht in einer Schule. Ein paar Jahre bleibt ihr Fehlen unbemerkt, vor einigen Monaten aber wird eine Behörde aufmerksam, als die Familie umzieht und keine Schulbescheinigung vorlegen kann. Ein Bußgeld wird verhängt, Jessika Rempf schaltet einen Anwalt ein – wie es jetzt weiter geht, ist noch offen, sagt sie, bevor sich die Familie zum Essen setzt.
Theorie ist doch Zeitverschwendung
Bußgelder drohen Jaras großer Schwester Chalina nicht mehr. Beim Essen erzählt sie von ihrem neuen Leben in Hannover und wie es ihr in der Berufsschule ergeht. Die Praxis macht ihr richtig viel Spaß, doch sie hasst das Fremdbestimmt-Sein durch Lehrer und Stundenplan, empfindet die Theorie oft als Zeitverschwendung. Etwa wenn die Klasse zwei Stunden lang einen Text über Sicherheit an Bügeltischen lesen muss, wenn man das doch deutlich schneller direkt am Tisch erklären könnte, stöhnt Chalina. Sie will aber durchhalten. Und nicht wieder, sobald es schwieriger wird, etwas Neues anfangen, was sie interessiert:
"Und dann kam das nächste dran, und dann das nächste und dann das nächste und das ist halt auch so schön bei Jara und mir, weil da sind wir einfach so unterschiedlich. Jara hat mit sieben gesagt, sie will ein Pferd haben und hat seitdem angefangen zu sparen, hat sich nie wieder Schokolade gekauft, weil sie alles für ihr Pferd gespart hat. Und hat sich mit 12 ihr erstes Pferd gekauft, so, krass. Das ist meine kleine Schwester, das könnte ich gar nicht."
Von Jaras Durchhaltevermögen will sie sich eine Scheibe abschneiden. Und der Ausbildungsrahmen hilft ihr dabei.
Später am Abend machen die Mädchen noch ein Lagerfeuer im Garten, essen verkohltes Stockbrot und erinnern sich an ihre Zeit in Schweden. Dort ist manchmal die Schulleiterin zur Familie ins Haus gekommen, um zu gucken, wie es den Kindern geht oder was sie den ganzen Tag machen. In Deutschland leider undenkbar, beklagt Jessika.
Für Chalina, Jara und ihre Eltern ist das Leben auf dem Land genau das Richtige. Man kennt sich, akzeptiert sich so, wie man ist. Die Idylle hat aber auch ihre Kehrseiten. Die Entfernungen sind größer, die Bandbreite an Lernangeboten und sozialen Kontakten kleiner, und manchmal ist es ganz schön einsam hier. Für die Eltern bedeutet das mehr Fahrerei, mehr Initiative. Freilerner in der Stadt haben es da etwas einfacher.
"Du kannst mich nicht zwingen, Mama"
Seit drei Jahren gibt es in Leipzig eine Gruppe von Freilernern. Sie haben sich über facebook kennengelernt und nutzen das Netzwerk auch, um sich zu organisieren: Sie besuchen gemeinsam Veranstaltungen, gehen ins Museum, zum Lehmbaukurs oder auf den Spielplatz.
Auch Eltern, deren Kinder noch gar nicht schulpflichtig sind, schließen sich der Gruppe an. Sie möchten vorbereitet sein, wenn es soweit ist. Dabei können sie von den Erfahrungen anderer Gruppenmitglieder profitieren, wie etwa von Heike. Die 35-jährige hat Maschinenbau und BWL studiert hat, ihr Mann arbeitet bei BMW. Das Paar hat vier Kinder, zwei davon sind im schulpflichtigen Alter.
Heike: "Unsere große Tochter, die hat nach der dritten Klasse gesagt, sie wolle die vierte Klasse noch weiter machen und dann würde es aber... länger geht nicht. Und in derselben Zeit ging aber auch unser Sohn dann schon in die Schule und er hat aktiv verweigert. Er ist derjenige, der dann gesagt hat: 'Mama, du kannst mich nicht zwingen.' Er war sehr, sehr viel zuhause, weil wir ihn im Prinzip nicht in die Schule bringen konnten, er hat dann es nicht geschafft, über die Schulschwelle zu gehen. Er sagt: 'Ich geh da nicht rein.'"
Immer wieder versuchen sie, ihre Kinder zur Schule zu bewegen, sind erleichtert, wenn sie es geschafft haben, wenn nicht, müssen sie ständig neue Ausreden erfinden. Für die Eltern ein kräftezehrende Prozess, auf Dauer eine unhaltbare Situation. Nach zwei Jahren beschließen Heike und ihr Mann, ihre Kinder nicht mehr zu zwingen. Wie Heike es sieht, darf sie das auch gar nicht. Weil die Kinder dem Gesetz nach ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben. Und der Zwang zum Schulbesuch das Kindeswohl eben nicht immer sichert, sondern manchmal eben auch gefährden kann.
Heike: "Es kann nicht sein, dass wir alles hinnehmen, nur weil es irgendwo geschrieben steht. Da fallen so viele junge Menschen hinten runter, das kann man sich gar nicht vorstellen. Wir sind ja vielleicht nur die Spitze des Eisbergs, was da alles noch so im Untergrund läuft, wie viel Kinder im Prinzip mit Medikamenten zugeschüttet werden, damit sie halt noch funktionieren. Und das haben wir gesagt, das wollen wir nicht, wir haben nie mit Krankheit argumentiert, wir haben gesagt: mit Gesundheit! Das, was unsere Kinder hier zeigen, zu sagen 'Nein!', das ist eine gesunde Reaktion!"
... selbst wenn die erst zehn und zwölf Jahre alt sind. Denn es entspricht dem Menschenbild von Freilernern, auch Kindern schon ein Selbstbestimmungsrecht zuzugestehen.
Den Familien wird es auf dem Spielplatz zu kalt, sie ziehen um in den "Rockzipfel" – ein Eltern-Kind-Büro, eigentlich eine ganze Wohnung.
Die Gruppenmitglieder unterstützen sich auch bei der Auseinandersetzung mit den Behörden. Denn auf die Familien kann einiges zukommen – die Androhungen reichen bis hin zum Sorgerechtsentzug. Bei Heike und ihrem Mann kommt es fast dazu. Sie stellen zunächst einen Antrag auf Ausnahme von der Schulpflicht, ein paar Monate lang geschieht nichts. Dann folgen Bußgeldverfahren, die erste Familiengerichtsverhandlung. Den Eltern wird ins Sorgerecht eingegriffen, das Aufenthaltsbestimmungsrecht für beide Kinder wird auf das Jugendamt übertragen.
Heike: "Die Amtspflegerin vom Jugendamt bestimmt dann über den Hauptwohnsitz. Das heißt, es sind die Grundlagen gelegt, dass die Kinder dann halt ins Heim kommen, Fremdplatzierung, dass man sie uns ganz entzieht."
Unsere Kinder sind top in Ordnung
Die Eltern legen Revision ein, die Sache geht vor das Oberlandesgericht in Dresden. Im Zuge der zweiten Verhandlung wird ein psychologisches Gutachten in Auftrag gegeben. Das soll vor allem klären, ob die Kinder leistungsfähig sind, mit beschulten Gleichaltrigen mithalten können.
Heike: "Und aufgrund dieses Gutachtens, was bescheinigt, dass unsere Kinder top in Ordnung sind, hat der Senat sich dazu entschieden, halt uns das volle Sorgerecht zurück zu geben. Wir haben hier auf alle Fälle ein Urteil, was sagt: Hier liegt keine Kindswohlgefährdung vor. Es ist unverhältnismäßig, den Eltern hier in die Sorge einzugreifen, wenn doch alles stimmig ist. Bloß die gehen nicht in die Schule (lacht). Das hat dem Senat auch nicht gefallen, die haben nicht gesagt, hier juhu – aber sie haben gesagt, das ist unverhältnismäßig."
Wie es jetzt weiter geht, ist nicht ganz klar. Vor einem halben Jahr ist die Familie von Zwickau nach Leipzig gezogen, Heike hat die Kinder auf einer neuen Schule angemeldet, hingehen werden sie aber nicht.
"Schulpflicht heißt: Anmeldung der Kinder, und Schulpflicht heißt: Die Kinder in die Schule zu bringen. Der Anmeldung kann ich nachkommen. Aber meine Kinder in die Schule zu befördern, wenn die ausdrücklich sagen: 'Nein, ich will nicht, Schule nein danke', das ist schwierig. Ich respektiere die Würde meiner Kinder, ich setze auf ihre Kompetenz, dass sie halt auch solche Entscheidungen treffen können, und da stoße ich dann auf enormen Widerstand jetzt von 'ner Direktorin, die das nicht nachvollziehen kann. Wie es denn sein kann, dass Eltern so agieren."
Laut Grundgesetz ist die Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern. Allerdings heißt es dort auch, das gesamte Schulwesen stehe unter der Aufsicht des Staates. Daraus leiten die Gerichte einen staatlichen Erziehungsauftrag ab, und um diesem nachzukommen, müssten die Kinder dem Staat auch zugeführt werden.
Rechtsanwalt Dr. Andreas Vogt, der viele Freilerner vor Gericht vertritt, sieht das allerdings kritisch. Seinem Rechtsverständnis nach hat der Staat weniger einen Erziehungsauftrag als vielmehr ein Wächteramt. Er solle erst dann eingreifen, wenn Eltern bei Erziehung und Bildung versagen. Und schließlich könne ja auch das Freilernen durch den Staat kontrolliert werden – so wie in den meisten anderen europäischen Ländern. Die derzeitige Rechtslage jedenfalls führt für viele Freilerner-Familien in Deutschland zu Konflikten und Belastungen, die sie auf eine harte Probe stellen.
Die Rempfs sind deshalb froh, dass sie es bald hinter sich haben. Jara wird demnächst 18, in den meisten Bundesländern endet damit die Schulpflicht.
Viele Freilerner-Familien haben wenig Geld
Jessika Rempf und Jara haben sich im Garten auf dem Rasen niedergelassen. Seit ihre Freundin Liv aus Schweden zu Besuch da war, sind sechs Monate vergangen. Vor sich haben Mutter und Tochter sieben rechteckige Plastikschalen mit Erde. In die säen sie verschiedene Samen für eine Voranzucht ein.
Jessika Rempf: "Ich fang jetzt an mit Salaten, weil wir essen ja viel Salat, im Sommer ist das oft eine volle Mahlzeit bei uns dann – entweder morgens oder abends."
Die Familie isst viel Gemüse, das sie zum großen Teil selbst anbaut. Das macht Spaß, hilft aber auch dabei, Geld zu sparen – Jessika und Jara leben derzeit von Hartz IV. Viele Freilerner-Familien führen ein eher bescheidenes Leben. Denn dass beide Elternteile voll arbeiten gehen, ist bei diesem Lebensmodell kaum denkbar – die Kinder sind oft zu Hause und brauchen bei Fragen auch einen Ansprechpartner.
Jessika hat nach Abbruch ihres Studiums eine alternative Schule im Wendland mit aufgebaut, ist aber vor einer Weile ausgestiegen – und orientiert sich mit Anfang 40 noch einmal neu.
Das muss vielleicht auch Jara. Ihr Traum von einem Ponyhof, auf dem sie Kurse gibt, droht zu platzen. Fest vereinbarte Termine für Reitstunden, glaubt sie, lassen sich mit dem Konzept der Frei-Arbeit nicht vereinbaren. Dass die Tieren auf Kommando mitmachen sollen, würde sie zu sehr unter Druck setzen. Für Jara ist diese Erkenntnis zuerst ein Schock:
"Dass es wahrscheinlich nicht mein Beruf sein wird, das war schon ganz schön heftig für mich. Ich dachte, so jetzt geht die Welt unter und ohne Pferde bin ich nichts wert, weil ich immer diesen Traum von Pferden hatte, und es ist auch krass, wenn Leute über mich reden, ich bin immer Jara mit den Pferden."
Mittlerweile hat sie sich gefangen, sucht nach Alternativen. Vielleicht kann sie Kurse anbieten, bei denen die Teilnehmer ihre eigenen Pferde mitbringen, einen Teil ihres Einkommens könnte sie auch durch Huf-Pflege verdienen. Vorerst aber steht ein anderes Projekt an.
Vater: "Hast du dir denn zwischendurch noch mal Gedanken gemacht, was für Farbe und was fürn Holz."
Zusammen mit ihrem Vater Gunnar will Jara einen kleinen Pferde-Anhänger aufarbeiten. Den hat sie von einer Freundin geschenkt bekommen, doch momentan steht nur ein tannengrünes Metallgestell im Schuppen. Jetzt misst sie mit Gunnar alles durch, plant die Aufbauten.
Jaras Vater ist Zimmermann und Bauingenieur, wohnt gleich nebenan. Sein Haus baut er gerade komplett neu aus, dabei gehen ihm auch seine Töchter zur Hand – und lernen nebenbei ständig Neues dazu.
Jara: "Soll ich milimeter-genau messen? / Vater: Im Holzbau misst man schon auf einen halben Zentimeter zumindest genau, Metallbau misst man milimetergenau..."
Auch Jaras Opa wohnt im Dorf, in seinem Schuppen steht der Anhänger. Nachdem Gunnar und Jara die Maße genommen haben, schauen sie noch auf einen Kaffee bei ihm rein und treffen in der Küche auf den Rest der Familie.
"Die werden gut ankommen im Leben"
Jaras Opa ist der Vater von Jessika. Mit seiner Familie hat er schon immer viel Zeit verbracht, seit eineinhalb Jahren wohnt er mit im Dorf. Wenn er seine Enkelkinder sieht, erinnert er sich manchmal an seine eigene Schulzeit. Damals gehören Prügelstrafe und in der Ecke stehen noch zum Schulalltag. Später studiert er Psychologie, in den 60er-Jahren ist er Mitbegründer einer der ersten freien Kindergärten. In gewisser Weise sieht er sich als Wegbereiter für die Entwicklung seiner Enkelkinder; um ihre Zukunft sorgt er sich nicht:
"Ich hab ja immer auch Kontakt zu meinen Enkelkindern gehabt und ich habe immer gesehen: die sind o.k. (Stimme bricht) Und ich hab immer das Gefühl gehabt, die werden gut ankommen im Leben und ich hab nicht vermisst, dass sie irgendwie sozial oder auch von ihrem Wissen oder auch von dem, wie sie in der Welt sind, dass sie irgendwie das nicht schaffen könnten, erwachsene Menschen zu werden. (weint) Ich weiß gar nicht, warum ich jetzt traurig werde... Vielleicht ist das mein eigener Schmerz. Ja, dass ich solche Kindheit nicht gehabt hab, wo mich Menschen so begleitet haben, oder mir auch was zugetraut haben. Die werden irgendwas finden, selbst wenn sie jetzt zeitnah Mathematik oder bestimmte Dinge nicht können, das war irgendwie... dass Jara in jungen Jahren eine Disziplin aufgebracht hat, ihre Pferde, morgens im Winter, ist die früh aufgestanden und da das Wasser hingeschleppt, im Schnee und das Heu, und das tagelang, wochenlang, monatelang. Das muss man sich einfach mal vorstellen, was sie da für ne Verantwortung, für 'ne Liebe, für ihre Sache! Da hab ich gesagt: Da muss was draus werden."
In der Küche ist es still geworden, auch anderswo am Küchentisch sind ein paar Tränen gekullert. Ein wenig Kritik am Freilerner-Modell hat Opa Thomas dann aber doch noch:
"Das ist dann einfach der vernünftige Erwachsene, der sagt, also da könnte man noch ein bisschen Struktur reinbringen, oder da könnte man sich auch mal entscheiden, mal etwas einzufordern, auch Termine zu setzen, oder ein Projekt zumindest zu planen – sicher. Aber grundsätzlich nicht. Es sind Details."
"Nö, ich will auf ne normale Schule"
Die Familie zieht ein paar Häuser weiter die Straße runter. Das Mittagessen wird heute bei Gunnar zubereitet. Von außen wirkt das Häuschen mit seiner schmutzig-weißen Verkleidung fast schäbig, im Inneren aber herrscht eine wohlige Atmosphäre; alle Wände sind mit Lehm verputzt. Gunnar hat mit seiner neuen Lebensgefährtin ein gemeinsames Kleinkind, sie noch einen elfjährigen Sohn aus einer anderen Beziehung. Moritz ist kein Freilerner, war auf einer Waldorfschule, doch auch das war nicht sein Ding, erzählt Gunnar. Er wollte auf ein normales Gymnasium:
"Er hat irgendwann gesagt – Nö, ich will auf ne normale Schule, ich möchte Tests schreiben, ich möchte auf ganz normalem Papier schreiben, mit ganz normalen Stiften (Gelächter im Hintergrund), das ist für mich wichtig, so, und das hat er dann auch gekriegt, weil das ist ja letztlich das, womit er klar kommen muss."
Dass Freilernen in Deutschland immer noch verboten ist – für Gunnar ein Armutszeugnis. Tatsächlich ist es fast im gesamten europäischen Ausland legal, der Anteil der Freilerner liegt dort allerdings meist bei unter einem Prozent – eine verschwindend kleine Minderheit.
Schule ist am Ende eben auch ein toller Service, meint Jessika. Freilernen dagegen bedeute viel Eigeninitiative. Ständig müssen Lernangebote organisiert und auch noch bezahlt werden. In Deutschland kostet jedes Schulkind den Staat monatlich rund 500 Euro. Das hätte er für seine Kinder auch gern gehabt, meint Gunnar. Unterm Strich glaubt er, dass Deutschland mit seiner strengen Schulpflicht eine Chance verpasst:
"Aus Amerika weiß ich, dass die Universitäten mittlerweile Scouts losschicken, die Homeschooler werben für die Universitäten, weil die 'ne andere Vorgehensweise, Methodenarbeit haben an Lernstoff ranzugehen und an Projekte ranzugehen. Und das würde ich mir für Deutschland wünschen, das würde einen unheimlichen Schub geben, glaube ich, in der Entwicklung, auch wirtschaftlich gesehen, müssten wir da glaube ich nicht so viel Innovation von außen holen."
Nach dem Essen sitzen die Schwestern noch zusammen und nutzen die wenige Zeit, die sie an den Wochenenden füreinander haben. Morgen Abend muss Chalina wieder zurück nach Hannover. Rückblickend, sagt sie, hätte sie sich in ihrer Jugend manchmal etwas mehr Struktur gewünscht, mehr Grenzen.
Die Ausbildung, erklärt sie, macht sie auch, um sich nicht mehr dauernd erklären und rechtfertigen zu müssen, für ihr Leben ohne Schule. Denn ein Exot ist man damit eben für die meisten schon. Auch bei Gleichaltrigen stößt sie oft auf Unverständnis. Mit 21 will sie es der Welt ein bisschen zeigen:
"Man ist nicht blöd, nur weil man nicht zur Schule geht, deswegen bin ich auch ein bisschen notengeil, wenn es ne 1,8 ist, dann ist das schon echt scheiße (lacht), weil das ist ne 2 und keine 1."
Für ihren Ehrgeiz schämt sie sich, nutzt ihn aber auch als Ansporn, um dranzubleiben. Man muss ja auch an die Zukunft denken, meint sie lachend. Da ist das Schneidern eine gute Wahl, denn eine Werkstatt kann man auch zuhause haben:
"Weil das gut kombinierbar ist mit Familie einfach. Weil mir das echt wichtig war. Dass ich halt selbstbestimmt meine Zeit einteilen kann, mein eigener Chef bin und präsent für meine Kinder sein kann, gerade auch, wenn die dann vielleicht die ersten Jahre nicht zur Schule gehen wollen, muss ja alles mit eingeplant werden. (lacht) Ja, genau."
Katrin Albinus: "Ich fand es zunächst eher dubios, dass eine Bekannte mit dem Gedanken spielte, ihre Kinder nicht zur Schule zu schicken. Bis ich dann merkte, mit welcher Härte der deutsche Staat auf die Minderheit der Freilerner reagiert. Das erscheint mir absolut nicht zeitgemäß."