Freispruch im Inquisitionsprozess

Der britische Literaturwissenschaftler formuliert zehn Einwände gegen Karl Marx' Gedanken und versucht, sie zu widerlegen. Eagleton macht Marx zum etwas schrulligen Sozialdemokraten, ohne das auszusprechen - und ist vor Ideologie nicht gefeit.
Terry Eagleton ist einer der markantesten Intellektuellen Großbritanniens. Ursprünglich Literaturwissenschaftler und Professor in Manchester, entwickelte er sich von Buch zu Buch mehr zum Philosophen. Sein Lieblingsdenker – daraus hat er nie einen Hehl gemacht – war und ist der deutsche Philosoph und Ökonom Karl Marx.

Eagletons neues Buch "Warum Marx recht hat" ist eine klassische Apologie: Welcher Philosoph bedürfte mehr der entschuldigenden Fürsprache als der alte Marx? Ist er doch der Denker, der die praktische "Umsetzung" seiner Ideen nicht nur angedacht hat, sondern sie sogar als verdecktes Postulat aus der Hegelschen Philosophie ableitet: Man müsse den Geist vom Kopf auf die Füße stellen!

Hier liegt auch gleich das zentrale Problem Eagletons. Die Geschichte des Marxismus zeigt leider, dass der Geist eher auf die Füße gefallen als gestellt worden ist. Kein Denker zuvor wurde so ideologisiert wie Marx. Man nimmt es Eagleton, dem Autor eines Buches über Ideologie, sofort ab, dass er sich dieser ungerechten Ideologisierung höchst bewusst ist. Er beklagt die Millionen Opfer der verrückten Auf-die-Füße-Werfer und klagt an: Wurde je ein Philosoph so missbraucht?

Das Buch ist im historischen Sinn ein Inquisitionsprozess: Eagleton formuliert zehn ausführliche Einwände gegen Marx und versucht, sie zu widerlegen. Mit einer enormen Dosis an Humor taumelt Eagleton durch die Horrorszenarien der Marx-Rezeption. Dabei will das Buch auch eine Einführung in das Marx’sche Denken sein – alle einschlägigen Begriffe und Gedankenfiguren werden sach- und schriftkundig erläutert und auf die Aktualität angewendet.

Aber wie interpretiert nun Eagleton diese Texte, deren falsche Interpretation Millionen Verderben brachte? Kurz: Eagleton macht Marx zum etwas schrulligen Sozialdemokraten von heute. Marktsozialismus, Wettbewerb, Sozialsysteme etc. relativieren Begriffe wie "Vergesellschaftung" oder "Diktatur des Proletariats". Letzteren Ausdruck liest er zart und behutsam wie ein Shelley-Gedicht und macht eine kommunardische Idylle daraus – was bei Marx vielleicht gemeint sein mag. Aber die Explosivkraft gerade dieses Begriffes erfordert doch eine große Portion kritischer Pietät, um die sich Eagleton etwas herumdrückt.

Die Schwäche dieses Buches besteht darin, dass Eagleton aus Marx einen linken Sozialdemokraten macht, dies aber nicht ausspricht. Auf die Idee, dass Marx’ Analyse und seine Rezepte für das 19. Jahrhundert zutreffen mögen, weniger aber für den digitalisierten, globalisierten Kapitalismus, kommt Eagleton nicht. Und hier muss man ihm vorwerfen, dass er die Thesen seines Ideologiebuches oder seines Postmodernebuches nicht streng genug auf seinen eigenen Marx anwendet. Eigentlich ist sein Schuldfreispruch von Marx ein Anachronismus. Und ein wenig postmoderne Entspanntheit hätte dem Blick auf Marx auch gutgetan:

Warum ihn nicht als genuinen Philosophen und Schriftsteller anerkennen und sich von ihm reich inspirieren lassen? Warum ihn zurechtbiegen, um seine Wahrheit, sein Rechthaben zu retten? Welcher Philosophieprofessor würde heute etwa Platons Höhlengleichnis für "wahr" oder "falsch" erklären? Hatte Sokrates "Recht"? Müßige Fragen. Und ist Eagletons Titel auch leicht ironisch gemeint – so spürt man doch nach der Lektüre das manchmal fast unhörbare Geräusch, wie Interpretation in Ideologie einschnappt.
Besprochen von Marius Meller

Terry Eagleton: Warum Marx recht hat
Aus dem Englischen von Hainer Kober
Ullstein Verlag, Berlin 2012
286 Seiten, 18 Euro
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