"Viele Journalistinnen und Journalisten sind nicht mehr hinter Gefängnisgittern eingesperrt, sondern hinter geistigen Gittern."
Freispruch für Journalistin Mesale Tolu
Saß sieben Monate in Haft: die deutsche Journalistin Mesale Tolu. © picture alliance / dpa / Stefan Puchner
Meinungsfreiheit in Türkei weiterhin unter Druck
05:30 Minuten
Ein türkisches Gericht hat die Journalistin Mesale Tolu freigesprochen. Doch der Prozess gegen den Kulturmäzen Osman Kavala geht weiter. Um die Pressefreiheit in der Türkei stehe es weiter "sehr schlecht", so Christian Mihr von Reporter ohne Grenzen.
In die Freude über den Freispruch für Tolu mische sich "Fassungslosigkeit, wie ein Gericht versucht, die haltlosen Vorwürfe in den Mantel der Rechtsstaatlichkeit zu kleiden", und Ärger darüber, dass es überhaupt zu einem Verfahren kam, sagt Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, nach dem Urteil der Istanbuler Richter.
Vorwurf der Terrorpropaganda
Die Staatsanwaltschaft hatte der deutschen Journalistin Mesale Tolu ursprünglich "Terrorpropaganda" und "Mitgliedschaft in einer Terrororganisation" vorgeworfen. Es ging um eine angebliche Zusammenarbeit mit der linksextremen Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP), die in der Türkei als terroristische Vereinigung gilt.
Das Gericht sprach Tolu nun in beiden Anklagepunkten frei. Auch das Verfahren gegen ihren Ehemann Suat Corlu, der im gleichen Prozess angeklagt war, endete mit einem Freispruch. Beide haben nicht an der Verhandlung in Istanbul teilgenommen, sie sind bereits 2018 und 2019 nach Deutschland zurückgekommen.
Sieben Monate zu Unrecht in Haft
„Unsere Familie wurde auseinandergerissen, wir haben Repressionen erlebt, ich war im Gefängnis - all das kann nicht durch einen Freispruch weggewischt werden“, so Tolu nach der Urteilsverkündung. Die Journalistin habe zu Unrecht sieben Monate in Haft gesessen und einer Ausreisesperre unterlegen, unterstreicht Mihr. Das Urteil und den gesamten Prozess betrachtet er als politisch motiviert. Wie viele weitere Verfahren gegen Journalistinnen und Journalisten in der Türkei hätten diese "nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun".
Nun habe die türkische Regierung "offenbar entschieden, dass man mit diesem Verfahren die deutsch-türkischen Beziehungen nicht weiter belasten will", so Mihr. Die deutsche Regierung solle sich davon jedoch nicht täuschen lassen. Um Presse- und Meinungsfreiheit sei es in der Türkei weiterhin "sehr, sehr schlecht bestellt."
Willkürliche Verfolgung von Journalisten
Zwar würden inzwischen weniger Journalistinnen und Journalisten inhaftiert. Doch ihre "willkürliche Verfolgung" habe lediglich "eine andere Struktur angenommen", sagt Mihr. Statt Verhaftungen hätten sie den Entzug ihrer Pressekarten zu befürchten, was in der Türkei einem Arbeitsverbot gleichkomme, zudem würden vermehrt Ausreisesperren verhängt.
Am Tag des Freispruchs für Tolu und ihren Ehemann sei "ein anderes Willkürverfahren" wieder aufgnommen worden, betont Mihr. Der Prozess gegen den türkischen Unternehmer und Kulturmäzen Osman Kavala, der seit vier Jahren ohne Urteil im Gefängnis sitzt, wird fortgesetzt.
"Patron der Zivilgesellschaft" weiter in Haft
Als "Patron der türkischen Zivilgesellschaft" habe Kavala viele Kultureinrichtungen und unabhängige Medien gefördert. Das Verfahren gegen ihn sei ebenso "politisiert" und "in seiner Absurdität nicht zu überbieten", sagt Mihr. Nach einer Entscheidung Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte freigelassen werden müssen, doch Kavala werde von Präsident Erdogan als "persönlicher Feind" betrachtet, so Mihr.
Riskiert die Türkei nun den Ausschluss aus dem Europarat, dem sie seit 1949 angehört, indem sie sich dem Urteil des Menschenrechtsgerichtshofs widersetzt? "Wenn Grundrechte mit Füßen getreten werden, dann kann das eigentlich nicht hinzunehmen sein durch den Europarat", sagt Christian Mihr. Insofern könne die fortdauernde Inhaftierung von Kavala "nicht folgenlos bleiben."
(fka)