Freiwillige Überschwemmung
Fast die Hälfte der Niederlande liegt gerade noch auf Meeresspiegelniveau oder darunter. Ausgehend von den "Beinahe-Katastrophen" in den 90er-Jahren, als der Pegel des Rheins enorm stieg, versuchen die Niederländer sich heute gegen eine sogenannte "Flut von hinten" zu wappnen und realisieren das ehrgeizige nationale Hochwasserschutzprogramm "Mehr Raum für Flüsse". Es soll vier Millionen Menschen in den Flussgebieten schützen.
Stolz öffnet Mark Broekmans die schwere Schiebetür zu seinem neuen Heuspeicher im Overdiepse Polder, einem Flussauengebiet rund 50 Kilometer südöstlich von Rotterdam. Kurze, dunkelblonde Haare, hellblau blitzende Augen, kariertes Baumwollhemd und Holzschuhe: Der 36-jährige Bauer sieht aus wie ein echter Naturbursche. Im Wohnhaus seien die Maler noch am Weißeln und Tünchen, erzählt er auf dem Weg zum Kuhstall. Der ist ebenfalls so gut wie fertig. Dort plärrt das Radio, das die Bauarbeiter vergessen haben auszumachen.
Mark Broekmans stellt es ab. Schon in wenigen Wochen, erzählt er beim Verlassen des Kuhstalls, will er mit seiner Frau und den drei kleinen Kindern auf diesen neuen Hof umziehen. Er liegt nur einen Steinwurf von seinem alten Bauernhof entfernt, aber nicht mehr auf dem Niveau des Meeresspiegels, sondern für die Niederlande stattliche sechs Meter hoch auf einem sogenannten Terp - einem künstlich aufgeschütteten Hügel aus Sand- und Erdlagen. Wie eine Art Mini-Tafelberg erhebt sich dieser Hügel aus dem Flussauengebiet. Es winde hier oben zwar immer stark, aber dafür sei die Aussicht fantastisch, findet Mark und lässt den Blick über die Landschaft zu seinen Füßen gleiten.
"En winderig natuurlijk, je hebt natuurlijk prachtig uitzicht.”"
Vor rund 40 Jahren wurde dieses Gebiet eingedeicht und trockengelegt und damit zu einem Polder. Seitdem kann es landwirtschaftlich genutzt werden und heisst Overdiepse-Polder.
Mark Broekmans: ""Ich war vor 36 Jahren das erste Baby, das in diesem Polder geboren wurde, denn meine Eltern waren die ersten Bauern, die sich hier niederließen. Jetzt bin ich der erste Bauer, der nach oben in die Höhe umzieht."
Auf seinem künstlichen Hügel will sich Bauer Broekmans mit seiner Familie und seinen 120 Milchkühen im wahrsten Sinne des Wortes ins Trockene bringen. Auch seine Nachbarn bekommen einen solchen Terp. Insgesamt acht sollen bis Ende des Jahres gebaut werden.
"Es ist eine einzigartige Chance, dass wir hier oben neu anfangen können. Wir mussten uns allerdings erst an den Gedanken gewöhnen. Anfangs waren wir ganz schön frustriert, da dachten wir daran, ganz aufzuhören oder zu emigrieren und unser Heil im Ausland zu suchen."
Denn freiwillig hätten Marc Broekmans und die anderen Bauern ihre alten Höfe nie aufgegeben. Doch ihr Lebensraum wurde zum "Calamiteitenpolder" erklärt, zum Katastrophenpolder. Das heißt, bei drohendem Hochwasser kann das Gebiet geflutet werden, um überschüssige Wassermassen abzuführen. Trocken bleiben dann nur die acht Terpen: Sie werden zu kleinen Inseln, die durch Brücken mit dem Festland verbunden sind. Auf diese Weise sollen die dicht besiedelten und wirtschaftlich wichtigeren Gebiete weiter flussabwärts Richtung Rotterdam vor Überflutungen geschützt werden, sagt Ingwer de Boer, der Direktor des nationalen Hochwasserschutzprogramms "Ruimte voor de Rivier”, zu deutsch etwa: ”Mehr Raum den Flüssen”.
Ingwer de Boer: "Wir gehen davon aus, dass der Polder einmal in 50 Jahren geflutet werden muss. Dadurch entsteht den Bauern zwar Schaden auf ihren Äckern und Feldern, aber der wird zu 100 Prozent vom Staat kompensiert. Rund zwei Millionen Menschen weiter flussabwärts sind durch diese Flutung vor dem Hochwasser sicher. Das gilt auch für die Häuser und Ställe der Bauern, die brauchen auf ihren Terpen dann ebenfalls keine Hochwasserschäden mehr zu fürchten."
Die Terpen im Overdiepse Polder sind eines von 39 Projekten, die im Rahmen dieses speziellen Hochwasserschutzprogrammes für Flüsse seit 2006 realisiert werden. Die nationale Wasserbehörde Rijkswaterstaat arbeitet dazu eng mit betroffenen Provinzen, Städten und Ministerien zusammen. Insgesamt 19 Instanzen haben ihre Kräfte gebündelt und ihrerseits ein Heer aus Experten wie Wasserbauingenieuren und Landschaftsplanern eingeschaltet. Gesamtkosten für die 39 Projekte, die alle bis Ende 2015 vollendet sein sollen: 2,3 Milliarden Euro.
Dann werden die Flüsse maximal 16.000 statt 15.000 Kubikmeter Wasser pro Sekunde abführen können. Das ist notwendig, da durch den Klimawandel nicht nur der Meeresspiegel steigt, sondern auch die Niederschläge zunehmen. Dadurch führen die Flüsse mehr Regen- und auch Schmelzwasser mit sich.
Diese überschüssigen Wassermassen müssen schnell und sicher abgeführt werden, um Überflutungen zu verhindern. Immerhin liegt fast die Hälfte der Niederlande gerade noch auf Meeresspiegelniveau oder darunter, stellenweise fast sieben Meter tief. Mit immer höheren und breiteren Deichen allein ist es nicht mehr getan, stellt der Direktor des neuen Hochwasserschutzprogrammes, Ingwer de Boer, klar. Nicht mehr gegen das Wasser kämpfen, sondern mit dem Wasser leben, lautet die neue Devise: "leven met water”.
"Wir können die Deiche zwar immer höher und breiter machen, aber wenn dann etwas passiert, steht in den Häusern nicht mehr nur der erste Stock, sondern auch der zweite unter Wasser – wobei viele Häuser keinen zweiten Stock haben. Da ist es viel sicherer, dem Fluss mehr Raum zu geben."
Auslöser für diese neue Gewässerpolitik waren die sogenannten Beinahe-Katastrophen von 1993 und 1995 im Dreistromgebiet zwischen Niederrhein, Maas und Waal. Der Pegel des Rheins war in diesen beiden Wintern so hoch gestiegen, dass die altersschwachen Flussdeiche nachzugeben drohten. 250.000 Menschen mussten sich in Sicherheit bringen. Zum Glück hielten die Deiche.
Es blieb bei einem heilsamen Schock, der dazu führte, dass die Niederländer ihr Verhältnis zum Wasser neu überdachten. Jetzt wird ihm überall mehr Raum zugestanden: Flüsse erhalten Nebenrinnen, Deiche werden zurückversetzt, Flussauen verbreitet, Flussbetten vertieft. Die Ijssel zum Beispiel, die im Osten des Landes von Arnheim ins Ijsselmeer fliesst, bekommt an einer ihrer Flussschleifen einen sogenannten Bypass. Der sorgt dafür, dass große Wassermassen schnell abfliessen können.
Auch die nahe der deutschen Grenze liegende Stadt Nimwegen im Südosten der Niederlande hat Maßnahmen ergriffen. Dort wird das Projekt "Nimwegen umarmt die Waal” realisiert:
Ingwer de Boer: "Nimwegen liegt viel zu dicht am Fluss, dadurch muss sich die Waal dort durch einen Flaschenhals zwängen. Deshalb wird nun ein Seitenarm angelegt - und zwischen dem alten und dem neuen Flussarm eine Insel mit Wohnungen, Büros, Läden und vielen Freizeitmöglichkeiten. 'Manhattan von Nimwegen' wird die Insel bereits genannt."
Ein weiterer berüchtigter Flaschenhals befindet sich bei Gorinchem, einem alten Festungsstädtchen südöstlich von Rotterdam. Es liegt dort, wo Rhein und Maas zusammenfliessen. Der Fluss, der hier entsteht, ist die Merwerde. Sie gehört zu den meistbefahrenen Binnenschifffahrtswegen von Europa, so Piet Ijssels, der Bürgermeister von Gorinchem.
Ijssels ist seit 21 Jahren Bürgermeister von Gorinchem. Er hat die Beinahe-Flut von 1995 miterlebt. Ein Stadtviertel mit 10.000 Menschen musste damals evakuiert werden. Eine Nebenrinne im Industriehafen von Gorinchem soll nun dafür sorgen, dass dies nie mehr nötig ist. Bürgermeister Ijssels fährt regelmässig mit einem Schiff vorbei, um die Bauarbeiten zu inspizieren.
Ijssels erinnert sich noch genau an die vielen Journalisten aus aller Welt, die 1995 über die Evakuierung von Gorinchem berichteten. Nach ein paar Monaten reiste sogar noch ein Fernsehteam aus Indonesien an. Die konnten es kaum fassen, dass die 10.000 Gorinchemer damals alle wieder in ihre alten Häuser zurückgekehrt waren.
Piet Ijssels: "Dass ihr euch traut, hier weiterhin zu wohnen, bekam ich zu hören. 'Tja', antwortete ich, 'dass ihr euch traut, auf Vulkanen zu wohnen!' Es kommt immer darauf an, was man gewöhnt ist. Umziehen hilft uns Niederländern jedenfalls nicht viel weiter, bei uns wohnt man ja fast überall unter oder gerade mal auf dem Niveau des Meeresspiegels. Das tun wir schon seit Jahrhunderten, das sind wir gewöhnt. Man darf die Augen vor dieser Gefahr nicht verschliessen, das ist das Wichtigste. Man muss sich darauf einstellen."
An die neue Gewässerpolitik jedoch mussten sich selbst die Niederländer erst gewöhnen. Dem Erzfeind Wasser auf einmal mehr Freiraum zu geben anstatt wie bisher Grenzen zu setzen, stellte ihr Weltbild auf den Kopf. Traditionelle Maßnahmen wie das Verstärken der altersschwachen Flussdeiche liessen sich nach 1995 schnell und problemlos durchführen. Bei weniger konventionellen Projekten hingegen mussten die Behörden erst viel Überzeugungsarbeit leisten – insbesondere dort, wo Bürger Heim und Hof verloren, etwa durch das Zurückversetzen von Deichen oder das Verbreiten der Flussauen. Proteste blieben nicht aus, überall schlossen sich die Betroffenen zu Bürgerinitiativen zusammen.
Besonders groß war der Widerstand in jenen Gebieten, die im Notfall geflutet werden können und zu Katastrophenpoldern erklärt wurden - so wie südöstlich von Rotterdam der Overdiepse-Polder. Auch hier entstand eine Bürgerinitiative.
"Der Schreck war groß”, erinnert sich Bauer Mark Broekmans, der oben auf seinem künstlichen Hügel, dem Terp steht und die Aussicht über die Flussauenlandschaft geniesst:
"Sowas vergisst man nie mehr im Leben! Meine Frau und ich mussten in der Zeitung lesen, dass unser Polder zum Katastrophenpolder erklärt werden sollte! Damals wohnten hier noch 17 Bauern mit ihren Familien. Noch am selben Tag wurden wir alle zu einem Informationsabend eingeladen, da hörten wir dann, dass von den 17 Familien nur acht bleiben konnten, die würden auf Terpen umziehen können, für den Rest war hier kein Platz mehr. Ich kann Ihnen nur sagen: Da herrschte Panik im Polder!"
Die 17 Bauern beschlossen, ihre Kräfte zu bündeln, um den Behörden einen Schritt voraus zu sein. In einer anonymen Umfrage klärten sie untereinander, was jeder am liebsten tun würde: wegziehen, aufhören oder bleiben:
"Das Ergebnis dieser Umfrage diente als Basis für die Verhandlungen mit den Behörden”, erzählt Nol Hooijmaaijers, der Nachbar von Mark Broekmans. Er steht unten im Polder in der Sonne vor seinem Backsteinbauernhaus, in das er vor 40 Jahren nach der Trockenlegung des Polders gezogen ist. Mit seinen 62 Jahren zählt Hooijmaaijers zu den ältesten Bauern im Overdiepsepolder und wurde zum Vorsitzenden der dortigen Bürgerinitiative gewählt:
Nol Hooijmaaijers: "Nach und nach beruhigten wir uns alle wieder. Wir beschlossen, das Beste aus der Situation zu machen und die Bedrohung als Chance zu sehen. Immerhin konnten wir alle unsere alten Höfe für gutes Geld verkaufen. Wer wollte, konnte neu anfangen - mit neuen Ställen, Scheunen, Häusern. Mit einem neuen Hof!"
Sechs Bauern versuchen inzwischen, sich in Ländern wie Kanada eine neue Existenz aufzubauen. Ein weiteres Drittel hat aus Altersgründen ganz aufgehört - und acht Bauern sind geblieben, um auf einem der Terpen neu anzufangen.
Es habe zwar eine Weile gedauert, aber nun seien alle zufrieden, so Bauer Hooijmaaijers, der ebenfalls noch in diesem Jahr auf seinen Terp umziehen wird - zusammen mit seinem Sohn, der den Hof in ein paar Jahren übernehmen will. Er könne es gar nicht erwarten, einmal mitzuerleben, wie der Polder geflutet wird und sich sein Terp in eine Insel verwandelt.
Vorerst allerdings steht der alte Nol noch unten vor seinem Backsteinbauernhaus in der Blumenwiese zwischen Margariten und Butterblumen. Und auch wenn er so wie sein junger Kollege Marc Broekmans versucht, nach vorne zu schauen - eines muss Nol Hooijmaaijers dann doch zugeben:
"Meine Familie und ich konzentrieren uns zwar ganz auf den Neubau. Aber nur ein paar Wochen nach unserem Umzug wird dieses alte Haus hier abgerissen - und dann, da bin ich mir ziemlich sicher, wird so manche Träne fließen."
Mark Broekmans stellt es ab. Schon in wenigen Wochen, erzählt er beim Verlassen des Kuhstalls, will er mit seiner Frau und den drei kleinen Kindern auf diesen neuen Hof umziehen. Er liegt nur einen Steinwurf von seinem alten Bauernhof entfernt, aber nicht mehr auf dem Niveau des Meeresspiegels, sondern für die Niederlande stattliche sechs Meter hoch auf einem sogenannten Terp - einem künstlich aufgeschütteten Hügel aus Sand- und Erdlagen. Wie eine Art Mini-Tafelberg erhebt sich dieser Hügel aus dem Flussauengebiet. Es winde hier oben zwar immer stark, aber dafür sei die Aussicht fantastisch, findet Mark und lässt den Blick über die Landschaft zu seinen Füßen gleiten.
"En winderig natuurlijk, je hebt natuurlijk prachtig uitzicht.”"
Vor rund 40 Jahren wurde dieses Gebiet eingedeicht und trockengelegt und damit zu einem Polder. Seitdem kann es landwirtschaftlich genutzt werden und heisst Overdiepse-Polder.
Mark Broekmans: ""Ich war vor 36 Jahren das erste Baby, das in diesem Polder geboren wurde, denn meine Eltern waren die ersten Bauern, die sich hier niederließen. Jetzt bin ich der erste Bauer, der nach oben in die Höhe umzieht."
Auf seinem künstlichen Hügel will sich Bauer Broekmans mit seiner Familie und seinen 120 Milchkühen im wahrsten Sinne des Wortes ins Trockene bringen. Auch seine Nachbarn bekommen einen solchen Terp. Insgesamt acht sollen bis Ende des Jahres gebaut werden.
"Es ist eine einzigartige Chance, dass wir hier oben neu anfangen können. Wir mussten uns allerdings erst an den Gedanken gewöhnen. Anfangs waren wir ganz schön frustriert, da dachten wir daran, ganz aufzuhören oder zu emigrieren und unser Heil im Ausland zu suchen."
Denn freiwillig hätten Marc Broekmans und die anderen Bauern ihre alten Höfe nie aufgegeben. Doch ihr Lebensraum wurde zum "Calamiteitenpolder" erklärt, zum Katastrophenpolder. Das heißt, bei drohendem Hochwasser kann das Gebiet geflutet werden, um überschüssige Wassermassen abzuführen. Trocken bleiben dann nur die acht Terpen: Sie werden zu kleinen Inseln, die durch Brücken mit dem Festland verbunden sind. Auf diese Weise sollen die dicht besiedelten und wirtschaftlich wichtigeren Gebiete weiter flussabwärts Richtung Rotterdam vor Überflutungen geschützt werden, sagt Ingwer de Boer, der Direktor des nationalen Hochwasserschutzprogramms "Ruimte voor de Rivier”, zu deutsch etwa: ”Mehr Raum den Flüssen”.
Ingwer de Boer: "Wir gehen davon aus, dass der Polder einmal in 50 Jahren geflutet werden muss. Dadurch entsteht den Bauern zwar Schaden auf ihren Äckern und Feldern, aber der wird zu 100 Prozent vom Staat kompensiert. Rund zwei Millionen Menschen weiter flussabwärts sind durch diese Flutung vor dem Hochwasser sicher. Das gilt auch für die Häuser und Ställe der Bauern, die brauchen auf ihren Terpen dann ebenfalls keine Hochwasserschäden mehr zu fürchten."
Die Terpen im Overdiepse Polder sind eines von 39 Projekten, die im Rahmen dieses speziellen Hochwasserschutzprogrammes für Flüsse seit 2006 realisiert werden. Die nationale Wasserbehörde Rijkswaterstaat arbeitet dazu eng mit betroffenen Provinzen, Städten und Ministerien zusammen. Insgesamt 19 Instanzen haben ihre Kräfte gebündelt und ihrerseits ein Heer aus Experten wie Wasserbauingenieuren und Landschaftsplanern eingeschaltet. Gesamtkosten für die 39 Projekte, die alle bis Ende 2015 vollendet sein sollen: 2,3 Milliarden Euro.
Dann werden die Flüsse maximal 16.000 statt 15.000 Kubikmeter Wasser pro Sekunde abführen können. Das ist notwendig, da durch den Klimawandel nicht nur der Meeresspiegel steigt, sondern auch die Niederschläge zunehmen. Dadurch führen die Flüsse mehr Regen- und auch Schmelzwasser mit sich.
Diese überschüssigen Wassermassen müssen schnell und sicher abgeführt werden, um Überflutungen zu verhindern. Immerhin liegt fast die Hälfte der Niederlande gerade noch auf Meeresspiegelniveau oder darunter, stellenweise fast sieben Meter tief. Mit immer höheren und breiteren Deichen allein ist es nicht mehr getan, stellt der Direktor des neuen Hochwasserschutzprogrammes, Ingwer de Boer, klar. Nicht mehr gegen das Wasser kämpfen, sondern mit dem Wasser leben, lautet die neue Devise: "leven met water”.
"Wir können die Deiche zwar immer höher und breiter machen, aber wenn dann etwas passiert, steht in den Häusern nicht mehr nur der erste Stock, sondern auch der zweite unter Wasser – wobei viele Häuser keinen zweiten Stock haben. Da ist es viel sicherer, dem Fluss mehr Raum zu geben."
Auslöser für diese neue Gewässerpolitik waren die sogenannten Beinahe-Katastrophen von 1993 und 1995 im Dreistromgebiet zwischen Niederrhein, Maas und Waal. Der Pegel des Rheins war in diesen beiden Wintern so hoch gestiegen, dass die altersschwachen Flussdeiche nachzugeben drohten. 250.000 Menschen mussten sich in Sicherheit bringen. Zum Glück hielten die Deiche.
Es blieb bei einem heilsamen Schock, der dazu führte, dass die Niederländer ihr Verhältnis zum Wasser neu überdachten. Jetzt wird ihm überall mehr Raum zugestanden: Flüsse erhalten Nebenrinnen, Deiche werden zurückversetzt, Flussauen verbreitet, Flussbetten vertieft. Die Ijssel zum Beispiel, die im Osten des Landes von Arnheim ins Ijsselmeer fliesst, bekommt an einer ihrer Flussschleifen einen sogenannten Bypass. Der sorgt dafür, dass große Wassermassen schnell abfliessen können.
Auch die nahe der deutschen Grenze liegende Stadt Nimwegen im Südosten der Niederlande hat Maßnahmen ergriffen. Dort wird das Projekt "Nimwegen umarmt die Waal” realisiert:
Ingwer de Boer: "Nimwegen liegt viel zu dicht am Fluss, dadurch muss sich die Waal dort durch einen Flaschenhals zwängen. Deshalb wird nun ein Seitenarm angelegt - und zwischen dem alten und dem neuen Flussarm eine Insel mit Wohnungen, Büros, Läden und vielen Freizeitmöglichkeiten. 'Manhattan von Nimwegen' wird die Insel bereits genannt."
Ein weiterer berüchtigter Flaschenhals befindet sich bei Gorinchem, einem alten Festungsstädtchen südöstlich von Rotterdam. Es liegt dort, wo Rhein und Maas zusammenfliessen. Der Fluss, der hier entsteht, ist die Merwerde. Sie gehört zu den meistbefahrenen Binnenschifffahrtswegen von Europa, so Piet Ijssels, der Bürgermeister von Gorinchem.
Ijssels ist seit 21 Jahren Bürgermeister von Gorinchem. Er hat die Beinahe-Flut von 1995 miterlebt. Ein Stadtviertel mit 10.000 Menschen musste damals evakuiert werden. Eine Nebenrinne im Industriehafen von Gorinchem soll nun dafür sorgen, dass dies nie mehr nötig ist. Bürgermeister Ijssels fährt regelmässig mit einem Schiff vorbei, um die Bauarbeiten zu inspizieren.
Ijssels erinnert sich noch genau an die vielen Journalisten aus aller Welt, die 1995 über die Evakuierung von Gorinchem berichteten. Nach ein paar Monaten reiste sogar noch ein Fernsehteam aus Indonesien an. Die konnten es kaum fassen, dass die 10.000 Gorinchemer damals alle wieder in ihre alten Häuser zurückgekehrt waren.
Piet Ijssels: "Dass ihr euch traut, hier weiterhin zu wohnen, bekam ich zu hören. 'Tja', antwortete ich, 'dass ihr euch traut, auf Vulkanen zu wohnen!' Es kommt immer darauf an, was man gewöhnt ist. Umziehen hilft uns Niederländern jedenfalls nicht viel weiter, bei uns wohnt man ja fast überall unter oder gerade mal auf dem Niveau des Meeresspiegels. Das tun wir schon seit Jahrhunderten, das sind wir gewöhnt. Man darf die Augen vor dieser Gefahr nicht verschliessen, das ist das Wichtigste. Man muss sich darauf einstellen."
An die neue Gewässerpolitik jedoch mussten sich selbst die Niederländer erst gewöhnen. Dem Erzfeind Wasser auf einmal mehr Freiraum zu geben anstatt wie bisher Grenzen zu setzen, stellte ihr Weltbild auf den Kopf. Traditionelle Maßnahmen wie das Verstärken der altersschwachen Flussdeiche liessen sich nach 1995 schnell und problemlos durchführen. Bei weniger konventionellen Projekten hingegen mussten die Behörden erst viel Überzeugungsarbeit leisten – insbesondere dort, wo Bürger Heim und Hof verloren, etwa durch das Zurückversetzen von Deichen oder das Verbreiten der Flussauen. Proteste blieben nicht aus, überall schlossen sich die Betroffenen zu Bürgerinitiativen zusammen.
Besonders groß war der Widerstand in jenen Gebieten, die im Notfall geflutet werden können und zu Katastrophenpoldern erklärt wurden - so wie südöstlich von Rotterdam der Overdiepse-Polder. Auch hier entstand eine Bürgerinitiative.
"Der Schreck war groß”, erinnert sich Bauer Mark Broekmans, der oben auf seinem künstlichen Hügel, dem Terp steht und die Aussicht über die Flussauenlandschaft geniesst:
"Sowas vergisst man nie mehr im Leben! Meine Frau und ich mussten in der Zeitung lesen, dass unser Polder zum Katastrophenpolder erklärt werden sollte! Damals wohnten hier noch 17 Bauern mit ihren Familien. Noch am selben Tag wurden wir alle zu einem Informationsabend eingeladen, da hörten wir dann, dass von den 17 Familien nur acht bleiben konnten, die würden auf Terpen umziehen können, für den Rest war hier kein Platz mehr. Ich kann Ihnen nur sagen: Da herrschte Panik im Polder!"
Die 17 Bauern beschlossen, ihre Kräfte zu bündeln, um den Behörden einen Schritt voraus zu sein. In einer anonymen Umfrage klärten sie untereinander, was jeder am liebsten tun würde: wegziehen, aufhören oder bleiben:
"Das Ergebnis dieser Umfrage diente als Basis für die Verhandlungen mit den Behörden”, erzählt Nol Hooijmaaijers, der Nachbar von Mark Broekmans. Er steht unten im Polder in der Sonne vor seinem Backsteinbauernhaus, in das er vor 40 Jahren nach der Trockenlegung des Polders gezogen ist. Mit seinen 62 Jahren zählt Hooijmaaijers zu den ältesten Bauern im Overdiepsepolder und wurde zum Vorsitzenden der dortigen Bürgerinitiative gewählt:
Nol Hooijmaaijers: "Nach und nach beruhigten wir uns alle wieder. Wir beschlossen, das Beste aus der Situation zu machen und die Bedrohung als Chance zu sehen. Immerhin konnten wir alle unsere alten Höfe für gutes Geld verkaufen. Wer wollte, konnte neu anfangen - mit neuen Ställen, Scheunen, Häusern. Mit einem neuen Hof!"
Sechs Bauern versuchen inzwischen, sich in Ländern wie Kanada eine neue Existenz aufzubauen. Ein weiteres Drittel hat aus Altersgründen ganz aufgehört - und acht Bauern sind geblieben, um auf einem der Terpen neu anzufangen.
Es habe zwar eine Weile gedauert, aber nun seien alle zufrieden, so Bauer Hooijmaaijers, der ebenfalls noch in diesem Jahr auf seinen Terp umziehen wird - zusammen mit seinem Sohn, der den Hof in ein paar Jahren übernehmen will. Er könne es gar nicht erwarten, einmal mitzuerleben, wie der Polder geflutet wird und sich sein Terp in eine Insel verwandelt.
Vorerst allerdings steht der alte Nol noch unten vor seinem Backsteinbauernhaus in der Blumenwiese zwischen Margariten und Butterblumen. Und auch wenn er so wie sein junger Kollege Marc Broekmans versucht, nach vorne zu schauen - eines muss Nol Hooijmaaijers dann doch zugeben:
"Meine Familie und ich konzentrieren uns zwar ganz auf den Neubau. Aber nur ein paar Wochen nach unserem Umzug wird dieses alte Haus hier abgerissen - und dann, da bin ich mir ziemlich sicher, wird so manche Träne fließen."