Mit Peter Härtling durch seine schwäbische Heimat
Peter Härtlings Kindheit war geprägt von Flucht - zusammen mit Mutter, Schwester, Großmutter und Tante nach Wien und von dort mit vielen Zwischenstationen Richtung Westen. Fast nirgendwo wurden sie mit offenen Armen empfangen. Fremd fühlt sich Peter Härtling bis heute, auch in seiner neuen schwäbischen Heimat.
"Meine Kinder haben das erlebt, als die ersten Flüchtlinge kamen über Italien, die Zwerge, nass, kaputt, an Händen der Mütter hängend, haben erlebt, dass ich einfach in Tränen ausbrach. Da riss irgendetwas auf, ich kann das gar nicht sagen, eine Hilflosigkeit, eine Erinnerung, eine Wut, ein Zorn, auch ein Alleinsein."
"Und das war mit einmal da. Und ich habe das einfach in mir drin."
Der 1933 in Chemnitz geborene Peter Härtling flüchtete 1946 mit seiner Mutter, Schwester, Großmutter und Tante über viele Stationen nach Westen.
"Fünf Wochen überleben die Härtlings mit anderen Flüchtlingen in Güterwaggons, auf Stroh und Decken, werden von Wien über Passau nach Wasseralfingen transportiert, dann Nürtingen, amerikanische Besatzungszone, Abstellgleis, Frühjahr 1946."
"Als ich aus dem Güterwaggon, der zufällig in Nürtingen abgekoppelt worden war, die Alb sah, las ich die Urschrift meiner Landschaft. Und von diesem Augen-Blick an war es ohne Belang, ob mich diese Stadt ganz aufnehmen würde. Sie tat es nicht. Ich musste ohne die wärmende Enge des Anfangs auskommen, musste mich durchsetzen, wehren."
"Es gab, wenn man so will, die Menschenlandschaft, das war die kleine Stadt, in die man hineingeworfen wurde. Richtig hineingeworfen."
"Eine Hilflosigkeit, ein Zorn, auch ein Alleinsein"
"Durch ein Spalier von außerordentlich neugierigen Einheimischen, die die Flüchtlinge als Zigeuner betrachteten. Ich erinnere mich noch wohl, wie ich da in Nürtingen die Uhlandstraße hochlief, und da war an der Ecke beim Café Zimmermann ein kleines Geschäft, in dem waren Nudeln ausgestellt."
"Das war für mich absolut neu. Ich habe das nicht begreifen können, dass es etwas gibt, wo man Essen kaufen kann. Das war so toll."
"Dieser eine Blick auf die Nudeln, der eigentlich alles einschränkte und verengte, war der eine, und der andere Blick war, auf diese unglaubliche Landschaft. Das gibt ja schöne Methapern: dieser in himmlischer Bläue dahinschwimmende Gebirge, die Alb. Dieser Blick ist mir geblieben."
Fast ein Jahr lang konnte der 13-Jährige Peter in Folge des Krieges nicht mehr zur Schule gehen. In Nürtingen angekommen, schickt man ihn auf das Gymnasium. Härtlings Mutter Erika ist traumatisiert. Noch vor der Flucht wurde sie von einem sowjetischen Soldaten vergewaltigt.
In Nürtingen erfährt sie: Ihr Mann, ein Rechtsanwalt, hat die Kriegsgefangenschaft nicht überlebt. Seit einem Jahr ist der Mann, Peter Härtlings Vater, bereits tot.
Erika Härtling nimmt wenige Monate nach ihrer Ankunft in Nürtingen Tabletten und stirbt drei Tage lang vor den Augen ihrer Kinder. Die mitgeflüchtete Großmutter und eine Tante kümmern sich fortan um die beiden Härtling- Kinder.
Peter tastet sich vor: die Landschaft, der Fluss, und erste literarische Begegnung mit Friedrich Hölderlin; jener Dichter, dessen Leben entrückt von der Wirklichkeit 1843 in Tübingen endete. Hölderlin ist mit Blick auf den Neckar in Nürtingen groß geworden.
Noch kämpft Peter Härtling, wie viele andere Flüchtlinge auch, um einen Platz an diesem ungewollten schwäbischen Ort, den seine verstorbene Mutter ein Kaff nannte. Die Situation der Flüchtlinge ist 1946 im schwäbischen Nürtingen erbärmlich.
Schwäbisch lernen auf dem Ochsengespann
"Bei der großen Not, welche bei den Flüchtlingen herrscht, richten wir an die hiesige Einwohnerschaft die ebenso höfliche wie dringendste Bitte, durch reiche Gaben mitzuhelfen, die Not zu lindern, und den Flüchtlingen zu zeigen, dass wir ihre Not empfinden und ihnen helfen wollen",
appelliert der Flüchtlingsausschuss. Ein Landwirt nimmt sich dem jungen Peter an.
"Der Bauer war freundlich und misstrauisch, das ist ein gutes Gemisch. Und nahm mich auch mit auf das Feld."
Ein Ochsengespann zieht den Bauer und das Flüchtlingskind zur Arbeit auf das Feld nahe Nürtingen. Oben auf dem Bock lernt Härtling seine ersten schwäbischen Worte.
"Da saßen wir auf dem Bock und daneben war so eine Bremse, die man drehen musste. Dann sagte der Bauer zu mir: Mig a male. Ich habe nach Mücken Ausschau gehalten. Also: Mig a amole! Dann gab er mir einen Schubs, und ich sagte: Aber da sind doch keine Mücken. Dann sagte er: Du Dackel, ich mein die Bremse, das ist die Miggazete."
Migga – bremsen, Miggazete – die Bremse. Härtling lernt schnell.
"Und so habe ich einen schwäbischen Ausdruck gelernt. Und mir war ganz klar, wenn Du mit den Menschen hier leben musst, ist zum einen notwendig, dass du dich nicht absonderst durch Sprache, nicht durch Sprechen. Das könnte hochmütig wirken."
Härtling lässt sich ein auf das Schwäbische: auf die Sproch, auf d Alb, dr Neckar, Walcholderheiden, d Schof und Leud.
"Ich musste es mit dem aufnehmen, was ich heimlich liebte und lauthals schmähte. Die Sprache half mir. Ich lernte den Dialekt, das Schwäbische. Ich lernte Sprache neu. Ich stahl mich, alleingelassen, ins Ursprüngliche zurück."
"Und das Merkwürdige ist ja, ich sage immer, dass das Schwäbische, wie auch das Alemannische, im Grunde den Kiefer verformt. Und auf diese Weise spricht man das anders."
Broterwerb bei der Zeitung
Heute kann Peter Härtling über vieles lachen, doch gerade seine Jahre auf dem Nürtinger Gymnasium waren bisweilen Pein für den Heranwachsenden. Über Jahre hinweg schikanierte ein Lehrer mit nationalsozialistischer Vergangenheit den Flüchtlingsjungen. Härtling verlässt irgendwann von einer Minute auf die andere die Schule, ohne Abitur.
Der Nürtinger Künstler Fritz Ruoff und seine Frau nehmen sich dem jungen Härtling an, öffnen ihr Haus, hören ihm zu und beraten ihn. Eine Woche lang besucht Härtling die Bernsteinschule in der Nähe von Sulz am Neckar, damals unter der Leitung des Künstlers HAP Grieshaber. Doch Härtling bleibt nicht, er geht zurück nach Nürtingen.
Wieder zurück in Nürtingen beginnt er ein Volontariat bei der "Nürtinger Zeitung", später wird er Redakteur bei der "Heidenheimer Zeitung". Ein Leben kreuz und quer durch das Schwabenland beginnt.
Seine Freundin und spätere Frau, Mechthild Maier aus Nürtingen, studiert mittlerweile in Tübingen Psychologie. Härtling fährt oft von Heidenheim nach Nürtingen und Tübingen. Oft hat er in Stuttgart und Esslingen zu tun und nicht nur der Liebe wegen zieht es ihn nach Tübingen.
Mit dem Lumpensammler, so wird der Nachtzug zwischen Stuttgart und Tübingen genannt, pendelt der junge Härtling fortan einige Jahre hin und her.
"Was ich kann: schreiben, mit Wörtern umgehen"
"Tübingen war für mich eine ganz große Erfahrung. Ich lernte über Bechtle in Esslingen, wo meine Gedichtbände erschienen, zwei Literaten kennen, Helmut Heißenbüttel und Johannes Poethen, der in Tübingen residierte, in Hirschau."
"Für mich war das einfach eine zusätzliche Lehre. Ich konnte einerseits in Vorlesungen gehen, in Begleitung von Johannes [Poethen]. Ich lernte viele Leute kennen, ich lernte auch Walter Jens kennen. Und diese nächtelangen Diskussionen, mit Poethen und auch mit anderen politischen Leuten. Da war Reimar Lenz beispielsweise, der war beim SDS damals, das waren diese linken Jungen [Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS)], die zum Teil in Gartenhäusern wohnten. Das war eine Szene, die mich schon ein bisschen wegzog von meinen Reibereien mit der Enge. Die schufen eine künstliche Weite, natürlich, die unglaublich schön war."
"Ich begriff zum ersten Mal auch das, was ich kann: schreiben, mit Wörtern umgehen, und dass die Arbeit in der Zeitung für mich zwar lebensnotwendig war, aber dass es eine zweite Ebene gab. Und das war die Erfahrung von Tübingen."
"Das war eine Zwischenperiode, die ich brauchte."
Seine Freundin Mechthild Maier wohnt in der Herrenberger Straße in Tübingen. Später werden die beiden als Ehepaar wieder in der Nähe eine kleine Wohnung haben.
"Das war so eine Villa, die oben auf dem Berg lag. Da musste man wahnsinnig viel Stäffele hinauf. Da hatte sie ein Zimmer, ihr Bruder im Übrigen auch, und wann immer wir uns da unterhielten - wie auch immer unterhielten - hörten wir, das gehört für mich auch zur Herrenberger Straße, zu diesem Haus, den tiefen Atem von Herrn Steck, der durch das Schlüsselloch guckte, was die jungen Leute da so treiben."
Noch liegt das Leben der beiden vor ihnen. Es ist eine politische Zeit.
"Wir haben auch viel miteinander gemacht, die Mechthild und ich. Wir haben unglaublich viel, fehlt mir heute, wenn ich mit so 20- bis 22-Jährigen zusammen bin … die Diskutierwut, dieses der Sache auf den Grund gehen wollen. Ich weiß noch, die Mechthild hatte mit Kassner zu tun, mit der Physiognomie von ihm. Wir haben uns gefetzt und es war jedem wichtig, was er dachte. Das sind einfach Bausteine, die man aufeinandersetzt."
"Und so wurde aus dem Flüchtlingsbuben irgendeiner, der was machte."
Mechthild Maier, mittlerweile Psychologin, und Peter Härtling heiraten. Das junge Paar kehrt dem Schwabenland den Rücken. Immer wieder kommt Härtling allerdings zurück - nach Tübingen, an den Neckar.
In den Landschaften Hölderins
In den 1970er-Jahren schreibt er einen Roman über Hölderlin. Ein bahnbrechendes Werk, ein neue Art des Erzählens entsteht mit diesem Buch. Um Hölderlin nahe zu sein, ihn zu spüren, schreibt Härtling bisweilen an dessen letzten langjährigen Wohnort: im Tübinger Hölderlinturm.
Keine Biografie, vielleicht eine Annäherung, nennt er sein Werk über Hölderlin. "Ich kann ihn nur finden, erfinden", schreibt Härtling auf den ersten Seiten des Romans.
Immer trifft man in Tübingen, vor allem am und im Hölderlinturm, Härtling-Leser. Und auch der Autor kommt nicht los von jenem Ort, der so viele Jahre für einen der größten Dichter des Landes Zufluchtsstätte war. Als unheilbar krank wurde Hölderlin 1807 aus einer Tübinger Klinik entlassen. Die Tübinger Familie Zimmer nahm sich dem entrückten Dichter an, pflegte ihn so liebevoll, wie man sich das heute kaum noch vorstellen kann.
"Diese beiden, Ernst und Lotte Zimmer, habe ich, schreibend, zärtlich geliebt."
Mit diesen Worten würdigt Härtling in seinem Hölderlin die Zimmers für ihre unvorstellbare Liebe. Hölderlin verbringt seine zweite Lebenshälfte in der Obhut der Tübinger Familie.
"Manchmal träume ich im Übrigen davon, von dem Vorgarten, von dem Vorplatz vor dem Turm, da ist ja jetzt das Café, und auf diesem Vorplatz habe ich viele Male mit Musikern gesessen, die im Turm dann gespielt haben, mit Kollegen gesessen, die im Turm dann gelesen haben."
"Erinnerungen, die von einer Lebhaftigkeit sind, auch Gespanntheit und Bildstark: dahinter der Neckar und die Weiden, und die Stocherkähne und die lauten Leute drin. Das ist ganz eigen, ich wüsste nichts, was ich so erinnern könnte."
1998 wird Peter Härtling zum Präsidenten der Hölderlin-Gesellschaft gewählt.
"Dieser Hölderlin-Klüngel, den es da gab, der dann aufbrach für mich, also das war kein Problem mehr… den es am Anfang für mich gab, der war wie eine Mauer um den Turm, der außerordentlich erst einmal gegenüber Fremden abwehrend war. Das war schon eine etwas furchtsame Annäherung."
"Und ich war da mit einmal drin und plötzlich war ich Präsident und fand das ganz unheimlich. Vielleicht auch dadurch, weil vorher einer da war, wie Uvo Hölscher, der offen, sehr souverän mit meinen Zweifeln, mit meinen Zweifeln und Vorbehalten umging. Also, ich fühlte mich, obwohl ich Hölderlin liebte, noch immer in diesem Umkreis fremd."
Wohler fühlt sich Härtling in der Tübinger Kinderklinik. So oft es geht, liest der auch für seine Jugendbücher ausgezeichnete Schriftsteller kleinen, meist schwerkranken Patienten vor.
In Tübingen trifft er auch auf die Macher des Theater Lindenhofs in Melchingen: Melchingen, ein kleines Dorf auf der Schwäbischen Alb, nicht einmal auf 1000 Leute kommt man dort oben. Diese kleine Dörfle verfügt über das einzige Regionaltheater im Südwesten.
Kontrovers geführte Heimat-Suche
Das Theater, ein Volkstheater im besten Sinne, ist so einzigartig, dass es zu den großen Bühnen des Landes zählt.
"Schön im Süden Schwabens, über dem Neckartal, hinter den sieben Bergen liegt Melchingen. Die Alb ist eine eigene Gegend. Der Sommer mit hohem Licht, der Winter mit klarer Kälte, glanzvoll eventuell der Herbst, auch die Mehrheiten, die Ansichten, die Feinde soweit klar, hier und da noch Natur. Irland manchmal. Wind wie vom Meer, Mittelalter leidvoll und köstlich, Kargheit und Vitalität. Eine gute Gegend für Geschichten. Hier liegt das Theater Lindenhof. Mitten im Dorf unter den Linden an der Allee, Kneipe und Kultur, Theater und Lebensform."
Heißt es in der Chronik des Theaters, das in den 1970er-Jahren von ein paar Aussteigern gegründet wurde.
"Theaterspielen war für die Leute vom Lindenhof von Anfang an kontrovers geführte Heimat-Suche. Heimat als Erinnerung, Heimat als Utopie. Eine schwierige Auseinandersetzung mit einem der schillerndsten Begriffe unserer Zeit."
Härtlings Winterreise wird zum Erfolg
Peter Härtling hat das Theater mit seinen Werken wie kein anderer mitgeprägt. 1997 wurde vom Theater Lindenhof erstmals das Stück "Winterreise" von ihm aufgeführt. Es ist Härtlings Flüchtlingsgeschichte, die da zu sehen war, kombiniert mit Schuberts "Winterreise". "Fremd bin ich eingezogen, Fremd zieh' ich wieder aus." Bis heute Härtlings Thema. Nur in der Landschaft ist er angekommen.
"Ich werde immer wieder gefragt, ob ich mich noch heute fremd empfinde. Das tue ich, noch immer."
Autor des Liederzyklus "Winterreise" ist Wilhelm Müller. Der in Dessau geborene Müller war mit vielen schwäbischen Dichtern, vielen Tübinger Dichtern bekannt, etwa mit Ludwig Uhland, Justinus Kerner, Wilhelm Hauff und Gustav Schwab.
Härtlings "Winterreise" wurde im Schwäbischen ein Riesenerfolg. Drei Jahre lang stand das Stück auf dem Programm des Theater Lindenhofs. Ein Teil der Inszenierung fand im Freien, auf der Albhochfläche statt. Wenigstens die Kälte musste das Publikum einmal aushalten, das Fremdsein konnte man bei eisigen Temperaturen nicht einmal erahnen.
Ausgerechnet der Reingeschmeckte, der Flüchtling, findet Worte für eine Landschaft, deren Beschreibung im Schulunterricht häufig nur ein Wort kannte: karg.
Härtling wird Pflichtlektüre an baden-württembergischen Schulen, mit seinen Gedichten wächst eine ganze Generation auf, versöhnt sich mit der herben Landschaft, die mittels Sprache plötzlich anders gesehen werden kann:
Albengel
Du, die Seele
aus Holz,
wacholdern.
Manchmal,
an Abenden mit gläsernem Sommerwind,
manchmal
beginnst du zu tönen,
und dein innerer Gesang ist weithin zu hören
in den Tälern,
wo er schwillt
und sich bricht.
Tübingen - das ist Goethe, Schiller und immer Hölderlin
Unten, im Neckartal, im Sommer, da sitzen sie die Jungen auf der Stadtmauer am Neckar und lachen. Die Zeit steht hier immer still, ein Ort, wo das Damals und Heute sich aufhebt, so viele Dichter und Denker hat diese Stadt gesehen, dass man die Übersicht verliert: Goethe, Schiller und immer Hölderlin - alle waren sie in Tübingen.
Hinter den Jungen auf der alten Stadtmauer ragen die mittelalterlichen, bunten Bürgerhäuser auf. Der vorbeiziehende Neckar spiegelt das Schauspiel. Ein paar Meter neckaraufwärts ist das Tübinger Stift. Hölderlin, Schelling, Hegel, die Liste der berühmten Schüler dieser Ausbildungsstätte für Theologen ist lang.
Berühmt ist auch der dort herrschende Drill. Hölderlin flehte seine Mutter an, diesen Ort verlassen zu dürfen, und so ging es vielen Schülern. Doch in keinem anderen Landstrich gibt es eine annähernde Dichter und Denkerdichte wie im alten Württemberg. Viele von ihnen haben das Tübinger Stift besucht.
Der Stiftsgarten hat bis heute etwas Paradiesisches. Unter Bäumen sitzend hört man aus der Ferne lachende Menschen. Sie sitzen in Stocherkähnen, die im eigenen Rhythmus von versierten Stocherern über den Neckar gleiten.
"Es zieht mich nach Tübingen"
Am Abend ändert sich oft das Bild. Statt lachende Gesellschaften, sitzen einzelne Pärchen in den Booten, die an venezianische Gondeln erinnernde Kähne sind dann oft mit Kerzenlicht beleuchtet und gleiten an der abendlichen, mystischen Altstadtkulisse vorbei, als kämen sie aus einer anderen Zeit.
Eine Stimmung, die seit Jahrhunderten ähnlich ist und auch die Fantasie der jungen Seminaristen beflügelt haben dürfte.
"Das gab es ja … das habe ich beim Hölderlin… das sind diese Kleinigkeiten, die einem beim Schreiben irgendwie schupsen. Die schupsen einen irgendwie richtig in die Epoche rein. Da entdeckte ich so Steinhäufchen, das nannte man die Stiftlersteine, und unter diesen Steinen verbargen die die verbotenen Bücher."
Schon lange wohnen die Härtlings in Mörfelden-Walldorf bei Frankfurt. Ihre vier Kinder haben längst eigene Kinder. Doch Peter und Mechthild Härtling kommen immer wieder zurück in ihre Zweitwohnung, die sie in Tübingen haben. Tübingen lässt den Geist nicht mehr los.
"Es zieht mich nach Tübingen. Im Grund auch der Blick zur Alb hin. Der Blick ins Ammertal von dem Balkon unserer kleinen Wohnung aus. Es hat mich nach Tübingen gezogen, weil es Freunde und Menschen dort gab: Gerd Fichtner, Walter Jens - viele, mit denen ich gerne umging."
"Wichtig war es für mich, und das hört sich jetzt wieder so sehr gelehrt an: Dass ich für meine Arbeit am Waiblinger und am Hölderlin die Bibliothek brauchte und die Ratschläge von Kundigen - und das macht Tübingen aus für mich."
"Tübingen ist ein bisschen ein Museumsort: schön, auch eng, aber sehr liebenswert und sehr jung."
Die Wege der hügeligen Stadt sind Peter Härtling beschwerlich geworden. Ohne Hilfe schafft er es nicht mehr an den Neckar. Zuhaus nahe Frankfurt sitzt er an seinem Schreibtisch, schreibt an einer Geschichte über einen Flüchtlingsjungen, auch ein Buch mit Engelgedichten wird noch in diesem Jahr erscheinen.
Engel, Gefährten nennt er sie, Gefiederte. Immer sind sie bei ihm: Es gibt Vor der Zeit Engel, Kinderengel, Nachtengel, natürlich Albengel und immer mehr auch Grenzengel.
Grenzengel
Lehre mich,
mein unverwundbarer Engel,
den sanften Tod
und gönne mir
noch einige Blicke
auf die Gegend,
die mich einstimmte
ins Leben,
dieses aufmuckende Gebirg
hinterm Fluß,
dem Neckar;
drücke mir ein paar Sätze
unter den Gaumen,
die laut werden,
wenn ich die Grenze übertrete –
lehre mich, mein ausdauernder Engel,
fortzugehen
ohne Widerruf,
so heiter,
dass es dich dauert mich zu lassen.