Heißen wir in Deutschland jeden Gast willkommen, auch den, der uns fremd ist, politisch oder kulturell? Und sieht Gastfreundschaft in Reutlingen genauso aus wie in Berlin oder Dresden? – Der Länderreport macht sich diesen Sommer auf die Suche nach der Gastfreundschaft in Deutschland.
Gastfreundlich - aus schlechtem Gewissen?
Die Gastfreundschaft der Deutschen hat einen Grund: das schlechte Gewissen nach dem Zweiten Weltkrieg. Das zumindest meint Krzysztof Wojciechowski, Direktor des Collegium Polonicum. Zudem sei die Hilfsbereitschaft immer an Regeln geknüpft. Doch in letzter Zeit gebe es Grund zur Sorge.
Der polnische Soziologe Krzysztof Wojciechowski kennt die Deutschen seit den 1970er-Jahren. Damals trampte er durch die DDR und lernte die "preußische Gastfreundschaft" kennen. Er fand Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit, aber immer gebunden an die Einhaltung von Regeln: "Also jemand, der gegen die Regeln verstößt, wird sofort angeknurrt." Egal übrigens, ob er Deutscher oder Pole ist. Das hat sich bis heute nicht geändert.
Die Gastfreundschaft der Deutschen, so findet der Direktor des Collegium Polonicum – einer Forschungseinrichtung der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen – hat einen Grund: Das schlechte Gewissen nach dem Zweiten Weltkrieg. Allerdings macht sich Krzysztof Wojciechowski jetzt Sorgen um "meine lieben Deutschen": "Man muss die Gastfreundschaft auf Hilfsbereitschaft reduzieren. Plus Vernunft, das ist der richtige Weg, nicht die Tür auf, alle herein!"
Lesen Sie hier das ganze Interview:
Nana Brink: Erleben Sie Gastfreundschaft in Brandenburg?
Krysztof Wojciechowski: Oh ja Frau Brink! Ich bin hier seit 27 Jahren und habe praktisch nur Gastfreundschaft erfahren, vielleicht zwei oder drei Mal war es unangenehm, wissend, dass man mich als Pole identifiziert und negative Gefühle entwickelt, aber sonst war das paradiesisch .... (lacht)
Brink: Das wundert mich jetzt ein bisschen, weil man sagt doch die Brandenburger und Polen haben es nicht immer einfach gehabt miteinander?
Wojciechowski: Ich kenne Brandenburger Mentalität noch aus den 70er Jahren, als ich zum ersten Mal in die DDR gekommen bin und habe sie damals als preußische Mentalität eingestuft und ich muss Ihnen sagen, dass die Gastfreundschaft war ein starkes Element dieser Mentalität, unter einer Voraussetzung: Dass man die Regeln beachtet, die die Deutschen oder die Preußen oder die Norddeutschen verfolgen.
Brink: Jetzt bin ich neugierig. Was ist preußische Gastfreundschaft? Wodurch zeichnet die sich aus?
Wojciechowski: Also preußische Gastfreundschaft ist erstens Hilfsbereitschaft, zweitens Fürsorge, also ein Denken an jemanden als bedürftige Person, dann das Übernehmen von Verantwortung für die jeweilige Person, ein stark ausgeprägtes Verantwortungsgefühl, da leistet man Hilfe so weit man kann, man kümmert sich um den Betroffenen, mit einer Ausnahme: so Geld, privates Geld wird ungerne geliehen, sonst alles andere, da öffnet man das Herz ....
"Brandenburger haben ein starkes Kontrollbedürfnis"
Brink: Woher kommt es, dass Brandenburg manchmal so einen Ruf hat, dass es – ich sag es mal zugespitzt – dem Ausländer nicht so aufgeschlossen gegenüber ist?
Wojciechowski: Da sind zwei Dinge: also erstens da ist dieses Regelverständnis, also jemand, der gegen die Regeln verstößt, wird sofort angeknurrt, überhaupt die Brandenburger haben ein starkes Kontrollbedürfnis, wenn sie sehen, dass ein Auto falsch parkt, dann überlassen sie das nicht der Polizei, sondern nehmen die Rolle der Polizei auf sich, ja... kommen, maßregeln, drohen, usw. und das hat nichts mit der Nationalität zu tun. Ich habe ein Auto mit deutschem Kennzeichen, und werde sozusagen genau harsch behandelt wie auch die anderen Autos.
Brink: Hat sich denn die Gastfreundschaft in den letzten 25 Jahren geändert? War sie anders in der DDR als sie heute ist?
Wojciechowski: Nicht wesentlich, aber wissen Sie, die DDR und Osteuropa und die DDR war ein Teil von Osteuropa, hat einen gewissen Prozess nicht durchgemacht, den Westdeutschland, die westdeutsche Gesellschaft gemacht hat, ja, dass ist die Entwicklung einer humanen Gastfreundschaft, die fast zum Markenzeichen Deutschlands geworden ist, aus den Schuldgefühlen nach dem Zweiten Weltkrieg, aus dem Bedürfnis, das den anderen angetane Böse auszugleichen oder wieder gut zu machen, und dieser Prozess in der DDR war sehr schwach, der betraf nur gewisse Kreise in der Bevölkerung, weil sonst war man distanziert von den Schuldgefühlen nach dem Faschismus, weil man sagte, man war immer auf der richtigen Seite, weil der Sozialismus war ok. Die Westdeutschen machten diesen Weg und sind jetzt sozusagen die gastfreundlichsten und die fürsorglichsten Menschen in Westeuropa, ausgenommen die Skandinavier.
Brink: Würden Sie also sagen, dass die Gastfreundschaft in Deutschland etwas ist, was durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges, des Nazi-Regimes erst so richtig hoch gekommen ist?
Wojciechowski: Ja das ist der Anfang, der Ursprung von diesem ganzen Prozess. Aber hoffentlich wissen wir alle, dass die Tugenden, die maßlos praktiziert werden, dann mit der Zeit in ihren Gegensatz verwandeln können oder zumindest in Dummheit, die Probleme schafft. Diese Gastfreundschaft auf individueller Ebene ist etwas sehr schönes, aber natürlich auf internationaler Ebene schafft sie Probleme. Und das ist erstens ein innerdeutsches Problem und zweitens wird es von außen überhaupt nicht verstanden und nicht kapiert. Es wird – nicht nur in Osteuropa – gedacht – Stöbern Sie in Youtube, auf Facebook, es sind auch Nordamerikaner, Australier usw. – sehen, dass mit dem deutschen Verstand etwas nicht in Ordnung ist.
Deutsche Gastfreundschaft in der Flüchtlingsfrage
Brink: Also Sie sprechen jetzt die Flüchtlingsfrage an, wo man sagt, die Deutschen hätten Gastfreundschaft bewiesen. Viele Polen fanden das ja merkwürdig, dieses Verhalten...
Wojciechowski: Ja! Aber die Polen wiederum haben die Internationalisierungsprozesse nicht durchgemacht. Ein Afrikaner ist auf einem polnischen Dorf nach wie vor eine Sensation, wie vor hundert Jahren! Wenn Sie eine marschierende Kolonne von tausenden von Afrikanern sehen, dann verstehen sie die Welt nicht, kriegen Angstgefühle, Abneigung usw. ... Die Deutschen verkennen den Ernst dieser Prozesse, das Wesen dieser Prozesse, auf diese Weise, dass man die eigene Tür öffnet und alle aufnimmt, nicht regeln kann und nicht befrieden kann.
Brink: Was ist denn Ihr schönstes Erlebnis von Gastfreundschaft?
Wojciechowski: Oh da war ich vielleicht ein 14-jähriger junger Mann und ich beschloss, durch die DDR zu trampen, es war das Jahr 1972, man hat gerade die Grenze geöffnet, ich habe Deutsch gelernt und war mutig genug, alleine eben per Anhalter zu reisen, und die Menschen nahmen mich mit in die Familie, ich schloss Freundschaften, die dann Jahrzehnte überdauert haben, und steckten mir auch Geld zu, weil damals war die Mode, löchrige Jeans zu haben, so wie heute übrigens ... (lacht) .... ich war sehr angetan, dachte ich mir, sind die Deutschen liebe Menschen!
Brink: Denken Sie das heute auch noch?
Wojciechowski: Absolut! – Ich mache mir Sorgen natürlich. Ich mache mir Sorgen um den Geisteszustand! Man muss die Gastfreundschaft auf Hilfsbereitschaft reduzieren. Hilfsbereitschaft, Verantwortungsgefühl, plus Vernunft, rationales Denken, das ist der richtige Weg, nicht die Tür auf, alle herein, und dann stellt sich heraus, dass es damit Probleme gibt.
Brink: Vielen Dank, Krzysztof Wojciechowski, für dieses Gespräch!
Wojciechowski: Ich danke Ihnen Frau Brink!