Eine Seele in zwei Körpern
In Zeiten zunehmend instabiler Paar- und Familienbeziehungen gewinnt Freundschaft an Bedeutung. Aber was macht gute Freunde aus? Dem Wesen der Freundschaft auf der Spur - von Aristoteles bis zu den Party-Freunden in einer Karaoke-Bar.
Montagnacht in der Monster Ronson's Karaoke-Bar, Berlin: Caileen, Mara, Dennis, John und Nora haben sich erst vor ein paar Tagen kennengelernt, jetzt sitzen sie in einer kleinen Kabine um zwei Mikrofone herum, singen Queen, Madonna und deutschen Schlager:
"Weil das meine Freunde sind!"
"Es ist nicht wichtig wo wir hingehen, Hauptsache wir sind zusammen."
"Yes we are friends, but new friends as well."
"Es ist nicht wichtig wo wir hingehen, Hauptsache wir sind zusammen."
"Yes we are friends, but new friends as well."
Freunde - im Alltag mit seinen Höhen und Tiefen sind sie oft eine rettende Insel. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen: Allein der Gedanke an einen guten Freund, eine gute Freundin kann dazu führen, dass Menschen ihre Alltagsprobleme als weniger belastend empfinden. Was am Wesen der Freundschaft selbst liegen mag: Freundschaften sind die einzigen menschlichen Beziehungsformen, die ohne gesetzliche Regelungen, offizielle Gründungsriten und gegenseitige Verbindlichkeiten auskommen. Wie eine Freundschaft aussieht, warum und wie lange sie funktioniert, wird einzig zwischen den Beteiligten ausgehandelt.
"Freundschaft ist der Wunsch nach einer unverbindlichen Bindung, die hält."
Daniel Tyradellis, Kurator, Philosoph und Freundschaftsforscher:
"Und das meine ich mit unverbindlich: Du kannst dich nie drauf verlassen, dass der Freund morgen noch dein Freund sein will. Und trotzdem steht er auf der Matte und sagt: Lass uns Angeln gehen! Und das kann ein Meer zu Tränen rühren, weil das so freiwillig ist! Weil ich eben wirklich verstehe: der macht das nur, weil er möchte!"
Viele Definitionen von Freundschaft
Auch wenn die Wissenschaft bis heute keine allumfassende, einziggültige Definition von Freundschaft anbieten kann, so haben die Forscher doch viele einzelne Fragen klären können, sie haben gezeigt:
"Dass Freundschaften aus dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Selbstbestätigung entstehen. Dass man seine besten Freunde nicht nur deshalb auswählt, weil sie so toll sind, sondern auch weil sie einem das Gefühl geben, selbst toll zu sein. Dass die Anzahl der Freunde eines Menschen mit der Gründung einer eigenen Familie deutlich abnimmt. Dass Menschen - egal welchen Alters und unabhängig von der Zahl ihrer Facebook- Kontakte zeit ihres Lebens nur zwei bis drei enge oder beste Freunde haben, und dass neu hinzukommende Freunde ältere Freundschaften verdrängen."
Und sie konnten zeigen, dass Vertrauen und die Möglichkeit sich einem anderen zu offenbaren zum Kern von Freundschaft gehören:
"Man unterstützt sich auch in schlimmen Momenten im Leben, also man ist einfach langfristig miteinander verknüpft, auch wenn man kurze Zeit nichts mehr voneinander hört - langfristig weiß man, man ist dabei und verfolgt das Leben des anderen."
"Wir kennen uns jetzt 50 Jahre, wir sind sogar zusammen in die Schule gegangen."
"Jemand, dem ich restlos vertraue und den ich auch unterstütze, wenn er in Not ist. Ich glaube, ich würde nicht unbedingt erwarten, dass er mich unterstützt - aber ich würde ihm auf jeden Fall bedingungslos helfen, das wäre für mich ein Freund, und davon gibt's dann auch nicht so viele."
Seele ist nur dann schön, wenn sie sich verändert
Manche Freundschaften halten ein Leben lang, andere zerbrechen. Sind gute Freunde Menschen, die sich besonders ähnlich sind – oder genau umgekehrt? Für den Psychologen Franz Neyer, Direktor des Instituts für Psychologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, ist die Sache klar: Gleich und gleich gesellt sich gern:
"Das liegt daran, dass Freunde sich meist in Kontexten begegnen, zum Beispiel an der Universität oder im Verein, oder im Urlaub oder auf kulturellen Veranstaltungen, wo sie eben auch gemeinsame Interessen haben. Man nennt das auch 'soziale Homogamie', das spielt bei der Partnerwahl dann auch eine Rolle, aber bei Freundschaften ist es auch so."
Neyers Homogamie-These ist empirisch bestens belegt. Dennoch, betont Daniel Tyradellis, lohnt es sich Freunde zu haben, die einem nicht nur nahe sind:
"Wenn alle Menschen, alle Freunde genau gleich sind, dann spiegelt man sich immer nur, aber man entwickelt sich nicht, man verändert sich nicht. Und nach Schiller wissen wir, dass die Seele nur dann schön ist, wenn sie sich verändert. Und wenn Freunde nur darin bestehen, zu sagen: finde ich super! Machen wir! Dann stagniert eine Entwicklung. Auf der anderen Seite: ein Freund, der alles immer nur infrage stellt, das hält ja kein Mensch aus. Das heißt, Freundschaft besteht immer auch darin, graduell zu entscheiden: in welchen Dingen brauche ich Ähnlichkeit. Aber er muss trotzdem so anders sein, dass er mich immer wieder mit Sichtweisen, Perspektiven, Meinungen in Berührung bringt, die mich irgendwie irritieren ohne zu verstören. So kriegt man einen Input, der einen auch am Leben hält."
Während das Wesen der Freundschaft Forscher seit Jahrhunderten in ihren Bann zieht, bestimmen heute neue Fragen den wissenschaftlichen Diskurs: Thema der Stunde ist das soziale Potential von Freundschaften in einer zunehmend individualisierten und alternden Gesellschaft.
Allein in den letzten fünf Jahren sind in Deutschland 580 Bücher zum Thema "Freundschaft" erschienen, dazu 37 Filme, Hörspiele und Hörbücher sowie hunderte wissenschaftliche Aufsätze. Freundschaft, scheint es, ist überall – und in aller Munde. In Zeiten zunehmend instabiler Paar- und Familienbeziehungen, einsamer Alter und einer kulturell und religiös heterogener werdenden Gesellschaft klopfen Journalisten und Forscher Freundschafts-konzepte auf ihren sozialen Wert hin ab: Können Freunde vor Einsamkeit im Alter schützen, können sie beispielsweise da einspringen, wo Kinder, die Pflege ihrer Eltern nicht mehr übernehmen – oder einfach keine Kinder da sind? Können Freunde Familie ersetzen?
Monika Koch beobachtet den stetigen Strom an Frauen und Männern, Jungen und Alten, Familien und Kindern, der sich durch das sonnendurchflutete Erdgeschoss der Berliner Friedrich-Ebert-Stiftung schiebt. Die Frau mit den kurzen, braunen Haaren und dem farbenfrohen Seidentuch vertritt eine von 40 Initiativen für gemeinschaftliches Wohnen, die sich an den "Experimentdays", den "Wohnprojektetagen Berlin" präsentiert. Monika Koch sucht nach neuen Mitstreitern für ihre Wohngruppe "+- 60 - In Freundschaft wohnen".
Gemeinschaft von Gleichgesinnten
"Der Titel hat erst mal mit der Entstehung der Gruppe zu tun, da gab es zwei Frauen, die sich überlegt haben, wie sie im Alter ihr Leben gestalten wollen. Für die beiden war klar, dass sie nicht alleine in einer Zwei- oder Drei-Zimmer-Wohnung sitzen wollten, die waren in dem Augenblick auch nicht mehr in einer Zweierbeziehung. Und die haben sich aufgemacht und haben in ihren sozialen Netzwerken geguckt, wen könnte es interessieren, sich zusammenzutun und miteinander ein Wohnprojekt aufzubauen?"
Aus der Idee zweier Freundinnen ist eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten geworden, die auf der Suche nach einem Mietshaus für rund 15 Parteien bereits Gespräche mit Wohnungsbaugesellschaften führen. Ihre Vorstellung von Freundschaft hat unter dem Begriff der "selbstgewählten Familie" Eingang in die soziologische Forschung gefunden. Die heute 60-jährigen wie Monika Koch gehören einer Generation an, bei der früher geltende Verbindlichkeiten wie "die Ehe für immer" anfingen zu bröckeln.
"Es sind überwiegend Singles in der Gruppe, das heißt, die leben auch nicht so, dass sie jetzt in einer Zweierbeziehung sind. Es gibt einige in der Gruppe, die Kinder haben - die haben sich zum Teil auch entschieden, im Alter nicht mit ihren Kindern zusammen wohnen zu wollen, weil sie denen auch nicht zur Last fallen wollen. Wenn man dann nicht alleine wohnen will, ist es eigentlich das Nächstliegende, mit den Freunden etwas Gemeinsames zu machen."
Monika Kochs Initiative "+-60 - in Freundschaft wohnen" spiegelt einen gesellschaftlichen Trend. Laut Statistischem Bundesamt wohnten im Jahr 2014 in nur 0,5 Prozent der Haushalte Familien mit ihren Großeltern oder Urgroßeltern unter einem Dach. Insgesamt lebt nur eine Minderheit in Deutschland überhaupt in einer Familie, rund 28 Prozent. Dagegen wohnen in fast jedem vierten Haushalt ausschließlich Senioren ab 65 Jahren. Die Suche nach Wohnraum, wo sich Menschen auch jenseits traditioneller Familienverhältnisse zusammen finden können – diese Sehnsucht teilen die allermeisten Besucher. So vermischen sich auf der Wohnbörse Fragen rund ums Wohnen mit einer Prise Gesellschaftsutopie.
"Alternative Wohnungsformen, also wo lebe ich später? Ich muss mir jetzt was überlegen und gucke mich einfach mal um, was es so gibt und entwickle selber erst mal eine Meinung dazu, deswegen bin ich hier."
"Wenn man mehrere Freunde mit einbezieht, dann kann man das wahrscheinlich relativ intensiv ausgestalten und eine Gemeinschaftsküche nutzen, vielleicht gemeinschaftliche Räume für die Kinder und so weiter."
"Es geht ja nicht nur um Wohnen, sondern es geht um öffentliches Wohnen und öffentliches Miteinander-sein und sich selbst gestalten überhaupt. Ohne Einsatz von "das ist Eigentum, betreten verboten!" oder: "die Polizei!", um wirklich mehr Freiraum, mehr Atem-Raum für den Städter und für den Bürger zu schaffen."
Hinter solchen Wünschen sehen Forscher fundamentale Veränderungen des familiären Zusammenlebens. Franz Neyer, Direktor des Instituts für Psychologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, spricht von sogenannten "Bohnenstangen-Familien", bei denen es nur wenige Mitglieder innerhalb der gleichen Generation gibt.
"Wir haben häufig diese Ein-, Zwei-Kind-Familien heute, dadurch gibt es nicht mehr diese Geschwister- und Cousinen- und Cousinschaft, wie man sie in früheren Zeiten hatte. Durch diesen demographischen Wandel wird es vielleicht so sein, dass in Zukunft für ältere Menschen Familienbeziehungen einfach nicht mehr in dieser Form und in dieser Vielfalt zur Verfügung stehen - und da könnte es sein, dass Freundschaften hier eine wichtige Funktion erfüllen. Sie merken, ich spreche im Konjunktiv: Wir wissen es noch nicht genau, aber das wäre zumindest auch meine Hoffnung, dass wir Ansätze dafür finden, solche Beziehungen stärker zu fördern, um auch solche sozialen Potenziale für unser höheres Lebensalter nutzen zu können."
Seit über 20 Jahren erforscht Franz Neyer den Zusammenhang von Freundschaft und Lebensqualität. Die sozialen Potenziale sind enorm. Seine Untersuchungen zeigen: Menschen mit intakten Freundschaften sind weniger gestresst und haben ein größeres Selbstwertgefühl. "Verwandte sind die Familie, in die du hineingeboren wirst. Freunde sind die Familie, die du dir aussuchst" – diese geflügelten Worte kommen laut Franz Neyer der Wirklichkeit sehr nahe. Seine Forschungsergebnisse sprechen sogar dafür, dass Freundschaften zerrüttete Familienbeziehungen ausgleichen können.
"Wir können nicht unbedingt kausal Aussagen machen, aber es zeigte sich, dass junge Menschen, die weniger Familienbeziehungen haben als andere, mehr dazu tendieren, mehr Freundschaften zu pflegen. Dies setzt sich auch fort auf der qualitativen Ebene. Das bedeutet: Wenn die Familienbeziehungen nicht so gut sind oder eher negativ erlebt werden, kann das ausgeglichen werden durch besonders gute und intensive Freundschaften. Das wiederum wirkt sich positiv auf die Lebensqualität aus, wenn man so etwas ersetzen kann."
Dass Freundschaften aber das Allheilmittel gegen Einsamkeit im Alter sind, gegen Überalterung oder diese Alterslast, so wird das ja auch bezeichnet, das halt ich für verkürzt. So funktionieren Freundschaften nicht.
Julia Hahmann ist Soziologin an der Universität Vechta, ihr Forschungsbereich heißt "Wahlverwandtschaften". Nach Meinung der 34jährigen werden im aktuellen Diskurs zwei Probleme übersehen. Erstens: Pflege unter Freunden, funktioniert im hohen Alter nicht.
"Die meisten Leute wollen nicht im Altersheim altern, die wollen in der eigenen Wohnung altern! Was mich daran ärgert ist, dass das nicht zu Ende gedacht wird: Da wird eben gesagt, ach guck doch mal, so eine Alten-WG - das ist doch was total Schönes! Aber die Frage, die im privaten Altern – also im Altern als Einzelperson – relevant ist, nämlich: wer ist denn nachher da, wenn es nachher doch an körpernahe Pflege geht? Wer ist denn dann dafür verantwortlich? Was passiert eigentlich, wenn so eine Alters-WG zusammen altert und auf einmal sind alle gleichzeitig krank und alt, und brauchten irgendwen? Die werden da ja einfach ausgespart."
Und zweitens: Werden Freundschaften mit Pflege-Erwartungen belastet, können sie zerbrechen.
Freundschaften als Gefahr für den Staat?
"Wenn ich jetzt Freundschaften in ein Umfeld packe, wo sie genau das erfüllen sollen – alltägliche Unterstützungsleistung – dann wird auch noch diese, diese letzte Beziehungsform, die so frei ist von Kosten-Nutzen-Kalkulatorischen Denken ausgehöhlt und ich finde – das ist eine normative Setzung, die ich hier mache – ich finde das nicht richtig, dass Freundschaften so behandelt und betrachtet werden! Und wenn das Individuum jetzt dafür verantwortlich ist, Freundschaften zu haben und diese Freundschaften so zu haben, dass die Familie ersetzen kann, dann hat das ein Potential Individuen zu belasten und zu überfordern, aber auch Freundschaften zu zerstören."
"That's what friends are for ..."
Wer sind wir, wenn wir Freunde sind? Was bedeutet es heute, eines anderen Freund oder Freundin zu sein? Und wie beeinflussen Nützlichkeitserwägungen unsere Beziehungsformen? In der griechischen Klassik stand Freundschaft einst höher als Liebe. Erst mit dem Erstarken des Christentums – und seiner Botschaft von der bedingungslosen Liebe Gottes – beginnt die Verdrängung der Freundschaft, steigt die Liebe zum gesellschaftlichen Ideal auf. Eine Entwicklung, die ab den 11. Jahrhundert durch die allmähliche Emanzipation der Frau befördert und durch die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft und dem Einfluss der Romantik verstärkt wird: Die Ehe - jahrhundertelang vor allem als Handel begriffen – wird zum Liebesbündnis, der erstrebenswertesten Beziehungsform überhaupt. Aber ist dieses Konzept heute noch zeitgemäß? Der Philosoph Daniel Tyradellis hält dagegen:
"All diese Bindungstheorien, die es gibt, die gehen immer davon aus, man kommt auf die Welt und dann hat man seine primären Bindung - das ist normalerweise die Mutter, und dann leidet man den Rest seines Lebens daran, dass es dieses symbiotische Beziehung in dieser Form womöglich nicht mehr geben wird. Das stimmt aber gar nicht, würde ich sagen. Sondern eigentlich will man nur so schnell wie möglich weg! Natürlich möchte ich diese elementare Bindung, ich möchte aber genauso sehr eigene Bindungen aufbauen, die ganz anders begründet sind, auf Unverbindlichkeit und Offenheit basieren. Und deshalb hab ich inzwischen eher das Bild, dass, wenn man aus Mutterleib heraus ploppt, man sozusagen sofort seinen Rucksack schultert und sagt: So, ich geh jetzt mal Freunde suchen!"
Dass es die Liebesbeziehung in unseren Tagen überhaupt zu so einem hohen Stellenwert gebracht hat, hat jedoch nicht nur mit der Romantik und dem Zeitalter der Empfindlichkeit zu tun, sondern auch mit sozialpolitischen Erwägungen. Einen besonders starken Einfluss auf diese Entwicklung hatte um 1820 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, seinerzeit gehandelt als "preußischer Staatsphilosoph".
"Der hat also wesentlich dabei mitgearbeitet die Verfassung zu schreiben, wenn man so sagen will. Und Hegel sah, dass Freundesgruppierungen eine tatsächliche soziale Kraft darstellen können. Nimm 5,6,7,8 Befreundete, die eine gemeinsame Idee haben, die sich organisieren, daraus entsteht schon eine Kraft, die politisch gefährlich sein kann, die also tatsächlich Machtstrukturen unterwandern kann."
"Es ist unmöglich, 800 oder 8000 Freunde zu haben"
Hegel erkannte:
"Dass das ein Risiko für den Staat darstellt, wenn Freundschaft so im Mittelpunkt steht. Und deshalb hat Hegel sehr bewusst umprogrammiert und hat gesagt, wir stellen im Mittelpunkt der Verfassung die Kernfamilie und die Ehe und die Liebe, so dass die Leute als Ziel ihres sozialen Seins die Paarbeziehung sehen. Das hat ja auch super geklappt! Wenn wir so durchs Leben gehen und sagen: irgendwie reicht mein Leben nicht, irgendwie bin ich unglücklich, dann stopft man immer alles Liebe rein. Ja, wenn ich den Richtigen finde, dann wird alles wieder gut. Und in Liebesbeziehung ist es dann so, dass die Leute sich dann so in Zweier-Päckchen zerfleischen, sie werden politisch völlig unwirksam, weil man all seine Energien dann immer auf die Frage, liebe ich ihn genug, zu wenig, usw. investiert und damit als politische Größe nicht mehr gefährlich ist."
Den Wettlauf zwischen Liebe und Freundschaft hat die Liebe historisch gewonnen – vorerst jedenfalls. Denn im Jahr 2004 sollte die Gründung eines sozialen Netzwerks dem Freundschaftsbegriff eine kometenhafte Wiederauferstehung bescheren. Durch die Erfindung von Facebook wurde das Konzept Freundschaft an die Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts angepasst. Doch sind Online-Freunde wirklich "echte Freunde"? Der Psychologe Franz Neyer ist skeptisch.
"Dieser Freundschaftsbegriff wird ein bisschen verwässert durch die Social Networks. Es ist wohl unmöglich, 800 oder 8000 Freunde zu haben, selbst wenn man so viele Kontakte auf Facebook unterhält. Die guten Freunde - und das zeigen Studien insbesondere über Jugendliche und junge Erwachsene - sind auch die, die man im wirklichen Leben face-to-face trifft."
Sind also Online-Freundschaften grundsätzlich weniger wert? Der Soziologe Felix Elwert sieht das anders: 15 Jahre lang hat er in den Vereinigten Staaten studiert und gelehrt, nun ist er zurück in Deutschland – und leitet seit September 2015 die Abteilung "Ungleichheit und Sozialpolitik" am Wissenschaftszentrum Berlin. Durch seine Arbeit auf zwei Kontinenten zieht er die Grenze zwischen Online- und Offline-Freundschaften weniger streng.
"Wenn ich einen Freund, meinen besten Freund, nur alle sechs Monate sehe oder ich habe einen Freund, den sehe ich nie persönlich, aber interagiere mit dem über E-Mail und Facebook jeden zweiten Tag - dann bin ich nicht bereit zu sagen: Der eine ist ein 'echter Freund' und der andere ist es nicht."
Soziale Netzwerke haben Freundschaften räumlich und zeitlich entgrenzt, Nähe und Distanz werden nicht länger über die physische Begegnung allein vermittelt. Doch ist das wirklich eine neue Erfahrung in unserem digitalen Zeitalter? Daniel Tyradellis.
"Historisch betrachtet, seit Erfindung des Briefverkehrs waren Freundschaften die meiste Zeit über Distanz-Freundschaften. Es gibt Tausende von Freundschaften von Menschen, die sich nie persönlich in ihrem Leben getroffen haben, deren Freundschaft nur im Briefaustausch bestand, und gerade darin eine Nähe und Intensität gefunden haben, die sie in keiner anderen sozialen Beziehung gefunden haben. Dafür gibt es zahlreiche Zeugnisse. Insofern muss man da sehr vorsichtig sein, wenn man atavistisch auf die real-life-Begegnung setzt, und damit jede Virtualität und digitale Situation zu verdammen können meint."
Für Daniel Tyradellis ist der aktuelle Diskurs – online versus real-life-Freundschaften – denn auch nur Nebenschauplatz einer viel interessanteren Auseinandersetzung: Der Frage nach der politischen Sprengkraft einer Gemeinschaft von Freunden einerseits und ihrer Vereinnahmung als nützlicher Gesellschaftskitt:
"Da wird quasi jetzt suggeriert: Guckt mal ihr wollt jetzt nicht allein im Altenheim enden, na bitte: das sind eure Alternativen, kümmert euch mal drum, macht mal was und das - so ist mein Eindruck - wird politisch schon sehr stark gepuscht, gefördert: Da gibt es Kongresse zu da gibt es Ideen zu, da gibt es einen riesen Markt zu, das muss man ja auch sehen: da steckt ja auch wahnsinnig viel Geld dahinter und Forschungsinteresse, das sich daraus entwickelt."
Seit sieben Jahren untersucht die Soziologin Julia Hahmann die gesellschaftliche Bedeutung von Freundschaftskonzepten – auch ihre Doktorarbeit widmete sie diesem Thema. Für sie ist klar:
"Wenn die Politik 'Freundschaft' jetzt so weiter denkt: Also, Freundschaft wird immer wichtiger, das Individuum wird immer mehr dafür verantwortlich, im Alter nicht allein zu sein, sondern in irgendeiner Form von Kollektiv zu sein. Das würde bedeuten, ich fange an meine Freundschaften strategisch so aufzubauen, dass diese Person mir ja dann auch hilft. Vielleicht fang ich also an, mit Mitte 40 nur noch Freunde und Freundinnen zu suchen, die jünger sind als ich, und irgendwie gesünder, die können mich dann tragen. Dann müsste ich anfangen in Freundschaften auf eine Art und Weise zu investieren, dass sie sich dann nachher auszahlen und diese Leistungen vollbringen können – ich finde das nicht so eine schöne Idee."
Wenn schon, sagt Julia Hahmann, dann müssten Freundschaften auch gesellschaftlich aufgewertet, Ehe und eingetragener Partnerschaft gleichgestellt werden.
"Freundschaft darf sich jetzt nicht auch noch dieser Verwertungslogik unterwerfen wie andere Beziehungsformen, die darf eben nicht dafür verwendet werden, und wenn sie dafür verwendet wird, dann aber bitte auch mit den Vorzügen und Protegierungs-Mechanismen, die zum Beispiel die Ehe hat. Also entweder wir lassen Freundschaft als freie, wirklich auf Sympathie, auf Interesse an der Person gerichtete Beziehungsform frei existieren, dann hat sie aber auch keine Verpflichtung. Oder wir institutionalisieren sie, dann hat sie Verpflichtung, aber dann braucht sie auch Unterstützung, dann braucht sich auch Schutz."
"Freundschaft, das ist eine Seele in zwei Körpern", schrieb Aristoteles um 300 vor Christus schwärmerisch. Wird Freundschaft heute, knapp 2000 Jahre später, zur Bürgerpflicht? Werden wir in Freunde investieren wie in die Rentenkasse? Vielleicht lohnt an dieser Stelle ein Perspektivwechsel. Der griechisch-amerikanische Soziologe Nicholas Christakis vom "Yale Institute for Network Science" erforscht seit Mitte der 1990er Jahre die Netzwerke von Freunden anhand riesiger Datenmengen, unter anderem von Facebook. Felix Elwert vom Berliner Wissenschaftszentrum hat in den USA mit Nicholas Christakis zusammen gearbeitet und berichtet von einer grundlegenden Erkenntnis: Unser persönliches Verhalten hängt vom Verhalten unserer Freunde ab.
"Wir sind unser gesamtes soziales Umfeld"
"Bei Kindern ist völlig klar, die ahmen einander nach und machen alle den gleichen Quatsch - und bei Erwachsenen und Kindern hoffen wir ja auch inständig, dass sie sich gegenseitig beeinflussen. Wir wollen zum Beispiel, dass Lehrer Kinder beeinflussen, wir wollen auch, dass Kinder auf Eltern hören oder sie im positiven Sinne nachahmen und ihre Fehler vermeiden. Aber wenn es um die Übertragung von Verhalten zwischen Erwachsenen geht, dann hängen wir so daran, dass wir autonome Akteure sind, da denke ich: Nein. Da müssen wir uns wirklich ein bisschen locker machen und feststellen, dass vielleicht in uns auch Kinder stecken. Auch als Erwachsener ahmen wir andere Menschen nach, wir lernen von anderen Menschen, wir passen uns an, im Positiven wie im Negativen."
Als die Forscher nachweisen konnten, dass selbst unser Aussehen über soziale Netzwerke übertragen werden kann – dass etwa Speckröllchen eines Menschen die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass auch seine Freunde an Gewicht zulegen – da bekam das Team sogar Morddrohungen. Aktivistenverbände warfen den Forschern vor, Stimmung gegen Übergewichtige zu machen. Trotzdem: Die Ausbreitung bestimmter Verhaltensweisen, so Felix Ewert, verläuft über Freundschaftsnetzwerke. Egal, ob es sich um den Body Mass Index oder politische Wahlen handelt.
"Wenn jemand auf Facebook sieht, dass ein Facebook-Freund gewählt hat, dann geht die eigene Wahrscheinlichkeit zu wählen um 0,3 Prozent hoch. Das ist Pippifax, das ist ein ganz kleiner Effekt, aber Sie müssen das auf 61 Millionen Mitglieder von Facebook in Amerika potenzieren. Jetzt kommt noch dazu: Die eigene Wahlwahrscheinlichkeit erhöht sich nicht nur, wenn man sieht, dass die eigenen Freunde gewählt haben. Es gibt da richtige Wahl-Kaskaden, die sich durch das Netzwerk ausbreiten: Wenn John gewählt hat, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass sein Freund Tim gewählt hat - und deswegen erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass dessen Freundin Grit gewählt hat und so weiter. Das kann man bis ins vierte Glied nachverfolgen."
Was sich heute anhand von massenhaft verfügbaren Daten visualisieren lässt, gilt dabei für alle Netzwerke, seien sie online oder offline: Unser Verhalten hängt vom Verhalten derer ab, mit denen wir verbunden sind. "Sind" wir also unsere Freunde?
"Wir sind nicht nur unsere Freunde, wir sind unser gesamtes soziales Umfeld, weil uns unser Umfeld beeinflusst. Das kann man jetzt überspitzen oder man kann es sein lassen. Für mich als Soziologen stellt sich die Frage eigentlich gar nicht, wo ist das 'wahre Ich' und wo hört das "wahre Ich" auf, denn insofern mich meine Freunde beeinflussen, 'bin' ich meine Freunde."
In der Monster Ronson's Karaoke-Bar in Berlin hat sich die Sitzordnung verändert: Caileen, Mara und Dennis schmettern alte Lieder mit neuen Mitstreitern. Haben sie sich bewusst neue Karaoke-Freunde gesucht oder hat sich die Veränderung "ergeben"? Hat sie ein komplexes Zusammenspiel aus musikalischen Vorlieben, frei gewordenen Sitzplätzen und einer Prise Zufall zusammengeführt - oder sind sie selbst dafür verantwortlich, mit wem sie schwitzend die Kabine teilen und Spaß haben? Vielleicht unterschätzen wir die Macht der Freundschaft, die sich immer wieder neue Bahnen sucht und findet. Für Felix Elwert steht fest: Niemand ist eine Insel, Menschen werden immer in Netzwerken leben. Auch wenn wir heute noch nicht wissen, wie die Freundschaftsnetzwerke von morgen aussehen werden.
"Das Schöne an Gesellschaft ist, dass sie so unglaublich anpassungsfähig ist. Wer hätte Anfang der Neunzigerjahre gedacht, dass wir so viel Zeit mit Freunden nur am Computer verbringen werden? Facebook war Anfang der Neunzigerjahre für die meisten Leute undenkbar. Also das ist ein Bereich, wo sich soziale Netzwerke verändert haben, in dem eine neue Sorte Netzwerk dazu gekommen ist."
"You got a friend"