Freundschaft unter Literaten
Der Schriftsteller Uwe Timm hat den vor 40 Jahren erschossenen Studenten Benno Ohnesorg als großes künstlerisches Talent beschrieben. "Das war jemand, der schreiben wollte, und, wie ich glaube, wirklich einer der großen Lyriker hätte werden können, wenn eben diese Katastrophe da nicht passiert wäre", sagte Timm, der mit Ohnesorg befreundet war.
Liane von Billerbeck: Wer Benno Ohnesorg war, darüber kann heute vielleicht niemand besser sprechen als der Schriftsteller Uwe Timm, der mit Benno Ohnesorg befreundet war und vor anderthalb Jahren über diese Freundschaft ein Buch veröffentlicht hat, Titel: "Der Freund und der Fremde". Mein Kollege Jürgen König hat mit Uwe Timm gesprochen und ihn gefragt, wo er damals war am Todestag von Benno Ohnesorg.
Uwe Timm: Ich habe damals in Paris studiert und saß da an meiner Dissertation und habe das im Radio gehört, im französischen Radio, das muss einen Tag nach der Demonstration, vermute ich, gewesen sein, und hörte dort, dass ein Student erschossen worden sei und auch einen Namen, also den ich nicht richtig verstanden habe. Ich rief zu Hause an in Deutschland und hörte, dass der tote Student Benno Ohnesorg sei.
Jürgen König: Was haben Sie empfunden, gedacht?
Timm: Wie immer, wenn man so aus weiter Ferne und plötzlich eine Nachricht über den Tod eines Menschen bekommt, den man mochte und mit dem man - zwei Jahre habe ich zusammen mit ihm das Abitur am Braunschweig-Kolleg nachgeholt -, ist das natürlich erst mal so ein ganz abstrakter Schock, und das hat sich dann erst richtig so verankert, als ich die ersten Fotos, vor allen Dingen dieses berühmte Foto, das ja wirklich zu einer Ikone wurde, sah, als er da auf dem Boden liegt mit dieser jungen Frau in der Blutlache, die ihm den Kopf hält. Das ist ja so ein Bild wie eine Pieta. Da wurde das dann auch irgendwie so verständlich und immer verständlicher.
König: Wie hatten Sie Benno Ohnesorg kennengelernt?
Timm: Wir beide haben das Abitur an einer Schule, an einem Kolleg nachgeholt. Er war Dekorateur, ich war Kürschner geworden. Das hieß Braunschweig-Kolleg, und man hatte die Möglichkeit, in zwei Jahren damals im ganztägigen Unterricht das Abitur nachzumachen. Und da waren wir zusammen in einer Klasse. Und ich habe ihn sehr bald - also nach wenigen Tagen, vielleicht zwei, drei Wochen -, habe ich entdeckt, dass er an Literatur interessiert war, ich auch. Und eines Tages habe ich ihn gesehen, als er unten an der Oker, an diesem Fluss, der da an dem Kolleg vorbei floss, saß und etwas schrieb, und ich fragte: Was machst du da? Und er sagte: Ich schreibe. Und ich fragte: Was schreibst du? Und er sagte: Ich schreibe für mich. Das ist die Antwort sozusagen. Wenn man für sich schreibt, ist es natürlich immer so ein literarischer Anspruch auch. Und das tat ich auch, und so haben wir uns kennengelernt und haben gemeinsam gelesen, diskutiert und das Gelesene oder Geschriebene dann auch ausgetauscht.
König: Sie zitieren in Ihrem Buch aus einem Bewerbungsschreiben Benno Ohnesorgs an den Direktor dieses Schulkollegs in Braunschweig, Zitat: "Was mich an meiner Fahrt lockte, wurde gefördert von einem wachsenden Unbehagen, das ich zu Hause verspürte. Trotz langer Arbeitszeit besuchte ich fast übertrieben oft Theater, Konzerte, Vorträge, wusste aber nicht, worüber ich mich mit meinen Eltern unterhalten sollte. Ich sah keine Möglichkeit und fand mich auch nicht in der Lage, dieses Aneinander-vorbei-Leben durch Rede und Gegenrede zu überbrücken. Das Gespräch, die Grundbeziehung zum Mitmenschen existierte nicht. So zog ich aus, ein Mensch zu werden." Zitat Ende. Ein wunderbarer Brief, geschrieben 1960, ein Schwärmer spricht da, dachte ich, ein Idealist, als hätte ein Nachfahre Schillers sich zu Wort gemeldet. Was war Benno Ohnesorg für ein Mensch?
Timm: Ja, ich meine, das sehen Sie ganz richtig. Er war in der Zeit, als er den Brief schrieb, 19 Jahre alt, und ich finde den Brief ganz erstaunlich, wenn man den liest, mit welchem Elan, mit welcher Begeisterung, auch mit welchem Idealismus er an Bildung herangegangen ist. Er hat ja auch so eine Neugierde, die nicht nur irgendwie auf Karriere ausgerichtet ist, sondern etwas sucht, was so in sich selbst nur auch zu beantworten ist. Er war ein sehr ruhiger, eher introvertierter Mensch, der wirklich sehr belesen war, der gut Französisch konnte, gut Englisch konnte, ein Jahr in Frankreich sich aufgehalten hat, um dort sein Französisch zu verbessern, und auch gemalt hat in der Zeit und eben auch geschrieben hat. Das war jemand, der schreiben wollte, und, wie ich glaube, wirklich einer der großen Lyriker hätte werden können, wenn eben diese Katastrophe da nicht passiert wäre.
König: Sie haben für Ihr Buch diese Lebensjahre Ohnesorgs, also von '63 bis '67, intensiv recherchiert, ohne - so hat man beim Lesen den Eindruck - ohne dass Sie wirklich ein klares Bild sich hätten machen können. Was wissen Sie über diesen Weg Benno Ohnesorgs von 1962/63 bis in die Anti-Schah-Demonstration des Jahres '67?
Timm: Ja, sehen Sie, das war das Überraschende für mich, dass er im Zusammenhang einer politischen Demonstration erschossen worden war, weil er ein wirklich unpolitischer Mensch war, so wie ich ihn kannte. Er musste sich also in der Zwischenzeit auch doch so politisiert haben, dass er zu dieser Anti-Schah-Demonstration gegangen war. Und das Interessante für mich war, dass er durch ein Buch dorthin gegangen ist, und zwar von Nirumand, "Persien. Modell eines Entwicklungslandes", also das damals viele gelesen haben, ich auch in Paris, also ein ganz wichtiges Buch, was diesen Zusammenhang zwischen der Armut der Dritten Welt mit dem Reichtum der Ersten Welt verständlich macht. Das ist unter anderem der Grund gewesen, dass er hingegangen ist und demonstriert hat.
König: Sein Tod und die Versuche der Polizei, die Tat dann zu vertuschen, trugen zur Radikalisierung der Studentenbewegung bei, eine Terrorgruppe benannte sich später nach seinem Todestag. Taugt Benno Ohnesorg zur Symbolfigur, und wenn ja, was symbolisiert er?
Timm: Sicherlich nicht zu dieser Gruppe "2. Juni", das ist wirklich völlig absurd. Er ist ein Beispiel dafür gewesen, für diese Situation in dem Staat, in dem ja immer noch sehr autoritäre Strukturen herrschten, das waren ja immer noch sehr viele Personen in Ämtern, die Nazis waren, als Richter, als Militärs, also in allen Bereichen, an der Universität, unter anderen eben auch der Polizeipräsident, so ein Ritterkreuzträger, der ja diesen denkwürdigen Ausspruch tat "In eine stinkende Leberwurst", der Vergleich zu den Demonstranten, "muss man in der Mitte hineinstechen und sie dann zu den Enden hin ausdrücken". Und das Ergebnis war eine Prügelorgie und ein Toter, der dort von einem Zivilfahnder einfach ohne Grund erschossen worden ist.
König: Man stelle sich solche Aussprüche und solche Szenen heute vor.
Timm: Ja, ich denke, das muss man auch sagen. Diese Bundesrepublik hat sich auch dadurch verändert. Das ist ein Schub gewesen, der damit ausgelöst wurde, durch diese Proteste, durch die Studentenbewegung, durch die APO, die dahin führte, dass auch die Institutionen sich demokratisiert haben und die Leute auch befragt wurden, wo sie eigentlich früher einmal standen, die dann plötzlich in irgendwelchen Ämtern immer noch als Richter ihren Dienst taten oder als Universitätsprofessor. Insofern hat der Staat auch eine Veränderung dadurch erlebt.
König: Wie, Uwe Timm, würden Sie die Generation, die diese Zeit, die 60er Jahre hervorgebracht hat, wie würden Sie die charakterisieren?
Timm: Ich denke, das ist ein Umbruch gewesen von einer doch noch sehr merkwürdigen piefigen, miefigen Situation, in der wir damals zunächst noch lebten. Man muss sich nur vorstellen, was da alles noch verboten war im erotischen, im sexuellen Bereich, also wie Schwule diffamiert wurden, dass Mädchen aus den Studentenheimen, wenn sie auf Besuch waren in den Männerheimen, um zehn Uhr raus mussten, umgekehrt genauso. Also es war eine ziemlich rigide, miefige Situation. Das hat sich geändert. Ich denke, die Generation hat damals, die wird ja auch als antiautoritäre beschrieben, die hat viele Dinge infrage gestellt, die selbstverständlich autoritär durchgesetzt wurden bis dahin. Und das ist nicht zufällig, dass so ein zentraler Begriff wie Hinterfragen eine große Rolle spielte und viele Professoren völlig fassungslos machte. Wenn man die fragte nach ihrer Methode, also das Hinterfragen, es wurde eine kritische Generation, eine Generation, die sehr viel Theorie las, mit Inbrunst geradezu Theorie las, und denke ich mal auch eine, die sich fragte, wie kann man eine Gesellschaft verändern, die ja permanent auch Unrecht und Armut auch produzierte?
König: Inzwischen steht ja das Antiautoritäre nicht mehr so hoch im Kurs, man wünscht sich wieder mehr Führung, mehr Organisation, Straffheit. Was glauben Sie, wo sind die Entwürfe der 68er auch gescheitert?
Timm: Die sind vor allen Dingen da gescheitert, als es darum ging, jetzt eine andere Gesellschaft aufzubauen und darauf hinzuwirken. Da waren die Modelle sehr rigide, die wurde entlehnt aus den Vorbildern des Sozialismus in der DDR oder China oder gar Albanien. Das sind natürlich merkwürdige und skurrile Seitenwege gewesen, die gar nicht auf die Bedürfnisse der Bevölkerung eingingen. Sie ist auch da gescheitert, wo es Entwicklung hin zur direkten Gewaltanwendung gab. Das ist einer der Fehler gewesen, dass die Bedürfnisse der Bevölkerung, wie Marx das schreibt, nicht richtig berücksichtigt wurden, sondern man hat sie ihnen sozusagen aufoktroyieren wollen und dann über den allein richtigen Weg dahin diskutiert. Und da ist dann wirklich die Sackgasse auch gewesen. Umgekehrt muss man aber sagen, es ist ja sehr viel verändert worden innerhalb der Pädagogik, der Psychiatrie, der Mitbestimmungsmodelle, die damals entwickelt wurden und immer noch weiter reichen.
König: Beenden wir doch unser Gespräch wieder mit Benno Ohnesorg. Uwe Timm, Sie haben viele, viele Jahre nach dem Tod Benno Ohnesorgs dessen Sohn Lukas besucht, der seinen Vater, wenn ich das richtig gelesen habe, gar nicht mehr kennengelernt hat. Wie geht es ihm, und haben Sie immer noch Kontakt zu ihm?
Timm: Ja, dieser Lukas Ohnesorg, der hat seinen Vater nie gesehen, der ist nach dem Tod geboren worden, und ich war ganz überrascht, als ich den traf. Das ist ein sehr nachdenklicher, sehr sensibler, sehr angenehmer Junge. Das Besondere war auch, dass er in seinen Gesten und auch so in seiner Sprechart in einer ganz erstaunlichen Weise dem Benno Ohnesorg ähnelte. Das kann nicht Mimesis sein, weil man weiß: Er hat ihn ja nie gesehen. Ich denke mal, das ist für diesen Jungen wirklich nicht einfach gewesen, mit diesem nie anwesenden Vater immer wieder konfrontiert worden zu sein.
König: Der eine Ikone geworden ist.
Timm: Zu dem er natürlich auch nie ein Verhältnis haben konnte, weder im Guten, noch im Negativen. Es gehört ja auch dazu, dass man sich streitet, sich aneinander abarbeiten kann in einer Vater-Sohn-Beziehung. Also ich war ganz beeindruckt von diesem Jungen, mag den sehr. Hin und wieder sehe ich ihn, er lebt aber sehr zurückgezogen in Hannover.
Uwe Timm: Ich habe damals in Paris studiert und saß da an meiner Dissertation und habe das im Radio gehört, im französischen Radio, das muss einen Tag nach der Demonstration, vermute ich, gewesen sein, und hörte dort, dass ein Student erschossen worden sei und auch einen Namen, also den ich nicht richtig verstanden habe. Ich rief zu Hause an in Deutschland und hörte, dass der tote Student Benno Ohnesorg sei.
Jürgen König: Was haben Sie empfunden, gedacht?
Timm: Wie immer, wenn man so aus weiter Ferne und plötzlich eine Nachricht über den Tod eines Menschen bekommt, den man mochte und mit dem man - zwei Jahre habe ich zusammen mit ihm das Abitur am Braunschweig-Kolleg nachgeholt -, ist das natürlich erst mal so ein ganz abstrakter Schock, und das hat sich dann erst richtig so verankert, als ich die ersten Fotos, vor allen Dingen dieses berühmte Foto, das ja wirklich zu einer Ikone wurde, sah, als er da auf dem Boden liegt mit dieser jungen Frau in der Blutlache, die ihm den Kopf hält. Das ist ja so ein Bild wie eine Pieta. Da wurde das dann auch irgendwie so verständlich und immer verständlicher.
König: Wie hatten Sie Benno Ohnesorg kennengelernt?
Timm: Wir beide haben das Abitur an einer Schule, an einem Kolleg nachgeholt. Er war Dekorateur, ich war Kürschner geworden. Das hieß Braunschweig-Kolleg, und man hatte die Möglichkeit, in zwei Jahren damals im ganztägigen Unterricht das Abitur nachzumachen. Und da waren wir zusammen in einer Klasse. Und ich habe ihn sehr bald - also nach wenigen Tagen, vielleicht zwei, drei Wochen -, habe ich entdeckt, dass er an Literatur interessiert war, ich auch. Und eines Tages habe ich ihn gesehen, als er unten an der Oker, an diesem Fluss, der da an dem Kolleg vorbei floss, saß und etwas schrieb, und ich fragte: Was machst du da? Und er sagte: Ich schreibe. Und ich fragte: Was schreibst du? Und er sagte: Ich schreibe für mich. Das ist die Antwort sozusagen. Wenn man für sich schreibt, ist es natürlich immer so ein literarischer Anspruch auch. Und das tat ich auch, und so haben wir uns kennengelernt und haben gemeinsam gelesen, diskutiert und das Gelesene oder Geschriebene dann auch ausgetauscht.
König: Sie zitieren in Ihrem Buch aus einem Bewerbungsschreiben Benno Ohnesorgs an den Direktor dieses Schulkollegs in Braunschweig, Zitat: "Was mich an meiner Fahrt lockte, wurde gefördert von einem wachsenden Unbehagen, das ich zu Hause verspürte. Trotz langer Arbeitszeit besuchte ich fast übertrieben oft Theater, Konzerte, Vorträge, wusste aber nicht, worüber ich mich mit meinen Eltern unterhalten sollte. Ich sah keine Möglichkeit und fand mich auch nicht in der Lage, dieses Aneinander-vorbei-Leben durch Rede und Gegenrede zu überbrücken. Das Gespräch, die Grundbeziehung zum Mitmenschen existierte nicht. So zog ich aus, ein Mensch zu werden." Zitat Ende. Ein wunderbarer Brief, geschrieben 1960, ein Schwärmer spricht da, dachte ich, ein Idealist, als hätte ein Nachfahre Schillers sich zu Wort gemeldet. Was war Benno Ohnesorg für ein Mensch?
Timm: Ja, ich meine, das sehen Sie ganz richtig. Er war in der Zeit, als er den Brief schrieb, 19 Jahre alt, und ich finde den Brief ganz erstaunlich, wenn man den liest, mit welchem Elan, mit welcher Begeisterung, auch mit welchem Idealismus er an Bildung herangegangen ist. Er hat ja auch so eine Neugierde, die nicht nur irgendwie auf Karriere ausgerichtet ist, sondern etwas sucht, was so in sich selbst nur auch zu beantworten ist. Er war ein sehr ruhiger, eher introvertierter Mensch, der wirklich sehr belesen war, der gut Französisch konnte, gut Englisch konnte, ein Jahr in Frankreich sich aufgehalten hat, um dort sein Französisch zu verbessern, und auch gemalt hat in der Zeit und eben auch geschrieben hat. Das war jemand, der schreiben wollte, und, wie ich glaube, wirklich einer der großen Lyriker hätte werden können, wenn eben diese Katastrophe da nicht passiert wäre.
König: Sie haben für Ihr Buch diese Lebensjahre Ohnesorgs, also von '63 bis '67, intensiv recherchiert, ohne - so hat man beim Lesen den Eindruck - ohne dass Sie wirklich ein klares Bild sich hätten machen können. Was wissen Sie über diesen Weg Benno Ohnesorgs von 1962/63 bis in die Anti-Schah-Demonstration des Jahres '67?
Timm: Ja, sehen Sie, das war das Überraschende für mich, dass er im Zusammenhang einer politischen Demonstration erschossen worden war, weil er ein wirklich unpolitischer Mensch war, so wie ich ihn kannte. Er musste sich also in der Zwischenzeit auch doch so politisiert haben, dass er zu dieser Anti-Schah-Demonstration gegangen war. Und das Interessante für mich war, dass er durch ein Buch dorthin gegangen ist, und zwar von Nirumand, "Persien. Modell eines Entwicklungslandes", also das damals viele gelesen haben, ich auch in Paris, also ein ganz wichtiges Buch, was diesen Zusammenhang zwischen der Armut der Dritten Welt mit dem Reichtum der Ersten Welt verständlich macht. Das ist unter anderem der Grund gewesen, dass er hingegangen ist und demonstriert hat.
König: Sein Tod und die Versuche der Polizei, die Tat dann zu vertuschen, trugen zur Radikalisierung der Studentenbewegung bei, eine Terrorgruppe benannte sich später nach seinem Todestag. Taugt Benno Ohnesorg zur Symbolfigur, und wenn ja, was symbolisiert er?
Timm: Sicherlich nicht zu dieser Gruppe "2. Juni", das ist wirklich völlig absurd. Er ist ein Beispiel dafür gewesen, für diese Situation in dem Staat, in dem ja immer noch sehr autoritäre Strukturen herrschten, das waren ja immer noch sehr viele Personen in Ämtern, die Nazis waren, als Richter, als Militärs, also in allen Bereichen, an der Universität, unter anderen eben auch der Polizeipräsident, so ein Ritterkreuzträger, der ja diesen denkwürdigen Ausspruch tat "In eine stinkende Leberwurst", der Vergleich zu den Demonstranten, "muss man in der Mitte hineinstechen und sie dann zu den Enden hin ausdrücken". Und das Ergebnis war eine Prügelorgie und ein Toter, der dort von einem Zivilfahnder einfach ohne Grund erschossen worden ist.
König: Man stelle sich solche Aussprüche und solche Szenen heute vor.
Timm: Ja, ich denke, das muss man auch sagen. Diese Bundesrepublik hat sich auch dadurch verändert. Das ist ein Schub gewesen, der damit ausgelöst wurde, durch diese Proteste, durch die Studentenbewegung, durch die APO, die dahin führte, dass auch die Institutionen sich demokratisiert haben und die Leute auch befragt wurden, wo sie eigentlich früher einmal standen, die dann plötzlich in irgendwelchen Ämtern immer noch als Richter ihren Dienst taten oder als Universitätsprofessor. Insofern hat der Staat auch eine Veränderung dadurch erlebt.
König: Wie, Uwe Timm, würden Sie die Generation, die diese Zeit, die 60er Jahre hervorgebracht hat, wie würden Sie die charakterisieren?
Timm: Ich denke, das ist ein Umbruch gewesen von einer doch noch sehr merkwürdigen piefigen, miefigen Situation, in der wir damals zunächst noch lebten. Man muss sich nur vorstellen, was da alles noch verboten war im erotischen, im sexuellen Bereich, also wie Schwule diffamiert wurden, dass Mädchen aus den Studentenheimen, wenn sie auf Besuch waren in den Männerheimen, um zehn Uhr raus mussten, umgekehrt genauso. Also es war eine ziemlich rigide, miefige Situation. Das hat sich geändert. Ich denke, die Generation hat damals, die wird ja auch als antiautoritäre beschrieben, die hat viele Dinge infrage gestellt, die selbstverständlich autoritär durchgesetzt wurden bis dahin. Und das ist nicht zufällig, dass so ein zentraler Begriff wie Hinterfragen eine große Rolle spielte und viele Professoren völlig fassungslos machte. Wenn man die fragte nach ihrer Methode, also das Hinterfragen, es wurde eine kritische Generation, eine Generation, die sehr viel Theorie las, mit Inbrunst geradezu Theorie las, und denke ich mal auch eine, die sich fragte, wie kann man eine Gesellschaft verändern, die ja permanent auch Unrecht und Armut auch produzierte?
König: Inzwischen steht ja das Antiautoritäre nicht mehr so hoch im Kurs, man wünscht sich wieder mehr Führung, mehr Organisation, Straffheit. Was glauben Sie, wo sind die Entwürfe der 68er auch gescheitert?
Timm: Die sind vor allen Dingen da gescheitert, als es darum ging, jetzt eine andere Gesellschaft aufzubauen und darauf hinzuwirken. Da waren die Modelle sehr rigide, die wurde entlehnt aus den Vorbildern des Sozialismus in der DDR oder China oder gar Albanien. Das sind natürlich merkwürdige und skurrile Seitenwege gewesen, die gar nicht auf die Bedürfnisse der Bevölkerung eingingen. Sie ist auch da gescheitert, wo es Entwicklung hin zur direkten Gewaltanwendung gab. Das ist einer der Fehler gewesen, dass die Bedürfnisse der Bevölkerung, wie Marx das schreibt, nicht richtig berücksichtigt wurden, sondern man hat sie ihnen sozusagen aufoktroyieren wollen und dann über den allein richtigen Weg dahin diskutiert. Und da ist dann wirklich die Sackgasse auch gewesen. Umgekehrt muss man aber sagen, es ist ja sehr viel verändert worden innerhalb der Pädagogik, der Psychiatrie, der Mitbestimmungsmodelle, die damals entwickelt wurden und immer noch weiter reichen.
König: Beenden wir doch unser Gespräch wieder mit Benno Ohnesorg. Uwe Timm, Sie haben viele, viele Jahre nach dem Tod Benno Ohnesorgs dessen Sohn Lukas besucht, der seinen Vater, wenn ich das richtig gelesen habe, gar nicht mehr kennengelernt hat. Wie geht es ihm, und haben Sie immer noch Kontakt zu ihm?
Timm: Ja, dieser Lukas Ohnesorg, der hat seinen Vater nie gesehen, der ist nach dem Tod geboren worden, und ich war ganz überrascht, als ich den traf. Das ist ein sehr nachdenklicher, sehr sensibler, sehr angenehmer Junge. Das Besondere war auch, dass er in seinen Gesten und auch so in seiner Sprechart in einer ganz erstaunlichen Weise dem Benno Ohnesorg ähnelte. Das kann nicht Mimesis sein, weil man weiß: Er hat ihn ja nie gesehen. Ich denke mal, das ist für diesen Jungen wirklich nicht einfach gewesen, mit diesem nie anwesenden Vater immer wieder konfrontiert worden zu sein.
König: Der eine Ikone geworden ist.
Timm: Zu dem er natürlich auch nie ein Verhältnis haben konnte, weder im Guten, noch im Negativen. Es gehört ja auch dazu, dass man sich streitet, sich aneinander abarbeiten kann in einer Vater-Sohn-Beziehung. Also ich war ganz beeindruckt von diesem Jungen, mag den sehr. Hin und wieder sehe ich ihn, er lebt aber sehr zurückgezogen in Hannover.