Reflektierter Pazifismus

Frieden schaffen nur mit Waffen?

Fahne der Ukraine mit Friedenssymbol und Rissen
Wer politisch ernst genommen werden will, wagt kaum, Waffenlieferungen an die Ukraine infrage zu stellen, meint Jörg Phil Friedrich. © picture alliance / CHROMORANGE / Christian Ohde
Ein Plädoyer von Jörg Phil Friedrich |
Wer Zweifel an Waffenlieferungen für die Ukraine äußert, wird derzeit oft übertönt. Doch gerade in Zeiten, in denen die herrschende Moral bedenkenlos wird, müsse man auf jene hören, die moralische Bedenken haben, mahnt Philosoph Jörg Phil Friedrich.
Der Pazifismus hat es derzeit schwer in Deutschland, schwerer als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. Wer politisch ernst genommen werden will, wagt kaum, die Lieferung von Panzern, Geschützen und Gewehren an die Ukraine für ihren Kampf gegen die russische Aggression infrage zu stellen. Wer es dennoch tut, muss darauf gefasst sein, als Putin-Versteherin, als unsolidarisch, im besten Fall als weltfremder Träumer hingestellt und verachtet zu werden. 
Doch die Politik braucht immer auch mahnende, zögernde und zurückhaltende Stimmen, Menschen, die laut zaudern und zweifeln – gerade dann, wenn die große Mehrheit meint, genau zu wissen, was zu tun ist: Wer unterstützt werden muss, welche Kriegsseite stark gemacht werden soll, damit sie den Aggressor zurückschlagen kann.

Minderheitsmeinungen anhören

Demokratische Meinungsbildung funktioniert nämlich nicht so, dass die Mehrheit die Minderheit zum Schweigen bringt. Damit in einer Demokratie der richtige Weg gefunden wird, ist es wichtig, dass gerade die Minderheitsmeinung deutlich vernommen wird. Gerade dann, wenn die Dinge klar und einfach zu sein scheinen, müssen Menschen die Chance bekommen, ihre Stimme zu erheben, die die Dinge nicht so einfach sehen können, die moralische Bedenken haben, wo die herrschende Moral bedenkenlos wird. 
Natürlich muss auch die pazifistische Stimme bereit sein, über die Gründe für ihr Zaudern, für ihre Weigerung, eine Kriegspartei auch materiell zu unterstützen, Rechenschaft zu geben: Der simple Satz, dass Waffen keinen Krieg beenden können, ist längst widerlegt.
Die einfache Ablehnung jeder Gewaltanwendung und jeder Unterstützung von Menschen, die sich gegen Angreifer verteidigen, ignoriert, dass Menschen, die sich nicht wehren, am Ende in der Sklaverei leben müssen oder von mörderischen Diktatoren getötet werden. Auch dafür liefert die Geschichte endlose leidvolle Beispiele.

Bedenken gegenüber Waffenlieferungen

Ein reflektierter Pazifismus wird jedoch zu Recht fragen, woher wir wissen, dass die Waffen, die wir jetzt einer Kriegspartei überlassen, nicht in die falschen Hände geraten. Wie viel Vertrauen haben wir zu denen, die wir militärisch aufrüsten? Werden sie die Waffen schweigen lassen, sobald sie ihr Land befreit haben? Wie loyal sind sie ihrer Regierung und den westlichen Demokratien gegenüber?
Hinzu kommen die Bedenken hinsichtlich der Folgen der Eskalation, die Unsicherheit über die Reaktionen des Aggressors, der seine Siegeschancen schwinden sieht.
Darüber hinaus müssen diejenigen, die jetzt so selbstverständlich denen zur Seite springen, die angegriffen wurden, sich fragen lassen, warum sie das in früheren, weiter entfernten Konflikten nicht getan haben. Warum sie nicht ebenso selbstverständlich denen militärisch helfen wollten, die da überfallen worden sind, wo der Unterschied ist und ob das, was im Falle der Ukraine selbstverständlich zu sein scheint, zukünftig Maxime jeder internationalen Politik werden kann.

Pazifistische Stimmen nicht übertönen

Man mag sagen, dass die Beantwortung solcher Fragen Zeit kostet, dass die Menschen in der Ukraine nicht warten können, bis wir diese Fragen geklärt haben, dass uns solche Fragen nur schwach machen und vom Handeln abhalten. Man mag auch meinen, dass es jetzt aufs Handeln ankommt und dass wir nachdenken und diskutieren können, wenn der Aggressor geschlagen ist, der jetzt ukrainische Städte bombardiert.
Aber wir müssen diese Fragen zulassen. Wir müssen uns wenigstens eingestehen, dass es viele wichtige Fragen gibt, auf die wir keine Antwort haben. Jetzt die mahnenden pazifistischen Stimmen mit lauten Solidaritätsbekundungen und Rufen nach schnellem entschlossenen Handeln zu übertönen – das ist vielleicht auch der Versuch, die eigenen Zweifel daran zum Schweigen zu bringen, dass das, was wir heute so eindeutig für dringend notwendig halten, am Ende doch nicht das Richtige gewesen sein könnte.

Jörg Phil Friedrich (geb. 1965) ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie. Er ist Mitbegründer des Softwarehauses INDAL in Münster und lebt bis heute von der Softwareentwicklung und vom Schreiben philosophischer Texte. Zuletzt erschien sein Buch „Ist Wissenschaft, was Wissen schafft?“ (Alber 2019).

Porträtaufnahme von Jörg Phil Friedrich.
© Heike Rost
Mehr zum Thema