Singen gegen das Trennende
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Jerusalem, verehrt und umkämpft – an einem solchen Ort einen Chor für Juden, Christen und Muslime zu gründen, dafür muss man wahrscheinlich verrückt sein. Oder einen ungebrochenen Glauben in die Kraft der Musik haben.
Chorprobe im hellen Sandsteingebäude gegenüber dem King David-Hotel nahe der Jerusalemer Altstadt. Im Sechstagekrieg 1967 kämpften nur wenige hundert Meter entfernt Juden gegen Araber, Israelis gegen Palästinenser. Jetzt steht Micah Hendler in einem kargen Probenraum und stimmt die junge Gruppe ein: Juden, Muslime und Christen - Palästinenser und Israelis.
Suche nach einer gemeinsamen Sprache
"Die Sprache stellt oft ein Problem dar", sagt Hendler. "Es gibt buchstäblich keine gemeinsame wörtliche und musikalische Sprache in der Gruppe – nur die, die wir gemeinsam bilden. Wahrscheinlich gibt es deshalb auch keine gemischten Gruppen in Israel. Entweder werden nur Leute aufgenommen, die englisch sprechen oder solche, die hebräisch sprechen. Das aber schließt die israelischen Araber aus. Wir versuchen also, einen offenen Raum zu schaffen. Aber natürlich gibt es immer noch Barrieren, die wir so gut wie möglich beseitigen."
Micah Hendler ist amerikanischer Jude und Absolvent der US-Eliteuniversität Yale. Vor dem Syrien-Krieg hat er in der syrischen Haupstadt Damaskus studiert und spricht deshalb perfekt Arabisch. Ein Vorteil nicht zuletzt für die Gesprächskreise, an denen alle Sänger teilnehmen müssen. Auch Marc Tourjman, arabischer Christ aus Ostjerusalem, und Ala Judeh, Muslim aus Jabal al Mukaber im Westjordanland.
Wer singen will, muss auch reden
"Als ich zum ersten Mal zum Chor kam, wusste ich nicht, dass man auch an Gesprächsrunden teilnehmen muss", sagt Tourjman. "Ich kam nur, weil ich singen wollte. Es war auch ein ziemlicher Schreck, dass so viele Juden hier teilnehmen. Aber ich habe gedacht: Du willst singen, wir brauchen Frieden, wir haben genug vom Krieg."
Der Palästinenser Judeh ergänzt: "Die Moderatoren helfen uns, miteinander ins Gespräch zu kommen, denn es gibt immer Leute, die reden wollen, und andere können das nicht. Manchmal sind es Juden, die keine Lust auf Gespräche haben. Denn es gibt unter uns Arabern natürlich Leute, die ihnen Vorwürfe machen: Ihr habt unser Land genommen, ihr macht uns das Leben schwer. Und natürlich fühlen sich die jüdischen Teilnehmer dann ungerecht behandelt, denn sie persönlich haben ja nichts gemacht."
Michal Levin ist eine der Psychologinnen, die die Gesprächskreise leiten. Sie sagt, auch jüdische Chorsänger kämen oft mit Vorurteilen. Denn viele würden Menschen kennen, die bei einem Armeeeinsatz oder durch einen Terroranschlag getötet wurden. Die Gesprächsrunden würden Zweifel ausräumen – eine Voraussetzung für das gemeinsame Singen.
"Es ist natürlich, dass viele der israelischen Juden kaum eine Vorstellung von den Problemen haben, denen die Palästinenser ausgesetzt sind", sagt Levin. "Dabei gibt es tatsächlich Jugendliche hier im Chor, die erleben, was Besatzung heißt. Aber auch unter den Palästinensern selbst gibt es Unterschiede: Es gibt welche, die haben die israelische Staatsbürgerschaft, andere haben sie nicht."
Der Alltag trennt Juden und Palästinenser
"Normalerweise leben Juden und Palästinenser in unterschiedlichen Welten", erklärt Levin. "Sie gehen in getrennte Schulen, leben in unterschiedlichen Vierteln. Für viele ist es das erste Mal, dass sie aufeinander treffen. Für jüdische Israelis ist das eine echte Herausforderung. Denn sie bekommen noch nicht mal mit, was fünf Kilometer von ihnen entfernt passiert."
Vor acht Jahren hat Hendler den "Jerusalem Youth Chorus" gegründet. Mit Hilfe von Spenden ging es schon nach Amerika, nach Japan und Großbritannien. Gerne würde der Chor auch in Deutschland auftreten und zeigen: Trotz verschiedener Religionszugehörigkeiten und trotz vieler Vorbehalte können wir gemeinsam singen.
Aus Singen entsteht Freundschaft
Davon ist auch die Jüdin Shifra Jacobs aus Westjerusalem überzeugt. "Einige meiner besten Freunde sind Araber", sagt Jacobs. "Und das ist wirklich unglaublich. Denn Jerusalem ist eine geteilte Stadt, das merkt man Tag für Tag. Aber ich hab versucht, diese Trennung für mich aufzuheben. Und das ist gar nicht so einfach, denn tatsächlich gibt´s hier in der Stadt viele Vorbehalte. Und ganz ehrlich: Das sind doch alles nur Etiketten: der eine ist Israeli, der andere Palästinenser, es gibt Juden, Christen, Moslems. Aber am Ende zählt doch nur der Mensch dahinter."
In den Videos des "Jerusalem Youth Chorus", sieht man jüdische Sänger, die ihre arabischen Freunde im Westjordanland besuchen, Jugendliche, die um ein Lagerfeuer sitzen oder eine Wasserschlacht unter Olivenbäumen machen. Vor allem aber sieht man, wie viel Spaß ihnen das Singen macht.
"Es gibt eine Menge Leute aus der Anfangszeit, die noch immer im Chor singen", sagt Hendler. "Sie verabreden sich auch in der Freizeit über WhatsApp oder Facebook – zum Skateboarden in Beit Safafa im Westjordanland oder um sich den neuesten Film anzuschauen. Oder sie schreiben: Ich bin gerade in der Stadt, hat jemand Lust, vorbeizuschauen? Niemand zwingt sie dazu, befreundet zu sein. Sie sind Freunde und wollen sich weiter treffen. Und das geschieht über alle Grenzen hinweg und ist sehr spannend."
Offen für die Sicht des anderen
"Der Chor bedeutet mir unheimlich viel", sagt Judeh. "Ich habe meine Ansichten über Juden und Christen total geändert. Ich habe hier viele jüdische Freunde gewonnen und kenne ihre Gedanken, ihr Innerstes. Früher war mir alles Jüdische fremd – ich wusste nicht, wie sie leben. Mein Leben hat sich total gewandelt, seit ich im Chor bin."
Auch Jacobs berichtet: "Der Chor hat mir die Augen geöffnet zu einer Welt, die für mich vollkommen fremd war." Das helfe ihm jetzt auch während der Armeezeit und im alltäglichen Leben. "Ich nehme das mit, was ich hier im Chor gelernt habe und ich kann anderen Leuten davon erzählen. Das Beste was ich gelernt habe, ist: Triff andere Menschen, schau ihnen in die Augen und sprich mit ihnen. Und ich hoffe, ich werde das beibehalten – für den Rest meines Lebens."