Friedensnobelpreis für NGO Memorial

"Die Erinnerung an Massenterror gehört in die Weltöffentlichkeit"

06:34 Minuten
Irina Scherbakowa steht vor einer Pressekonferenz an der Friedrich Schiller Universität.
Die Germanistin und Historikerin Irina Scherbakowa ist Mitbegründerin von Memorial International. © picture alliance / dpa / Bodo Schackow
Irina Scherbakowa im Gespräch mit Sigrid Brinkmann |
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Seit 1989 setzt sich die russische Memorial International für Menschenrechte ein. In Russland wurde sie zerschlagen, doch international wird ihre Arbeit geschätzt. Der Friedensnobelpreis komme dennoch unerwartet, sagt Mitgründerin Irina Scherbakowa.
Bereits 2004 wurde die russische Menschenrechtsorganisation Memorial International mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Nun wurde die Organisation, die seit ihrer Gründung im Jahr 1988 die stalinistischen Massenverbrechen aufarbeitet und politisch Verfolgte unterstützt, auch noch mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet – gemeinsam mit dem belarussischen Menschenrechtsanwalt Ales Bjaljazki und dem ukrainischen Center for Civil Liberties.
Dabei arbeitet die russische Regierung seit Jahren an der Liquidierung von Memorial International: 2014 wurde die Menschenrechtsorganisation offiziell als "Ausländischer Agent" eingestuft und Ende 2021 vom obersten Gerichtshof zerschlagen.

Gemischte Gefühle 

Absolut unerwartet sei die Auszeichnung gekommen, sagt Irina Scherbakowa, Mitbegünderin von Memorial: „Wir waren einige Male nominiert, aber jetzt in dieser Situation hat keiner von uns das erwartet.“ Unter die Dankbarkeit für diese Ehrung mischen sich auch schwere Gedanken angesichts des Krieges in der Ukraine:
Natürlich frage man sich, „warum unsere Kräfte so schwach waren und warum es uns nicht gelungen ist, die Bevölkerung zu überzeugen, wie wichtig Freiheit und Demokratie sind?“ Insofern sei das ein tragischer Hintergrund dieser Ehrung, sagt Scherbakowa, die sich seit dem Sommer in Weimar aufhält.

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Andererseits stärke die Auszeichnung auch den Glauben, dass nicht alles umsonst gewesen sei und eine Fortsetzung der Arbeit in Russland vielleicht bald wieder möglich sei.

Internationales Netzwerk 

Die Zerschlagung der Organisation hänge auch damit zusammen, dass es sich bei Memorial immer um ein internationales Netzwerk gehandelt habe, sagt Scherbakowa. Auch heute noch gehöre eine Organisation in der Ukraine zum Netzwerk – außerdem gebe es Memorial in Deutschland, Frankreich, Tschechien und Italien.
Die Erinnerung an Massenterror und Massenverbrechen gehöre nun mal in die Weltöffentlichkeit, sagt Scherbakowa. „Und in diesem Sinne ist es für uns ganz wichtig, dass auch uns mal gesagt worden ist: Ja, ihr gehört zur Weltöffentlichkeit.“
Scherbakowa erhofft sich von der Auszeichnung, dass sie Menschen in Russland Mut macht, sich weiter gegen den Krieg einzusetzen.

Oleksandra Matwijtschuk ist in diesem Jahr bereits mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet worden. Zusammen mit vier weiteren Frauen hat sie das ukrainische Center for Civil Liberties gegründet, das nun auch den Friedensnobelpreis erhält. Aufgabe ihrer NGO ist es, russische Kriegsverbrechen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung aufzudecken.

Das ist eine kaum zu unterschätzende Aufgabe, wie etwa die Grünen-Politikerin Marieluise Beck betont. Sie ist im Vorstand des Zentrums Liberale Moderne und arbeitet seit Jahrzehnten an Netzwerken für eine demokratische Opposition in Osteuropa.
In Russland werde man sich ähnlich wie in Deutschland nach 1945 quer durch alle Bereiche der Gesellschaft mit den Gräueltaten der eigenen Soldaten und den Weichenstellungen der Eliten auseinanderzusetzen haben und sich auch fragen müssen, was man als Bevölkerung bereitwillig hingenommen habe, so Beck.
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