Friedensorganisation "Servas" wird 70

Reisen für die Völkerverständigung

06:18 Minuten
Eine Hand hält einen Papierflieger. aus einer Weltkarte gefaltet
Reisen, neue Kulturen und Menschen kennenlernen: Das ermöglicht die Organisation "Servas". © EyEm / giiovi
Von Rebecca Hillauer |
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Bei Menschen im Ausland unterkommen und ihr Leben kennenlernen: Die Organisation "Servas" ermöglicht dies seit 1949 – lange vorm "AirBnB"- und "Couchsurfing"-Tourismus. Bis heute bringt sie Menschen verschiedener Kulturen und Nationalitäten zusammen.
Markus Kunert: "Ein Freund beim Sport hat mich auf ‚Servas‘ aufmerksam gemacht. Das war Anfang der Neunzigerjahre."
Isolde Lederer: "Ich bin nach Australien gefahren, und die Freundin erzählte mir, dass man dort einfach normale australische Menschen kennenlernt und bei denen auch wohnen kann. Und da dachte ich, das ist genau das, was ich auch früher gemacht habe, als ich noch Studentin war."

Unterwegs in der Township oder bei der Modenschau

Markus Kunert und Isolde Lederer aus Berlin sind inzwischen seid mehr als 20 Jahren Mitglied bei der Friedensorganisation "Servas". Von ihren Reisen mitgebracht haben sie viele Geschichten von überraschenden und erstaunlichen Begegnungen. Isolde Lederer erinnert sich an eine Modenschau in der Nähe von Kapstadt. Statt überschlanker junger Models mit antrainiertem Hüftschwung präsentierten dort Frauen jeden Alters und jeder Figur selbstgenähte bunte Kleider.
"Es war einer der lustigsten Nachmittage meines Lebens. Und meine Gastgeberin hat mir jemand vermittelt, die mir dann eine Frau vorgestellt, die in der Township arbeitet als Sozialarbeiterin und Psychologin. Und die hat mich eingeladen am anderen Tag, mit ihr dann durch die Township zu fahren. Und ich war halt nicht Zuschauerin, sondern war da einfach mit drin. Ich wäre so natürlich nie alleine hingekommen."
Um solche Begegnungen geht es bei "Servas". Gegründet wurde die gemeinnützige Organisation im Jahr 1949 von einer Gruppe Studierender um den amerikanischen Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer Bob Luitweiler in Dänemark. Das Netzwerk vermittelte anfangs vor allem verarmten Deutschen kostenlose Unterkünfte in jüdischen Familien und im Ausland. Durch den Kontakt mit Menschen anderer Nationen sollten sie sich von möglicher Naziideologie befreien.
Markus Kunert: "Die Kernidee ist: Kennen die Leute sich in verschiedenen Ländern, erschießen sie sich nicht mehr so schnell. Und dadurch die Idee: Dann müssen Leute aus ihrem Land mal raus reisen, mal woanders hin."

Keine klassische Friedensmission mehr

Inzwischen hat "Servas" 15.000 Mitglieder in mehr als 100 Ländern und seit 1973 einen Beobachterstatus bei den Vereinten Nationen. Der Name geht zurück auf das Esperanto-Wort "Servas" für "Dienst". Ziel ist es, Menschen unterschiedlicher Herkunft, Weltanschauung, Hautfarbe und Religion zusammenzubringen. Man kann dabei Reisender oder Gastgeberin sein. Die Regeln für den Aufenthalt bestimmen immer die Gastgebenden. Sie entscheiden auch, ob jemand länger als zwei Nächte bleiben darf. Beide Seiten können einen Aufenthalt jederzeit abbrechen, wenn eine sich unwohl fühlt.
Isolde Lederer: "Es kommt manchmal natürlich auch zu kulturellen Missverständnissen, weil einfach die Kulturen sehr unterschiedlich sind. Das ist eine gute Gelegenheit, dass man das dann ja auch lernt und da drüber sprechen kann."
Längst ist das Reisen mit "Servas" keine klassische "Friedensmission" mehr wie in den Anfangszeiten. Dass sich – wie bei einem internationalen Mitgliedertreffen – ein Iraner und ein Israeli über ihre Familiengeschichten unterhalten und darüber, wie sie den Konflikt im Nahen Osten erleben, passiert eher selten.
"Es ist einfach, dass ich durch 'Servas' die Gelegenheit bekommen habe, über meinen eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Und das ist einfach eine große Bereicherung", sagt Conni Geisendorf, die seit vier Jahren Vorsitzende von "Servas Deutschland" ist. Markus Kunert war vor zwei Jahren gemeinsam mit seiner Familie über "Servas" unterwegs.
"Wir waren zu viert dort bei einem britischen Farmer, der extrem selbstversorgermäßig dort gelebt hat, mit Kompost-Toilette. Was zum Beispiel auch für mich ungewohnt war – aber noch viel mehr für unsere jugendlichen Kinder. Ein ganz anderer Lebensentwurf."

Als Reisen noch ein Luxus war

"Servas Deutschland" gehört mit rund 2000 Mitgliedern zu den größeren Ländersektionen. Es ist ein gemeinnütziger Verein, keine kommerzielle Plattform wie "AirBnB" und "Couchsurfing". Dort steht die Suche nach einem Übernachtungsplatz im Vordergrund. Die zwischenmenschliche Begegnung ist eher ein Nebenprodukt. Bei "Servas" ist es genau umgekehrt. Deswegen kostet weder die Vermittlung noch die Unterkunft etwas. Es gibt auch kein Online-Bewertungssystem.
Isolde Lederer: "Es geht nicht darum, andere zu bewerten, nach dem Motto: Da gab es nachmittags immer Kaffee und Kuchen, drei Mahlzeiten am Tag und das Frühstücksei morgens um neun ans Bett. Sondern: Wie hat der Kontakt geklappt. Und dass es da natürlich sehr, sehr viele Unterschiede gibt, die man gar nicht bewerten kann. Mit manchen Menschen klappt die Chemie total, da hat man sich ganz, ganz viel zu sagen – und mit anderen ist es einfach oberflächlicher. Das ist doch was völlig Normales."
1949, als die Organisation gegründet wurde, bewegte man sich in einer engen Welt, Reisen war Luxus. Unterwegs waren Flüchtlinge und Vertriebene auf der Suche nach einer neuen Heimat. Millionen Soldaten waren von den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs heimgekehrt, die Kriegszeit war vorbei, aber noch lange nicht überwunden. Völkerverständigung – das hatte noch eine andere Bedeutung als heute. Doch statt zu verschwinden, feiert die Organisation nun ihr 70-jähriges Bestehen – und Verständigung durch Kennenlernen ist ein wichtiges politisches Anliegen für die "Servas"-Organisatoren geblieben.
Isolde Lederer: "Ich habe großes Vertrauen, dass ‚Servas‘ weiter besteht. Weil der Gedanke ‚Servas‘ ist einfach eine ganz, ganz großartige Idee. Und damit hat ‚Servas‘ seit 1949 extrem gute Erfahrungen gemacht."
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