Rationalität ist in der Ökonomie oft gleichbedeutend mit Eigennutz. Anders sieht das der indische Philosoph und Ökonom Amartya Sen: Vernunft heiße, die ganze Menschheit in den Blick zu nehmen. Wirtschaft und Ethik gehören für ihn zusammen. Hören Sie hier unter ausführliches Interview mit Amartya Sen aus unserer Philosophiesendung "Sein und Streit":
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Der Pionier der Armutsforschung
05:51 Minuten
In seiner Laudatio für Amartya Sen hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dessen Bedeutung für eine globale Gerechtigkeit in Zeiten von Corona hervorgehoben. Der Philosoph kritisierte in seiner Rede den religiösen Fanatismus in seiner Heimat Indien.
Auch die Verleihung des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wurden durch Corona ordentlich durcheinandergewirbelt, der Preis virtuell verliehen, der Preisträger per Videoschalte aus Boston zugeschaltet:
Der indische Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Amartya Sen forscht über Armut, Reichtum und die Ursachen des Hungers, den Sen selbst als Zehnjähriger in der großen Hungersnot 1943 in Indien erlebte.
Der 87-Jährige Sen habe starke inhaltliche Akzente gesetzt, sagt unser Korrespondent Ludger Fittkau, der die Feierstunde verfolgt hat. Die Schwerpunkte der Ansprache seien vor allem die Ungerechtigkeiten und der religiöse Fanatismus in Indien gewesen. Der Philosoph habe beklagt, dass es aktuell wieder eine brutalisierte Verfolgung von Muslimen in Indien gebe, die Sen bereits in seinen frühen Jahren miterlebt habe.
"Besonders rigoros sind die gegenwärtigen Regierenden in Indien gegen die Rechte der Muslime vorgegangen, bis hin zu der Einschränkung ihrer Bürgerechte, im Vergleich zu Nicht-Muslimen", sagte Sen. "Trotz der jahrhundertelangen friedlichen Koexistenz zwischen Hindus und Muslimen gab es in den letzten Jahren eklatante Versuche extremistischer Hindu-Organisationen, einheimische Muslime im Grunde wie Ausländer zu behandeln, denen man oft den Vorwurf macht, der Nation Schaden zuzufügen." Dieses Thema habe sich wie ein roter Faden durch alle Reden gezogen, so Fittkau.
Coronakrise als Nagelprobe der Solidarität
Die Laudatio bei der im ARD-Fernsehen übertragenen Feier in der Paulskirche wollte eigentlich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier halten. Seine Rede wurde aber von dem Schauspieler Burghart Klaußner verlesen, da sich das Staatsoberhaupt wegen der Coronainfektion eines Personenschützers in Quarantäne begeben musste. Steinmeier habe in seiner Rede Sens Ehrung mit der Corona-Pandemie in Verbindung gebracht, so Fittkau.
"Die Corona-Pandemie trifft alle Menschen und Staaten, aber sie trifft nicht alle gleich", hieß es in der Rede. "Dort, wo es an Strukturen in der Gesundheitsversorgung fehlt, wo die Ernährungslage schlecht ist, wo große Armut herrscht, dort schlägt das Virus ungleich härter zu."
Die Coronakrise sei eine Nagelprobe für internationale Solidarität und weltweite Kooperation in Forschung und Politik, so Steinmeier. "Nirgends kristallisiert sich das so deutlich, wie in der Frage einer gerechten, weltweiten Verteilung eines Impfstoffes." Eine gerechte Verteilung sei beides, wohlverstandener Eigennutz und kategorischer Imperativ.
Pragmatiker der Gerechtigkeit
Mit diesen Worten habe Steinmeier das Thema Gerechtigkeit von Sen aufgegriffen und es mit der Verteilung des Impfstoffes konkretisiert, so Fittkau über die Laudatio auf Sen. "Steinmeier bezeichnet ihn als Pragmatiker der Gerechtigkeit, der immer auch konkrete Punkte ansprechen möchte." Damit habe der Bundespräsident auch auf die Kritik reagiert, dass Sen als Nobelpreisträger und hochdekoriert mit unzähligen Auszeichnungen nun auch noch mit dem Friedenspreis ausgezeichnet wurde.
(gem)