Carolin Emcke, geboren 1967 in Mülheim an der Ruhr, hat Philosophie, Politik und Geschichte in London, Frankfurt am Main und Harvard studiert. Als Journalistin berichtete sie aus Krisen- und Kriegsgebieten. Die Publizistin ist Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels (2016). Ihr jüngstes Buch trägt den Titel: "Gegen den Hass" (S. Fischer, 2016). Auf der Frankfurter Buchmesse wird sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2016) ausgezeichnet.
"Der Hass sucht sich seine Objekte"
18. Februar 2016: In Clausnitz empfangen wütende Demonstranten einen Bus voller Flüchtlinge mit lauten Rufen: "Verpisst euch!" und "Was flennt ihr denn?". Woher kommt dieser Hass? Ein Gespräch mit der Publizistin Carolin Emcke, der Friedenspreisträgerin 2016.
Deutschlandradio Kultur: Die Sendung Tacheles heute mit einer Journalistin, die jahrelang aus Krisen- und Kriegsgebieten berichtet hat, die als Publizistin eine konsequent humanistische Haltung verfolgt und gegen Vorurteile und Ausgrenzung anschreibt, auch in ihrem neuen Buch mit dem Titel "Gegen den Hass". Bei mir ist Carolin Emcke, die am Sonntag zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wird. - Herzlichen Glückwunsch und herzlich willkommen, Frau Emcke.
Carolin Emcke: Ja, vielen Dank.
Deutschlandradio Kultur: Sie schreiben gegen den Hass an. Der Hass kommt von Menschen, die sich Sorgen machen. Beim Lesen hatte ich manchmal den Eindruck, auch Sie sind eine besorgte Bürgerin. - Ist das richtig?
Carolin Emcke (lacht): Das ist natürlich eine sehr schöne Wendung. Natürlich könnte man sagen, ja klar, es gibt natürlich Menschen, bei denen ich auch sagen würde, die haben Grund sich Sorgen zu machen. Das sind all diejenigen, die Angst haben müssen, wenn sie auf die Straße gehen, vor deren Synagogen oder Schulen oder Moscheen ein Wachschutz stehen muss, vor deren Unterkünften Wachschutz stehen muss.
"Die Sorge ist oft nur eine Ummantelung von Hass"
Und in der Tat, natürlich gibt es Menschen, glaube ich, die sich Sorgen machen müssen in einem wirklich existenziellen und körperlichen Sinn. Denen soll in der Tat in dem Buch auch etwas mehr Raum gegeben werden oder etwas mehr Aufmerksamkeit im Verhältnis zu denen, die sich besorgte Bürger - jetzt im politischen Sinne sozusagen - nennen, weil ich da nicht immer, aber eben oft den Eindruck habe, dass die Sorge nur eine Ummantelung ist von Hass und Ressentiment.
Deutschlandradio Kultur: Bleiben wir noch kurz bei Ihnen. Was macht Ihnen Sorge?
Carolin Emcke: Also, ich bin Borussia-Dortmund-Fan. Insofern will ich jetzt mal sagen, also, im Moment ist es die Tabelle, die macht mir etwas Sorge. Aber danach haben Sie natürlich nicht gefragt.
Nein, natürlich macht mir Sorge die Verrohung. Und ich kann es ja mal konkret sagen. Natürlich mache ich mir Sorgen, dass, wenn man ein solches Buch schreibt, dass man ab dem Tag der Veröffentlichung mit Hasspost überschüttet wird und dass man Vergewaltigungsandrohungen bekommt und Morddrohungen bekommt. Natürlich ist im Moment - und das betrifft nicht nur mich, sondern sehr viele Menschen - eine verrohte, wirklich entgrenzte Aggression im öffentlichen Klima. Das macht mir schon Angst.
Deutschlandradio Kultur: Sie diagnostizieren, das würde zunehmen, es würde mehr. Sie schreiben von einer "wachsenden Verachtung von allem Abweichenden". – Was macht Sie so sicher, dass das wirklich mehr wird und nicht nur lauter geäußert wird?
Carolin Emcke: Einerseits der BKA-Bericht. Also, wir entnehmen sozusagen einfach auch schlicht und ergreifend den Statistiken, dass es eine Zunahme gibt an rechter Gewalt. Gleichzeitig, glaube ich, erleben wir, dass bestimmte Dinge, die wir für undenkbar gehalten hätten, dass sie in der Öffentlichkeit geäußert werden, inzwischen nicht nur irgendwie in der Öffentlichkeit geäußert werden, sondern auch mit einer Schamlosigkeit in einem wirklich bemerkenswerten Selbstbewusstsein. Also, es gibt einen Exhibitionismus von schäbigen Gefühlen, als ob es cool sei, sich abwertend über andere Menschen zu unterhalten.
Das, glaube ich, ist eben nicht nur ein quantitativer, sondern auch ein qualitativer Unterschied.
"Nicht jeder Affekt ist angemessen"
Deutschlandradio Kultur: Das ist dann dieser Moment, in dem sich, wie Sie vorhin sagten, die Sorge offenbart als etwas, was eigentlich nur eine Ummantelung von Hass ist. Sie gehen in Ihrem Buch mit diesen Sorgen nicht sehr freundlich um. Sie schreiben an einer Stelle, es sei inzwischen ein bisschen so, "als käme unreflektierten Gefühlen eine ganz eigene Legitimität zu". - Werden schiere Affekte, bloße Gefühle zu Argumenten aufgeblasen?
Carolin Emcke: Ja. Ich finde eigentlich, ehrlich gesagt, ich gehe noch ziemlich fair mit der Sorge um, indem ich ja sage: Natürlich gibt es Sorgen, die berechtigt sind und die auch in der Wirklichkeit genügend konkreten Anlass finden. Und bei der Frage der Flüchtlingssituation oder des Hinzukommens von sehr vielen Menschen aus Krisenregionen würde ich um Gottes Willen nicht sagen, dass daraus nicht ausgesprochen komplizierte politische, soziale, kulturelle Fragen auf uns zukommen. Und ich finde es völlig berechtigt, darüber auch kontrovers zu sprechen.
Nur, wir reden ja von einer sozialen Bewegung, einer politischen Bewegung, die diesen Begriff in einer bestimmten Form zu einem Kampfbegriff gemacht hat.
Da, glaube ich, ist es schon nötig, dass wir nicht zulassen, dass eine Öffentlichkeit wirklich infantilisiert wird. Jedes Kind lernt, dass man bei Angst und bei Sorgen auch fragen kann, gucke mal, sind die angemessen, sind die unangemessen. Also, man setzt sie immer wieder einem Realitätstest aus.
Und im Moment wird so diskutiert, als ob es reichte zu sagen, ich habe aber Angst vor denen, und dann soll das auch ein legitimes politisches Argument sein. Das, glaube ich, kann nicht sein. Da müssen wir auch noch mal ein gewisses Maß an Rationalität wieder einziehen. Nicht jeder Affekt ist berechtigt und angemessen.
Deutschlandradio Kultur: Trotzdem finde ich, dass Sie im Buch manchmal wirklich harsch sind. Wenn Sie zum Beispiel vergleichen diese Sorgen mit dem Glauben, die Erde sei eine Scheibe, da argumentieren Sie: Natürlich, wenn man das wirklich glaubt, dann ist es völlig berechtigt und in sich komplett schlüssig, dass man Angst hat über die Kante zu fallen, dass man es überhaupt nicht fassen kann, dass die Politik nichts unternimmt, dass man überhaupt nicht begreift, warum die Medien leugnen, dass die Erde eine Scheibe ist. – Das ändert aber nichts dran, dass die Erde eben keine Scheibe ist.
Aber sind denn diese Schwierigkeiten der modernen Gesellschaft mit Zuwanderung etc. wirklich so einfach, so schwarz-weiß wie Erde Scheibe, ja oder nein?
"Ein Diskurs, der offensichtlich mit Unwahrheiten arbeitet"
Carolin Emcke: Nein. Aber da reden wir jetzt, glaube ich, aneinander vorbei ein bisschen, weil ich Ihnen sofort zugestanden habe, eben auch schon, dass wir natürlich über eine ganze Reihe von Fragen konkret dann auch sprechen können. Das können wir auch gerne tun. Ich rede nur davon, dass wir zurzeit einen Diskurs erleben, der offensichtlich mit Unwahrheiten arbeitet, der offensichtlich mit Ressentiments arbeitet. Die ganze Kampagne des Brexit in England beispielsweise ist genau mit solchen Unwahrheiten geführt worden. Sie haben einerseits Versprechen gemacht, die komplett unrealistisch waren. Und sie haben auch solche Art von Sorgen geschürt. Das macht Pegida auch, das macht die AfD auch.
Und ich finde es keineswegs harsch, wenn man sagt: Diese Behauptung entspricht einfach nicht der Wahrheit.
Insofern würde ich da vorsichtig sein, jede Form von Kritik als unangebracht zu bezeichnen. Ich glaube, wenn wir aufgeben, Aussagen oder Kampagnen oder Programme auch an der Wirklichkeit zu messen, dann haben wir wirklich verloren.
Und wir sehen im Moment in vielen Ländern, unter anderem in den USA, aber, glaube ich, auch in England, wohin das führt, wenn man sozusagen Komplettrelativismus praktiziert, der so tut, als gäbe es die Wirklichkeit nicht. Das halte ich für heikel.
Das heißt nicht, um es nochmal zu sagen, dass wir uns nicht über einzelne konkrete Fragen des Umgangs miteinander selbstverständlich kontrovers verständigen können.
Deutschlandradio Kultur: Wohin das führt, wenn insgesamt diese Entwicklung sehr schief läuft, das erarbeiten Sie in Ihrem Buch an zwei Beispielen hauptsächlich. Das ist einmal eine Schlüsselszene der rassistischen Polizeigewalt in den USA. Und das ist auch ein Abend im Februar 2016 in Deutschland, in Clausnitz. Da kommt ein Bus mit Flüchtlingen an und um den Bus dicht herum gedrängt stehen wütende Menschen, die eben keine Flüchtlinge in Clausnitz sehen wollen. Und es gibt YouTube-Videos, Handy-Videos, angefertigt und ins Netz gestellt von denen, die offenbar da sehr stolz auf sich sind und die sich so anhören.
Einspieler: "Verpisst euch doch! Ab nach Hause! Raus! (Pfiffe, Schreie) Wir sind das Volk! Wir sind das Volk! Wir sind das Volk!"
Das geht noch eine ganze Weile so weiter. Der Jubel, der Applaus zwischendrin ist die Sekunde, in der die Polizei – mit ein bisschen Gewalt - einen Jungen aus dem Bus herausholt. – Was ist an diesem Abend so eindrücklich, dass Sie diesem Abend ein ganzes Kapitel widmen?
Carolin Emcke: Ja, einerseits, um der Bösartigkeit halber noch mal zu sagen, Sie würden jetzt ja eben auch nicht sagen, dass die Menschen sich einfach nur Sorgen machen.
Deutschlandradio Kultur: Nein.
Carolin Emcke: Gut. Sie haben die Szene wahrscheinlich alle auch vor Augen. Man sieht diesen Bus. Man sieht eine Windschutzscheibe, dahinter zwei junge Frauen, die sich aneinander klammern vor Angst, und einen Jungen, der anscheinend weint und dann eben aus dem Bus heraus geführt wird, und dann davor diese Masse, die wir da jetzt eben brüllen gehört haben.
"Wie kann man in einem weinenden Kind einen Invasoren sehen?"
Für mich war wichtig, dass ich nicht darüber spekuliere, wer diese Menschen sind, dass ich nicht anfange sie zu diffamieren oder als Pack oder als Mob zu bezeichnen. Ich will mich in dem Sinne überhaupt gar nicht mit den Biographien oder den Profilen dieser Menschen beschäftigen, sondern ich habe nur versucht, mich – vor jeder Empörung über diese Situation – zu fragen: Wie geht das eigentlich? Wie kann es gelingen, dass man in diesen Bus schaut, und man sieht diese Menschen und die sind offensichtlich ängstlich und man sieht anscheinend weder Menschen, noch die Angst?
Mich hat dieser Blick interessiert. Ich habe dann versucht zu analysieren, indem ich mir genauer diese rechten Foren angeschaut habe und geschaut habe, wie da kommuniziert wird, was für ein Weltbild das ist, was für Blicke es in diesen Foren auf Geflüchtete und auf Muslime gibt, um genauer dieser Raster der Wahrnehmung herausschälen zu können, die offensichtlich nötig sind, damit man, wenn man in diesen Bus schaut, eben nicht ein weinendes Kind sieht, sondern angeblich kriminelle Invasoren.
Deutschlandradio Kultur: Zumal es ja sehr unterschiedlich sein kann. Sie haben auch eine junge Frau getroffen, die an demselben Abend dort war – mit ein wenig Obst und freundlichen Worten – und eigentlich die Flüchtlinge willkommen heißen wollte. Die hatte Mitleid. Die anderen sagen, sie hatten Angst, fühlten sich bedroht.
Sind Sie zu einem Schluss gekommen, wie es kommt, dass die einen Menschen ein und denselben Anblick ein und desselben weinenden Kindes als Bedrohung empfinden und die anderen Mitleid empfinden?
"Der Hass sucht sich seine Objekte"
Carolin Emcke: Ja, ich glaube, das hat genau mit dem zu tun, was ich versucht habe zu beschreiben. Ob das jetzt Social Media ist oder ob das größere Publikationen sind, ob es Bücher sind, die man liest, ob es Liedtexte sind, die man hört: Wenn man sich nur noch in einer Welt bewegt, in der ununterbrochen nur Geflüchtete als Terroristen, Muslime als Gewalttäter, in der ununterbrochen bestimmte Personengruppen mit bestimmten Assoziationsketten versehen werden, dann prägt sich das natürlich irgendwann ein. Es ist in diesen geschlossenen Denksystemen, in diesem geschlossenen Weltbild eine unheimliche Verengung. Es werden bestimmte Individuen nur noch in Kollektiven gedacht. Und diese Kollektive werden nur noch mit bestimmten negativen Labels versehen.
Die haben natürlich keine Angst. Das ist das Interessante bei Clausnitz. Wenn man sich das genauer anschaut, stellt man fest: Die haben auf diesen Bus gewartet. Der Bus ist blockiert worden. Es war nicht einfach nur eine Demonstration, sondern man hat versucht diesen Transport zu blockieren und zu verhindern, dass sie in diese Unterkünfte kommen.
Das ist der Unterschied zwischen Hass und Angst. Der Hass sucht sich seine Objekte, will in die Nähe des verhassten Objekts.
Deutschlandradio Kultur: Die Angst wäre weggelaufen.
Carolin Emcke: Genau, exakt. Wenn man Angst gehabt hätte oder sich Sorgen gemacht hätte, wäre man – wie beim Ekel übrigens auch – eher weggegangen. Stattdessen sind sie dort hingegangen.
Es ist ganz schön, dass Sie das erwähnt haben, weil mir das auch besonders wichtig war für das Buch, dass ich eben in Clausnitz auch nach Menschen gesucht habe, die anders reagiert haben, dass man Clausnitz nicht immer nur assoziiert mit denen, die da gebrüllt haben. Es gab eben auch eine ganze Gruppe aus Clausnitz, die sich vorbereitet haben, um diese Geflüchteten zu begrüßen. Sie haben es erwähnt. Die haben extra Obst mit hingebracht. Die sind dann auch dort geblieben und haben sich die ganze Nacht um diese wirklich vollkommen verstörten Menschen gekümmert. Also, die gibt’s auch. Und ich glaube, man sollte gelegentlich zusehen, dass man den Fokus auch auf die richtet.
"Das Spektakelhafte nicht noch vergrößern"
Deutschlandradio Kultur: Ich finde wirklich sehr stark, wie Sie in diesem Kapitel diesen Abend durcharbeiten und sich die verschiedenen Menschen ansehen, wie die reagiert haben. Es gibt noch mehr Menschengruppen, und die zweite Gruppe, auf die Sie einen Blick werfen, sind nicht die, die skandieren, sondern die, die dabei stehen.
Carolin Emcke: Ja, das ist ganz wichtig. Es gab eben nicht nur diejenigen, die da skandiert und gebrüllt haben, sondern es gab auch – ich nenne sie – das Publikum, also Leute, die drum herum standen und zugeschaut haben. Ehrlich gesagt, am Anfang war ich natürlich auch mit denen beschäftigt, die da brüllen. Und dann schaut man es sich zwanzigmal an und dann irgendwann denkt man dann, ja, die anderen finde ich eigentlich, ich weiß nicht, ob interessanter, aber fast erstaunlicher. Man denkt, in jedem Fußballspiel gelingt das, dass jemand, wenn da ein Auflauf ist von wütenden Menschen, mal sagt, komm, echt, ist jetzt gut.
Was man dazu sagen muss: Dieses Nichtstun oder Dabeistehen oder eben Publikum sein hat natürlich auch eine Tradition. Es ist genau dieses Publikum, das es schon bei Lynchjustiz gab, bei Gewaltakten oder eben solchen Szenen von Ausgrenzung, bei denen ein Spektakel inszeniert wird. Ich glaube, dieses Spektakel ist für die, die davon betroffen sind, besonders schrecklich, denn erstens ist die Menge einfach größer, sie sehen sich also einer viel größeren Gruppe gegenüber. Und sie haben natürlich auch das Gefühl, dass sie nicht nur angeschrien werden und vertrieben werden sollen, sondern sie werden auch noch zum Objekt in einem Stück, das sie sich nicht selbst ausgesucht haben.
Insofern war es mir auch wichtig, dieses Moment zu beschreiben auch, damit jeder für sich selbst überlegen kann: Sollte ich mal in eine solche Szene gehen und vielleicht habe ich wirklich Angst vor dieser aufgebrachten Menge, vielleicht traue ich mich auch nicht, die anzusprechen und zu sagen, sie sollen aufhören. Vielleicht finde ich es besser, es der Polizei zu überlassen. Aber dann soll man weggehen. Dann soll man einfach den Ort verlassen, um nicht dieses Spektakelhafte noch zu vergrößern.
Deutschlandradio Kultur: Wobei dieses Spektakelhafte, das Stehenbleiben, das Eine-Gruppe-Bilden vielleicht genau die Funktion des Hasses ist. Hass ist in diesem Fall eigentlich ein Gemeinschaftsstifter.
Carolin Emcke: Ja, Hass ist – das schreibt Adorno auch schon – ein Gleichmacher. Also, alle, die sich daran beteiligen und die da hineingehen, erleben sich in einem Gemeinschaftsgefühl. Sie schreiben sich selber eine gewisse Form von Macht zu – Klammer auf, immer nur für einen echt kurzen Moment – und sehr, sehr häufig, indem man zwar einerseits Macht ausübt, aber sich gleichzeitig immer als Opfer behauptet, das ist auch ein interessanter Widerspruch darin.
Ich habe in einem anderen Kapitel in dem Buch, das den IS verhandelt, auch beschrieben, dass Hass und solche Ideologien, die andere ausgrenzen und abwerten, auch Mittel zur Distinktion ist. Also, man verschafft sich selber auch einen vermeintlich höheren Status, indem man andere abwertet und verachtet.
"Manchmal beneide ich dieses Rauschhafte und diese Selbstgewissheit"
Deutschlandradio Kultur: Der Sozialpsychologe Ernst-Dieter Lantermann hat neulich in einem etwas bitteren Tonfall zu mir gesagt: Hass ist etwas Wunderbares, weil es eben so viel Sinn und Gemeinschaft stiften kann. – Und bei Ihnen war ich ganz überrascht, relativ zu Beginn schon zu lesen, dass Sie manchmal überlegen, ob Sie eigentlich die, die so aus vollem Herzen und mit voller Überzeugung hassen können, beneiden sollen.
Carolin Emcke: Ja, ich glaube, das, was ich manchmal – ironisch gebrochen jetzt, nicht wirklich ernsthaft – beneide, ist dieses Selbstbewusstsein, diese Sicherheit, dieses so komplett überzeugt zu sein, dass man im Recht ist. Sonst würde man sich nicht trauen, jemanden zu quälen oder zu stigmatisieren oder abzuwerten, wenn man nicht glaubte, man sei im Recht.
Und diese Zuversicht oder Selbstgerechtigkeit hätte ich einfach echt auch gerne. Also, dass man nicht dauernd hadert und immer wieder nochmal fragt: Stimmt das? Ist das richtig? Wen grenze ich damit aus, wenn ich das so formuliere? – Deswegen bin ich auch so erschrocken, wenn Sie sagen, es war irgendwo harsch. Denn die wirkliche Ambition des Buches war, dass mir das nicht passiert, dass mir nicht der Gaul durchgeht, um es mal etwas salopp zu sagen.
In dem Sinne beneide ich zwar dieses Rauschhafte und diese Selbstgewissheit. Und gleichzeitig ist das Buch natürlich auch ein Plädoyer, eben nicht mit denselben Mitteln auf den Hass zu antworten, sich eben nicht dazu bringen zu lassen, dass man genauso aggressiv oder simpel oder verachtend argumentiert.
Deutschlandradio Kultur: In Ihrem Buch arbeiten Sie auch drei Ideen heraus, anhand derer die Zielgruppen des Hasses bestimmt werden können. Das eine ist die Vorstellung, es müsse eine homogene Gesellschaft geben. Das zweite ist die Vorstellung, es müsse eine natürliche Gesellschaft geben, und das dritte, es müsse eine reine Gesellschaft geben.
Ich glaube, das Offensichtlichste, was einem am ehesten auffällt, ist wahrscheinlich die Homogenität. Wer anders aussieht, wer sich anders kleidet, wer anders liebt, wer anders denkt, wer anders lebt, der gehört nicht dazu. Und die Gleichheit wird zur Identität erklärt.
Und die feinen Unterschiede, an denen das abgegrenzt wird, die sind teilweise so aberwitzig und willkürlich, Sie schildern im Buch das Beispiel des Schweinefleischessens, wo ich mich auch gefragt habe: Muss ich denn dann einmal am Tag Schweinefleisch essen, einmal die Woche, einmal im Monat? Reicht einmal im Vierteljahr? Gehören auch Vegetarier noch zum Volk oder nicht?
"Die demonstrieren allen Ernstes fürs Schwein"
Carolin Emcke: Ja, das ist sehr, sehr schön beschrieben. Weil ich das Gefühl hatte, ich muss es mir eben auch tatsächlich mal anschauen, bin ich nach Dresden gefahren und bin an einem dieser Montage auf eine der Pegida-Demonstrationen gegangen. Es war Winter und es war kalt und man war auch nicht wirklich erwärmt, weder innen, noch außen sozusagen. Und dann lief da ein Mensch herum. Der hatte eine Schweinsmütze auf. Da dachte ich, na gut, bei der Kälte, der hat nix anderes im Schrank gehabt, da läuft der halt mit einer Schweinsmütze rum.
Dann bin ich so weitergegangen und da lief da ein Herr, der hatte einen kleinen Holzstab und oben auf dem Holzstab war ein kleines rosafarbenes Spielzeugschweinchen. Und dann erst habe verstanden, worum es da geht. Die demonstrieren allen Ernstes fürs Schwein. Nichts gegen Schweine, aber wenn daran jetzt das Abendland hängt, dann ist es echt verloren. Denn wenn man es jetzt am Schweinefleischessen festmacht, da würde ich mir dann auch echt Sorgen machen. Aber man lacht, bei manchen Sachen denkst du auch, das glaubt mir echt kein Mensch. Du fährst nach Kreuzberg zurück und sagst, da laufen Leute mit Schweinsmützen rum.
Aber dann gibt's natürlich Sachen, die sind weniger witzig. Da sind auch sehr, sehr viele mit Putin-Plakaten. Es ist auch als Atmosphäre wirklich aggressiv. Man schwankt selber auch zwischen einerseits teils auch Schmunzeln über die grotesken Merkmale anhand derer jetzt aussortiert werden soll. Also die Frage Schweinefleischessen. Aber andererseits finde ich es ehrlich gesagt auch absurd, Menschen auszugrenzen aufgrund der Art und Weise, wie sie lieben, oder aufgrund der Hautfarbe.
Deutschlandradio Kultur: Das ist vielleicht das zweite Kriterium, wie Menschen lieben. Dann sind wir nämlich bei der Vorstellung, es müsse eine natürliche Gesellschaft geben. Der Vorwurf, ihr seid nicht natürlich, wie ihr euch verhaltet, der trifft vor allem Lesben, Schwule, Transgender, Menschen, die irgendwie körperlich oder sexuell abweichen. – Warum versetzt sexuelle Vielfalt manche Menschen in regelrechte Panik?
"Mich versetzt Heterosexualität doch auch nicht in Panik"
Carolin Emcke: Da bin ich jetzt der völlig falsche Ansprechpartner für die Frage, denn ich hab keine Ahnung, warum es Menschen in Panik versetzt. Mich versetzt ja Heterosexualität auch nicht in Panik. Insofern kann ich die Frage natürlich nicht beantworten. Außer ich würde sie ideologiekritisch beantworten: dass es eben Erzählungen gibt, die Männlichkeit und Weiblichkeit in einer ganz bestimmten traditionellen Weise definieren und beschreiben wollen, die oftmals mit so etwas wie dem ursprünglichen Geschlecht oder der ursprünglichen Ehe oder der ursprünglichen Familie argumentieren, die Körpern so eine eigentümlich sakrale, religiös aufgeladene Natürlichkeit zuschreiben.
Deutschlandradio Kultur: Hat es diesen Naturzustand denn je gegeben?
Carolin Emcke: Nein, das glaube ich nicht. Weder glaube ich, dass die Körperlichkeiten in diesen Kategorien jemals wirklich so einfach gepasst hätten. Und man muss sagen, es ist eine eigentümliche Kategorie, sich heutzutage auf Natürlichkeit zu berufen. Wir sind wahnsinnig dankbar, dass wir medizinische Verfahren kennen, die uns helfen, Krankheiten zu beheben. Wir sind dankbar, wenn es plastische Chirurgie gibt im Fall von schwersten Verwundungen oder Verletzungen. Wir leben im Zeitalter des Anthropozän. Es ist gar nicht mehr klar, was ‚Natur‘ überhaupt noch heißen soll.
Aber dann wird auf einmal, wenn es darum geht, Transpersonen auszusondern – als irgendwie ihrem ursprünglichen Geschlecht nicht entsprechend oder eben natürlicher Körperlichkeit nicht entsprechend –, dann wird auf einmal Rekurs genommen auf diesen Begriff. Insofern, glaube ich, ist es einfach interessant, sich nochmal anzuschauen, mit welchen Begriffen oder Erzählungen zurzeit manche Menschen als zugehörig und andere eben als nicht zugehörig erklärt werden.
Deutschlandradio Kultur: Daraus schließe ich, dass Sie bei ihren Recherchen und Ihren Besuchen auch niemanden gefunden haben, der mit dem Argument der Natürlichkeit gegen Herzschrittmacher oder dergleichen demonstriert hätte.
Carolin Emcke: Nein. Genau. Ich habe in dem Buch auch an einer Stelle geschrieben, na ja, wenn man sagen würde, nur Menschen, die Stottern, dürfen verbeamtet werden oder nur Linkshänder dürften das Recht auf Versammlungsfreiheit wahrnehmen oder nur Homosexuelle dürften Kinder adoptieren, dann würde einem sofort einleuchten, dass das willkürliche Kriterien sind, dass da Eigenschaften festgelegt werden für Zugang oder Partizipation oder für Rechte, die unangemessen sind.
Ich glaube, es gibt aber andere Formen der Ausgrenzung, die sind genauso willkürlich, genauso absurd, die gibt es nur schon so lange, dass sie einem nicht mehr auffallen.
Ich habe neulich ein Interview gegeben einem Kollegen, der, als das Tonbandgerät aus war, mich anschaute und sagte: Ja, meine Frau ist ja auch gegen die Homo-Ehe. Also, die hat nix gegen Schwule und Lesben als einzelne Personen, aber die findet halt, die sollen nicht heiraten. – Und das Interessante war das ‚die‘ in dem Satz. Das Interessante war nicht die Position, das kenne ich ja, das lese ich, das ist ja Gesetz. Das Interessante war, dass jemand vor mir sitzt und zu mir spricht und "die" sagt und offensichtlich einfach dieses Ressentiment so im toten Winkel irgendwie der eigenen Wahrnehmung ist, dass ihm gar nicht aufgefallen ist, was er da macht.
"Sie können keine Ambivalenz aushalten"
Deutschlandradio Kultur: Also, die Einzelperson wird unsichtbar. Das wird in Ihrem Buch auch sehr deutlich. Und der Mensch wird nur noch als Stellvertreter des Andersartigen begriffen.
Die dritte Idee, die Sie herausarbeiten nach der Homogenität und nach der Natürlichkeit, ist die Reinheit. Und die beobachten Sie vor allem bei Islamisten, bei der Ideologie des Islamischen Staates. Ich hatte den Eindruck, dass diese Begründung für Hass, die Gesellschaft müsse rein sein, dass das eigentlich eine Chiffre ist, die dieselbe Funktion erfüllt wie bei anderen eben die Homogenität und dort die Reinheit oder die Natürlichkeit.
Haben also Islamisten und Islamhasser mehr gemein, als ihnen lieb sein dürfte?
Carolin Emcke: Ja, ich glaube, das ist richtig. Ich habe zwar versucht, die Homogenität und Ursprünglichkeit und Reinheit als Kategorien der Ausgrenzung separat zu verhandeln. Aber natürlich sind sie dauernd miteinander verwoben und sie überlagern sich auch oft in Viskosen. Bei der Reinheit habe ich mir speziell die Dschihadisten und den IS angeschaut, weil Reinheit auch noch ein religiöses Moment hat – von Selbstreinigung, von Purifizierung – und auch einen eigentümlichen Rigorismus, der bei den anderen vielleicht nicht so stark ist.
Aber natürlich ist auch bei den völkischen Nationalisten, die ich eher unter dem Kapitel der Homogenität verhandelt habe, genau ein solcher Fetischismus des Reinen. Insofern, glaube ich, funktionieren die auch wie Spiegelfiguren. Sie brauchen sich auch gegenseitig, glaube ich. Worin sie sich ähneln ist, dass sie Ambivalenz nicht aushalten können. Es muss immer alles eindeutig sein. Jedes totalitäre Regime hat das auch. Sie können Hybridität nicht aushalten. Sie können eine Vielfalt und ein friedliches Miteinander verschiedener Kulturen oder Religionen nicht aushalten.
Das ist genau der Grund, weswegen ich glaube, dass das die beste Antwort auf diese Fanatiker der Reinheit ist: dass wir diese Vielfalt nicht selber verleugnen, sondern im Gegenteil feiern.
"Sich auf keinen Fall selbst radikalisieren"
Deutschlandradio Kultur: Deshalb heißt ja auch eins Ihrer Kapitel "Lob des Unreinen". Sie machen darin sehr deutlich, was Sie gerade schon angedeutet haben: wie wichtig Selbstzweifel und Differenzierung sind. Sie haben sich auch am Anfang gewehrt gegen meine Fragen. Und in der Tat machen Sie im Buch auch sehr deutlich, dass es Ihnen wichtig ist, dass wir auf radikalisierten Hass nicht genauso radikal antworten. Ich habe aber den Eindruck, dass das sehr viele in der Tat tun, gerade die Wohlmeinenden, dass die sich umso sicherer sind, dass sie doch Recht haben.
Drehen damit die, die es eigentlich gut meinen, genauso mit an der Radikalisierungsschraube?
Carolin Emcke: Ich glaube, das ist genau das Risiko. Das ist genau die Gefahr. Ich glaube, die Gefahr ist, dass man sich drängen lässt oder dass man sich auch verhärten lässt.
Ich muss zugeben, dass ich das natürlich auch von mir selber kenne. Ich kenne das auch, dass, wenn jemand permanent angegriffen wird oder permanent einem Rechte entzogen werden oder permanent schlecht über einen gesprochen wird, dass man natürlich irgendwann auch so eine Schutzschicht verliert. Und man wird auch härter darin. Manchmal möchte man sich auch nicht gerne solchen Situationen aussetzen, in denen man mit Menschen diskutiert, die jemandem wie mir ganz offensichtlich einfach Rechte absprechen.
Insofern kenne ich dieses Risiko oder diese Verführung auch. Das kenne ich auch von mir selber. Ich glaube nur, dass das wirklich fatal ist.
"Ich würde sagen, es gibt Grund zur Hoffnung"
Einerseits bin ich wirklich große Anhängerin des Gewaltmonopols. Ich bin ausgesprochen dankbar, dass es eine Polizei gibt, die sich solchen Situationen aussetzt. Ich habe trotz der Kritik, die es an dem Buch an einzelnen Stellen gibt, auch wirklich grundsätzlich erst einmal ungeheures Vertrauen und auch eine gewisse Dankbarkeit für die Arbeit, die die machen. Insofern würde ich unbedingt und immer dafür plädieren, dass man ruhig bleibt, dass man auf gar keinen Fall sich jetzt selber radikalisiert oder gar zu Gewalt aufruft. Ich halte auch überhaupt nichts von Angriffen auf die Büros von der AfD.
Also, ich würde tatsächlich immer wieder versuchen, dem mit allen zivilen kreativen lebendigen Mitteln zu widerstehen. Und sehr, sehr viele Bürgerinnen und Bürger haben das ja im letzten Jahr auch gemacht, die sich völlig selbstverständlich um Geflüchtete gekümmert haben. Das, finde ich, war das Beste, was man gegen den Hass tun kann.
Dem Hass etwas entgegenzusetzen heißt auch, Phantasien des Glücks zu entwickeln, Geschichten vom wirklich gelungenen Leben und Lieben zu erzählen, denn auch die nehmen denen die Räume weg. Und da, würde ich sagen, gibt es Grund zu Hoffnung.
Deutschlandradio Kultur: Frau Emcke, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
Carolin Emcke: Gern geschehen, vielen Dank.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.