Friederike Mayröcker: "da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
202 Seiten, 24 Euro
Momente der Vergänglichkeit
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Mehr als 80 Bücher hat die Dichterin Friederike Mayröcker veröffentlicht. Ihr neues "Proem" – ein Mix aus Poesie und Prosa – lässt einen staunen: Die Wahrnehmungsschnappschüsse und Kindheitserinnerungen sind in diesem Band so radikal wie nie.
Im neuen, vielleicht letzten Buch der großen Dichterin Friederike Mayröcker fungiert eine winzige Schere als magisches Objekt. Es ist eine Schere, die nicht nur verbal, in Wortgestalt, aufgerufen wird, sondern als kleine Bleistiftzeichnung im Buch an mehreren Stellen präsent ist, wie eine geheime Signatur.
Eine solche Schere ist – als große Metapher für das Zerschneiden und Collagieren von Wörtern und Sprachbildern – seit je das Werkzeug von großen Phantasiekünstlern und Surrealisten. Die Bücher von Friederike Mayröcker sind seit nunmehr fast 70 Jahren sehr fein gesponnene Gewebe, "magische Blätter", die aus rauschhaften Naturwahrnehmungen, Schlagzeilen, Gedächtnissplittern, Kindheitsbildern und Traumszenen gefügt sind. Dank ihrer überwältigenden Einbildungskraft entstehen daraus leuchtende Mosaike.
Selbst die eingeschmuggelten Zitate sind oftmals Erfindungen, geboren aus fantastischen Verdrehungen von Wörterfunden auf den Notizzetteln, die in ihrer legendären Schreibhöhle in der Zentagasse in Wien gesammelt sind.
Avantgardismus und Klassismus verquicken
Nach über 80 Büchern hat die mittlerweile 95-jährige Autorin angekündigt, nun ihr letztes Werk vorzulegen, ein weiteres "Proem", wie sie die wilde, offene Form zwischen Poesie und Prosa nennt. In diesem "Proem", das bereits im Titel "da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete" eine gewisse grammatische Anarchie an den Tag legt, hat sie Eintragungen vom September 2017 bis zum November 2019 versammelt.
Dabei folgen die Datierungen nicht unbedingt einer Tagebuch-Chronik, sind doch die Textcollagen der Autorin aus unterschiedlichsten Werkphasen kompiliert. In einer Notiz zu dem häufig zitierten Universalkünstler Man Ray wird ein Brief des Künstlers aus den 1970er Jahren zitiert und mit Erinnerungssplittern, Sprach- und Farbassoziationen aus der Gegenwart des schreibenden Ich verflochten.
Diese beständige Aufladung der Wahrnehmungs-Schnappschüsse mit Farbempfindungen gehört zu den Ingredienzen der Mayröckerschen Texturen, wobei die Farbe Weiß, die Urfarbe der historischen Avantgarde, eine zentrale Rolle spielt. Nicht ohne Ironie notiert die Autorin mehrfach, dass sie bestrebt sei, "Avantgardismus und Klassizismus zu verquicken".
Gleich auf der ersten Seite wird in einer Reminiszenz an den Dichterkollegen Alfred Kolleritsch das "weisze Lämmchen im blauen Himmel" beschworen, ein surrealistisches Bild, auf das später die "weizse Taube auf einer schwarzen Leinwand" des Malers Arnulf Rainer folgt. Und als kurz darauf eine Krankenhaus-Szene imaginiert wird, in der sich Mayröckers Erzähl-Ich als "Debütantin des Todes" vorstellt, entfaltet sich erneut die Assoziation einer "weiszen Haut auf meinem Mangoldherzen."
Erwartung des näherrückenden Todes
All diese Figurationen des Weißen überlagern sich mit anderen blendenden Farbempfindungen, dem "blauen Nadelkissen", der "kl. purpurroten Zunge, auf dem Küchenboden" oder dem leuchtenden "moosgrün" im Buchtitel. "Ich arbeite ein wenig wie Malerin", heißt es an einer Stelle, "ich meine die Farbe grau wie Asche wie Staub wie Sperlinge wie Regen wie Dämmerung wie Eleganz, Ockerfarbe auf Herz montiert."
Im vielleicht letzten "Proem" Friederike Mayröckers verschränken sich diese sinnlichen Farbwahrnehmungen mit scharf konturierten Szenen aus der Kindheit und Erwartungen des näherrückenden Todes. Erinnerungen an die Kindheitssommer im niederösterreichischen Deinzendorf und Momente der Vergänglichkeitsgewissheit werden synchronisiert, Visionen des Werdens und des Erlöschens gehen in Mayröckers "Proem" ineinander über.
Gegen Ende häuft sich die Hölderlinsche Klageformel "weh mir". In einer der schönsten Phantasien entwirft die Dichterin das Bild einer Lesung auf dem Mond, gemeinsam mit dem Kollegen Durs Grünbein. Sie verknüpft das mit einem Kindheitsbild, in dem sie sich als "kl. Mädchen" mit "groszer schwarzer Masche im Haar" imaginiert, "dasz ich (etwa) aussah wie Nachtschmetterling". Als "Nachtschmetterling" in bleicher Mondlandschaft kann man sich die fantastische "Proem"-Dichterin gut vorstellen.