Friedrich Ani: "Bullauge"
© Suhrkamp
Der blinde Fleck
03:19 Minuten
Friedrich Ani
Bullauge Suhrkamp, Berlin 2022267 Seiten
23,00 Euro
Friedrich Anis Krimi „Bullauge“ erzählt von einem Polizisten, der nach einem Angriff auf einer Querdenker-Demonstration nicht mehr zurück ins Leben findet. Mit seiner körperlichen und psychischen Versehrtheit ist er allerdings nicht allein.
Kay ist 54 Jahre alt und geschieden, ein ziemlich durchschnittlicher Münchner Streifenpolizist. Als er Dienst auf einer Querdenker-Demonstration versieht, dreht sich sein Leben in einem kurzen Moment der Unaufmerksamkeit um 180 Grad. Aus den Reihen der Protestierenden fliegt eine Bierflasche, die in seinem Gesichtsfeld zersplittert. Kurz darauf sitzt er fürs Erste beurlaubt zu Hause: das linke Auge unter einer Klappe, erblindet.
Anschlagspläne einer völkischen Splitterpartei
Die Ruhelosigkeit treibt Kay vor die Haustür einer Verdächtigen: Silvia Glaser läuft seit einem Unfall am Stock und pflegt deswegen einen glühenden Hass auf die Polizei. Hat sie die Flasche geworfen? Trotzdem sucht sie in den folgenden Tagen überraschenderweise Kays Nähe. Denn Silvia ahnt, dass die völkische Splitterpartei, mit der sie in Kontakt steht, eine Aktion plant, die sie nicht mittragen will. Aber um einfach auszusteigen, ist es zu spät.
In zwei etwa gleich lange Teile hat Friedrich Ani seinen neuen Krimi „Bullauge“ unterteilt. Im ersten Teil gewährt er einen Blick in die untersten Seelenschichten des in seinen Grundfesten erschütterten Kay. Unsanft aus seiner Routine gerissen verfällt dieser immer öfter ins Grübeln, innere Monologe steigern sich in emotionale Notlagen hinein: streams of (un)consciousness. Das schafft unerwartete Nähe zu dieser Figur; diesem kaputten, verunstalteten, alternden Typen, der zu allem Überfluss auch noch ein Cop ist.
Kampf um einen Platz in der Gesellschaft
Mit seiner körperlichen und psychischen Versehrtheit ist Kay in „Bullauge“ nicht allein. Die meisten Figuren behaupten hier gegen eine ganze Reihe von Widerständen geradezu trotzig ihren Platz in der Welt: eine Polizistenwitwe, die seit dem Tod ihres Mannes die Blumen vor dem Präsidium päppelt, oder etwa ein Nachbar, der nach dem Kollaps seine Berufung als Clown im Kinderkrankenhaus findet. Wie genau fühlt man sich eigentlich als nützlicher Teil der Gesellschaft, scheint Ani zu fragen, und lässt seine Protagonisten im zweiten Teil des Krimis um eine Antwort kämpfen. Ihre selbstauferlegte Mission beginnt: Es gilt einen Terroranschlag zu verhindern.
Auf welchem Auge sind wir blind?
Durch Kay hindurch blicke sie auf ein schwarzes Meer, so formuliert es Silvia einmal. Daneben lässt sich der Titel natürlich auch wortwörtlich nehmen: das Bullauge ist das Bullenauge, das verbliebene linke, wohlgemerkt. Friedrich Ani thematisiert hier nicht zum ersten Mal die drohende Gefahr von rechts, nur tut er es diesmal aus der sehr spezifischen Perspektive eines eben nicht auf dem rechten Auge blinden Polizisten. Und bezeichnenderweise bleibt dieser dennoch ein Außenseiter.
Die Verbindungen der rechten Staatsfeinde reichen hier bis in die inneren Reihen der Gesetzeshüter, gleichzeitig verschweigt Ani aber auch die teils prekären Bedingungen der Polizeiarbeit nicht, die Schwierigkeiten, im Schichtsystem unter permanentem Druck ein funktionierendes Sozialleben aufrecht zu erhalten, geschweige denn Ehen und Familien.
Alle sitzen im selben Boot
In Kays Krise manifestiert sich so die Krise einer ganzen Institution, und Anis psychologischer Ansatz macht es unmöglich, das von sich zu weisen - die Probleme der Polizei, daneben die Wahnvorstellungen der Querdenker, davon fein säuberlich abgegrenzt die braven Bürger der Mitte? Nein. Wir sitzen alle im selben Boot, und hinter dem Bullauge lauert das schwarze Meer.