Friedrich Ani: Ermordung des Glücks
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
317 Seiten, 20 Euro
Schuld und Selbsttäuschung
Kein deutschsprachiger Autor ist so oft mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet worden wie Friedrich Ani. Jetzt ist sein neuer Kriminalroman "Ermordung des Glücks" erschienen - und der ist wieder sehr preisverdächtig, sagt unser Kritiker.
Kriminalromane sind Friedrich Anis Königsdisziplin, er schreibt aber auch Drehbücher, Gedichte, Songs und Theaterstücke. In seinen Kriminalromanen geht er dorthin, wo es weh tut, in die oft nicht mehr nachvollziehbaren, den Betroffenen wie den Außenstehenden kaum noch erklär- und beschreibbaren Zonen des Schmerzes.
"Ermordung des Glücks" ist ein ungeheurer, pathetischer Titel. Der elfjährige Lennard, talentierter Fußballer, ein fröhliches Kind und begabter Musiker, ist an einem stürmischen Novembernachmittag nicht von der Schule nach Hause gekommen. Sein Fußball, sein Ranzen und sein Fahrrad sind verschwunden. Vierunddreißig Tage später überbringt der pensionierte ehemalige Leiter der Mordkommission Jakob Franck den Eltern die Todesnachricht. Ihr Junge wurde erschlagen aufgefunden.
Ermordetes Glück
Bereits in seiner aktiven Zeit als Kommissar hat Jakob Franck freiwillig die schwere Aufgabe übernommen, die Todesnachrichten zu überbringen. Auch jetzt unterstützt er so seine ermittelnden Kollegen und will den Angehörigen helfen, das Leid zu ertragen. Vier Todesfälle konnte Franck nicht aufklären, dieser soll nicht der fünfte werden. Er will den Eltern Tanja und Stephan Grabbe und dem Onkel Maximilian Hofmeister sagen können, wer ihren Jungen getötet hat. Doch trotz aller Anstrengungen der Ermittler ergibt sich keine Spur.
Was geschieht mit den Menschen, deren Glück ermordet wurde? Ani lässt sie immer wieder in Spiegel schauen: Sie erkennen ihre Gesichter nicht, wissen immer weniger, wen sie da vor sich sehen. Sie lösen sich auf. Ani findet ungesehene Bilder und unerhörte Worte für diese Prozesse der Selbsttötung bei lebendigem Leibe.
Alte Traumata
Im Zuge dieser Erschütterung aller Gewissheiten werden alte Traumata wieder wach. Die Schuldgefühle der Eltern und Verwandten finden auf der Suche nach Objekten, an denen sie festmachen können, eingebildete und tatsächliche Vergehen in der Vergangenheit, die wieder neue Schuldgefühle und Zerstörungen auslösen.
Franck gräbt, bohrt, buddelt, unbeirrbar bis zum Zusammenbruch. Seine an Hunderten Fällen und noch mehr Vernehmungen geschulten Sensoren reagieren auf kleinste Unechtheiten, winzigste Zeichen der Selbsttäuschung. Wie ein Therapeut versteht er es, den Zeugen ihrer Aussagen leicht zu machen, wie eine Hebamme - schon Sokrates bezeichnete sich so - hilft er ihnen, uneingestandene Gedanken auszusprechen. Es ist ein Hoheslied der kriminalistischen Intuition, die die Wahrheit in den Tatsachen sucht. Weshalb sich die Kriminalisten auch "Sachbearbeiter" nennen.
Und so wird es Jakob Franck - gegen jede Wahrscheinlichkeit, nach Überwindung felsenhafter Widerstände - gelingen, den "Schatten des Täters", der unfassbar durch die Erinnerungen, Aussagen und Protokolle geisterte, zu identifizieren. Ohne dass dies den Eltern, dem Onkel oder den Ermittlern auf Erden Frieden bringen würde, eher im Gegenteil. Aufklärung ist noch lange keine Erlösung. Weshalb das letzte Kapitel im Himmel spielt, als Gespräch zweier ermordeter Kinder. Die auch im Himmel noch Angst haben. Friedrich Ani könnte glatt zum achten Mal den Deutschen Krimipreis erhalten.