Friedrich Burschel (Hrg.): "Das faschistische Jahrhundert. Neurechte Diskurse zu Abendland, Identität, Europa und Neoliberalismus"
Verbrecher Verlag, 2020
258 Seiten, 19,00 Euro
Schon wieder geht das Abendland unter
05:08 Minuten
„Abendland“, „Ethnopluralismus“, „Jungeuropa“: Der Sammelband „Das faschistische Jahrhundert“ von Friedrich Burschel zeigt, wie der moderne Faschismus sich seine Begriffe zurechtlegt. Eine Tiefenbohrung ins Denken der "neuen" Rechten.
Als Benito Mussolini im Jahr 1932 von einem "faschistischen Jahrhundert" sprach, war der Faschismus in Europa auf seinem Höhepunkt und die Prognose damit durchaus plausibel. Bezieht man die Prognose auf das 20. Jahrhundert, lag Mussolini falsch. Wenn man das Jahrhundert, von dem Mussolini spricht, allerdings auf die 100 Jahre seit der Gründung des Faschismus bezieht, dann "verändert sich die Geschichte, die wir uns selbst erzählen, radikal", so der Faschismusforscher Roger Griffin in seinem Essay.
Begriffstraditionen von Oswald Spengler bis heute
In dem Sammelband "Das faschistische Jahrhundert" geht es um die neuen Erscheinungsformen, in denen der Faschismus seit den 2000er-Jahren in die Politik zurückgekehrt ist. Anders, als der Titel vielleicht erwarten lässt, bietet der Band allerdings keine zusammenhängende Geschichte der Rückkehr des Faschismus, die sechs Essays unternehmen vielmehr historische Tiefenbohrungen einzelner Begriffe und Phänomene.
In seinem Essay "Deutschland ist Abendland" (so ein Ausspruch des Pegida-Initiators Lutz Bachmann) untersucht der Politikwissenschaftler Felix Korsch die Karriere des Worts "Abendland", das seit Oswald Spenglers "Der Untergang des Abendlands" im politischen Bewusstsein präsent ist.
In seinem Essay "Deutschland ist Abendland" (so ein Ausspruch des Pegida-Initiators Lutz Bachmann) untersucht der Politikwissenschaftler Felix Korsch die Karriere des Worts "Abendland", das seit Oswald Spenglers "Der Untergang des Abendlands" im politischen Bewusstsein präsent ist.
Seit dem Mittelalter wurde das Abendland zur Abwehr des "Heidnischen" herangezogen, später kam er gegen den Bolschewismus und dann den Kommunismus in Anschlag, wobei Europa und die USA vorübergehend zu einem "Superabendland" verschmolzen. Nachdem der Begriff in den 1960er-Jahren in Vergessenheit geriet, kehrte er durch Thilo Sarrazin und Pegida im 21. Jahrhundert wieder in die politische Arena zurück: In der auf diese Weise modernisierten Version dient er nun der Abwehr des Islam.
Rassisten reden heute von "Ethnopluralismus"
Was die Lesbarkeit angeht, sind die einzelnen Essays des Bandes von unterschiedlicher Qualität. In den Ausführungen des Soziologen Felix Schilk über das Verhältnis von Konservatismus und Neoliberalismus in der neurechten Ideologie etwa türmen sich die Begriffe und Zitate, sodass man sich in dem Text nur schwer zurechtfindet. Aufschlussreicher ist Volkmar Wölks suggestiv betitelter Essay "Alter Faschismus in neuen Schläuchen?".
Anhand des Konzepts des Begriffs "Jungeuropa" zeigt Wölk verborgene Traditionslinien auf: Der Begriff geht auf den Vormärz zurück, wurde in der Zwischenkriegszeit zum Schlagwort für die Ablehnung des Versailler Vertrags, bekam im Nationalsozialismus eine eigene Zeitschrift – um 2016 mit der Gründung des Dresdner Jungeuropa-Verlags bei den "neuen" Rechten in der Gegenwart fröhlich Urständ zu feiern.
Wie selbstverständlich sich die neue Rechte bereits vorhandene Begriffe aneignet und umdeutet, zeigen Natascha Strobl und Julian Burns in ihrem Aufsatz über die Identitären. Sei es Antonio Gramscis Idee der kulturellen Hegemonie, die "nach rechts gedreht" und als Anleitung der Verschiebung des Diskurses benutzt wird, oder das Label "Ethnopluralismus", das einen modernen Rassismus bemäntelt – das Prinzip bleibt sich immer gleich.
Wie selbstverständlich sich die neue Rechte bereits vorhandene Begriffe aneignet und umdeutet, zeigen Natascha Strobl und Julian Burns in ihrem Aufsatz über die Identitären. Sei es Antonio Gramscis Idee der kulturellen Hegemonie, die "nach rechts gedreht" und als Anleitung der Verschiebung des Diskurses benutzt wird, oder das Label "Ethnopluralismus", das einen modernen Rassismus bemäntelt – das Prinzip bleibt sich immer gleich.
In seinem Vorwort warnt der Herausgeber Friedrich Burschel davor, die faschistische Ideologie der "neuen" Rechten mit dem Begriff "Theorie" zu adeln. Nach der Lektüre der Essays pflichtet man ihm bei: Die Seriosität der Politikwissenschaft steht in einem denkwürdigen Gegensatz zur Pseudowissenschaftlichkeit der faschistischen Inszenierungen, die sie untersucht.