Friedrich Christian Delius: "Die sieben Sprachen des Schweigens"
Rowohlt Berlin, 2021
190 Seiten, 20 Euro
Dicht an der Zeitgeschichte
05:56 Minuten
Zeitgeschichte, Autobiografie und Literaturbetrieb - das sind drei essenzielle Themenkreise des Schriftstellers Friedrich Christian Delius. Sein neues Buch "Die sieben Sprachen des Schweigens" verbindet sie eindringlich miteinander.
In der ersten der drei essayistischen Erzählungen ("Die Jerusalemer Krawatte") besucht der Schriftsteller einen deutsch-israelischen Schriftstellerkongress in Jerusalem. Er trägt dort einen kurzen Text mit dem Titel "Ich war Isaak" vor. Die knapp vermiedene Opferung Isaaks schildert er darin aus dessen Sicht. Die von Gott geforderte Schlachtung des geliebten einzigen Sohnes ist ein zentraler Mythos in Judentum, Christentum und Islam. Theologen feiern die Güte Gottes - im letzten Moment habe er durch den Eingriff eines Engels das Menschenopfer verhindert und durch das Tieropfer ersetzt.
Wie viele durch diese schreckliche Geschichte beunruhigte Menschen sieht Delius jedoch die problematischen Aspekte. Was ist das für ein Gott, der selbst seinen frömmsten Anbeter noch derart sadistischen Gehorsamsproben unterzieht und unbedingte Unterwerfung fordert? Und welchen Schaden nimmt ein halbwüchsiger Junge, wenn sein Vater mit dem Schlachtermesser auf ihn losgeht?
Autobiografische Unterfütterung
Vielleicht ein wenig zu sehr betont Delius, wie sein Vortrag die Schriftstellerlollegen beeindruckt habe. Dabei ist das Isaaksopfer seit langem für jeden Religionskritiker von Richard Dawkins bis Kurt Flasch ein Skandalon. Interessant wird dieser Text jedoch durch die autobiografische Unterfütterung.
Delius ist selbst Sohn eines Pfarrers. Sein Vater starb früh und hat bei ihm offenbar nachhaltige Ängste und einen christlichen Schaden hinterlassen. Es ergeben sich eindrucksvolle Querverbindungen zwischen dem Tempelberg und den hessischen Dorfkirchen, zwischen fürs Leben eingeprägten Kinderbibelbildern und den Eindrücken in Israel. Dank der Verschränkung der Ebenen ist der Text im Gesamten stärker als seine Teile.
Erscheinungsformen des Schweigens
Als Kunstwerk der Verknüpfung erweist sich auch der längste Text, der dem Band den Titel gibt. Gekonnt verbindet Delius hier die Beschreibung eines schweigsamen Spazierganges an der Seite des frisch gekürten Nobelpreisträgers Imre Kertész (der nur K. genannt wird) mit vielfältigen gedanklichen Exkursen: über das Böse und die mediale "Industrie der Verbrechensausschlachtung" im krimisüchtigen Deutschland, über einen Stellvertreter Eichmanns (Hermann Krumey), der maßgeblich an der Deportation der ungarischen Juden nach Auschwitz mitwirkte und nach 1945 im hessischen Korbach eine Drogerie betrieb, in der auch Familie Delius einkaufte.
Es geht um eigene Erfahrungen der Todesangst und schließlich die Erscheinungsformen des Schweigens, vom Schüchternheitsschweigen über das Machtschweigen bis zum Schweigen der Schuld. Delius beschreibt, wie er selbst in der Kindheit erst zum Stotterer und dann zum Schweiger wurde. Das angestrengte Ringen um das richtige Wort, bei dem man nicht an sperrigen Konsonanten hängenbleibt - er begreift es als Anfang seiner schriftstellerischen Arbeit, die immer eine Suche nach dem gelingenden Satz ist.
Eine gewisse Weitschweifigkeit
Die Texte sind gefügt aus kürzeren Segmenten von etwa zehn Zeilen, jeweils ein Satz, der am Ende in eine Pause verschwebt. Diese musikalisch rhythmisierte Prosa zu lesen ist ein Vergnügen, auch wenn die disziplinierte Form bisweilen eine gewisse Weitschweifigkeit überspielt. Das gilt vor allem für den dritten Text, in dem der Autor von seiner schweren Lungenviruserkrankung erzählt, die eine Intubation erforderlich machte und dem Schriftsteller ein Nahtod-Erlebnis und burleske Halluzinationen im Koma-Delirium bescherte. Bereits 2008 war das, aber man hat den Eindruck, dass Delius hier wieder einmal dicht an der Zeitgeschichte schreibt - der allerneusten, von Corona bestimmten.