"Das Schreiben war meine Rettung"
Im Mai 1966 besuchte Friedrich Christian Delius ein Free-Jazz-Konzert in New York. Was ihn zunächst verstörte, wurde zu einem Aufbruch. Nun hat Delius seine Erfahrungen als junger Mann in der autobiografischen Erzählung "Die Zukunft der Schönheit" verarbeitet.
Frank Meyer: "Die Zukunft der Schönheit", so heißt das neue Buch von Friedrich Christian Delius, heute kommt es in die Buchläden. Der Büchner-Preisträger Friedrich Christian Delius hat Romane über die 68er-Zeit geschrieben, eine Romantrilogie zum Deutschen Herbst unter anderem. Sein neues Buch, das ist eine autobiografische Erzählung, ein Text, der einem sehr nahekommt, muss ich sagen. Er führt 52 Jahre zurück in die Vergangenheit zu einem Jazzkonzert, das Friedrich Christian Delius am 1. Mai 1966 erlebt hat in einem Jazzkeller in New York City, und jetzt ist der Autor hier bei uns im Studio. Seien Sie willkommen, Herr Delius!
Friedrich Christian Delius: Guten Morgen!
Meyer: Über 50 Jahre ist das also her, diese Nacht, damals in New York. Was hat das denn jetzt wieder aufgerührt in Ihnen?
Delius: Ich hatte vor 18 Jahren die erste Idee dazu, dass ich über diese Zeit als ganz junger Autor, der ich ja war mit 23 damals, eingeladen bei der Gruppe 47, das ist schon eine spannende Geschichte ohnehin, aber dann noch eine Woche in New York war, und der Abschluss war eben dieses wirklich wilde, wilde Konzert von Free Jazz, von Albert Ayler, und ich habe das immer im Kopf gehabt all die Jahrzehnte als sozusagen einen emotionalen Schlüssel, auch für die eigene Arbeit, und habe mich aber nie rangetraut, weil das mit Pubertät und Jugend zu tun hat und so weiter. Ich habe ja dann erst relativ spät angefangen, ein bisschen autobiografischer zu schreiben, über meine Eltern, "Bildnis der Mutter als junge Frau", diese Erzählung geschrieben, und davor noch "Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde" über den elfjährigen Jungen, der ich war, und jetzt nehme ich mir die Freiheit zum ersten Mal in meinem etwas höheren Alter, über mich als Jugendlichen zu schreiben und zum ersten Mal direkt auch über mich.
Wenn die Gedanken losrauschen ...
Meyer: Sie sind Jahrgang 43, also waren Sie damals 23 Jahre alt, ein junger Autor, Student noch, der schüchternste der schüchternen Jungdichter, so stellen Sie sich da selbst vor in diesem Text, und jetzt gehen Sie da rein, nehmen einen an die Hand, bringen einen in diesen Keller in New York, sodass man das miterlebt, was Sie damals miterlebt haben. Man fragt sich beim Lesen sofort, weil Sie so detailliert beschreiben, was Sie gehört haben, was Ihnen durch den Kopf gegangen ist, ob Sie das damals schon festgehalten haben, ob Sie das jetzt rekonstruiert haben?
Delius: Nein, ich habe damals überhaupt nichts festgehalten, auch überhaupt keine Notizen. Ich habe das nachträglich wieder ein bisschen recherchieren können, und dann habe ich irgendwann mal meinen Schriftstellerkollegen Marcel Bayer davon erzählt, der fünf Jahre nach mir dann den Büchner-Preis bekommen hat, aber das war vor – ich kann es ziemlich genau sagen – acht Jahren, sprachen wir darüber, und der sagte, oh, du hast Albert Ayler gehört, der große Albert Ayler, und der war ganz begeistert, und ich hatte wenig Erinnerung. Drei Wochen später kam er und hatte mir aus dem Internet Mitschnitte, natürlich so illegale Mitschnitte dieser Konzerte, die Albert Ayler, der ja früh gestorben ist – schon zwei Jahre später war er tot –, mitgebracht, und genau das Konzert auch, was ich damals in New York gehört hatte, hatte ich plötzlich auf CD. Dann dachte ich, nein, jetzt musst du das schreiben, nachdem ich vorher also da hin und her überlegt hatte, geht das, reicht das, und nachdem ich diese CD hatte von Marcel Bayer, dachte ich, jetzt musst du loslegen. Dann habe ich angefangen, und dann habe ich gemerkt, wie nach und nach, also ich habe sozusagen die CD oft gehört und habe dann also versucht zu rekonstruieren, wie könnten die Gedanken gewesen sein, und wenn Sie einen so richtig … Es geht mir auch im Symphoniekonzert, auch in der Oper so, dass einfach die Gedanken losrauschen, wohin sie wollen, und das ist gerade das Schöne dran, dass man da frei ist, und dann habe ich gemerkt, dass da doch sehr viel drinsteckt, und habe dieses Konzert sozusagen zum Rahmen genommen.
Meyer: Interessant oder ein wichtiges Moment des Konzertes ist ja, dass diese Musik offenbar etwas in Ihnen in Gang setzt. Sie kommen da rein in diesen Keller, und die erste Empfindung, die Sie haben, die schreiben Sie auch ausdrücklich hin, das ist ja Katzenmusik, das sind ja nur schräge Töne, ist das überhaupt Musik. Also Sie sind diese Art Musik Free Jazz damals auch nicht gewohnt gewesen, und dann setzt diese Musik aber was in Gang, und Sie kommen auch hinein in diese Musik. Können Sie beschreiben, was das Spezifische an dieser Musik war, was dann so Starkes in Ihnen ausgelöst hat?
Delius: Na ja, das ist das Verstörende und dass man erst mal ablehnt und dass sich erst mal alles sträubt dagegen, bis man dann, wenn man eben Geduld hat oder sich auf was einlässt, warum machen die das eigentlich, und dann versteht, das ist ja ein Protest, das ist ja ein ganz wilder Protest, das war ja mitten im Vietnamkrieg. Die Leute, die dort spielten, waren ja potenzielle Soldaten, das darf man nicht vergessen, es gab die Wehrpflicht. Also alle jungen Amerikaner mussten dahin, und das war ein Protest gegen alles, und wir waren ja auch schon in der Generation, vor 68 fangen wir auch schon so ein bisschen an, sozusagen, wir hatten ja auch schon gegen den Vietnamkrieg hier in Berlin demonstriert. Also da stellte sich plötzlich so eine Brücke her und dass man sozusagen erst durch das Harte und Schlimme und Widerwärtige durchmuss, um zu etwas hinzukommen. Das habe ich vermutlich ansatzweise begriffen damals, also dass man sich nicht abschrecken lassen soll, wenn man merkt, das ist erst mal scheußlich, aber es steckt ja was dahinter, und es steckt eine Kraft dahinter und eine Energie und etwas, was einen anregt zu Neuem.
Auseinandersetzung mit dem Vater
Meyer: Und was diese Energie in Ihnen sehr stark aufgerührt hat an diesem Abend, das ist die Erinnerung an Ihren Vater, der war damals schon verstorben. Warum war das eigentlich so, warum hat gerade diese neue Musik die Erinnerung an Ihren verstorbenen Vater so stark gemacht?
Delius: Weil … Es gibt eine Szene, das will ich jetzt nicht ausführen, in der Erzählung, eine Auseinandersetzung mit dem Vater, die darauf gründet, dass ich als 17-Jähriger bei einem Jazzkonzert zu lange war und deswegen aller möglichen Dinge verdächtigt wurde und was ein schwerer Konflikt war kurz vor dem Tod meines Vaters. Also das ist, jetzt mal ausgeführt … Ich habe diese Geschichte auch nie erzählt, weil sie auch … Ich hatte vorher keine Form dafür. Das ist ja so ein Schriftsteller … Also es reicht ja nicht, die Story zu haben, die Handlung, sondern man muss irgendwann so den richtigen formalen Gedanken haben, und als ich das zusammenbrachte mit diesem Konzert, da hat das funktioniert, dass ich auch meine Pubertätsgeschichte erzählen konnte, meine Auseinandersetzung mit dem Vater und die Anfänge des Schreibens als 16-, 17-Jähriger und die ersten Gedichte auf das Papier zu setzen. Das hängt alles damit zusammen, und es hängt mit der Kraft der Musik zusammen, dass die das aus einem herausholt.
Meyer: Und in diesem Zusammenhang der Auseinandersetzung mit Ihrem Vater in dieser Phase ist eine Gedichtzeile wichtig, die Sie zitieren: "Ich habe mit dem Tod gesprochen" heißt diese Gedichtzeile. Auf welche Situation bezieht die sich, diese Zeile?
Delius: Das kann ich ja nicht mehr sagen, man schreibt was hin in seinem jugendlichen Wahn, so ein bisschen nach Rilke nachgemacht, und merkt dann eigentlich erst später, das habe ich ja ein halbes Jahr vor dem Tod meines Vaters geschrieben, und auf einmal habe ich erst danach gemerkt, welche Ungeheuerlichkeit da drinsteckt, und das ist eben auch so eine Sache, die durch die Musik mit ausgelöst ist.
Meyer: Und wenn Sie sagen, Sie beschreiben eben sich als jungen Mann, als Jugendlichen auch vor allem, da fand ich beeindruckend in dem Text, weil ganz stark wird, was das für Sie bedeutet hat, dieses Schreibenkönnen, dieses Etwas-formulieren-können, etwas Aus-sich-herausstellen-können. Können Sie uns das noch mal sagen, wie Sie das verändert hat als jungen Mann, dass Sie diese Fähigkeit in sich entdeckt haben?
Delius: Das Schreiben war meine Rettung. Ich war ein schlechter Schüler, ich war ein schlechter Posaunist, ich war schlecht in allem, im Sport auch und so weiter, und bei den Mädchen kam ich auch nicht an, also ich stürzte mich dann auf die Literatur und schmiss mich da richtig rein, und dank des Rundfunks, muss man an dieser Stelle vielleicht mal sagen, habe ich als 18-Jähriger ein Gedicht an den Rundfunk geschickt – es gab damals so eine Sendung beim NDR für schreibende Schüler und Studenten –, und die brachten dieses Gedicht. Das war so eine erste Anerkennung, die über meinen engen Horizont des hessischen Städtchens weit hinausging und die mich ermunterte und auch noch 50 deutsche Mark Honorar einbrachte. Das war sehr viel Geld damals.
Eine Art Initiation
Meyer: Dieses Free-Jazz-Konzert, Sie beschreiben das auch als eine Art Initiation für Sie, denn dieser Titel taucht auch mal auf innerhalb des Konzertes für ein Stück, und Sie schreiben aber auch, dass Sie das lange selbst nicht verstanden haben, was das für eine Initiation war. Andere haben vielleicht sowas im Jahr 1968 erlebt. Kann man sagen, dieses 66er Konzert, das war so Ihr Vor-68?
Delius: Nein. Es gibt ja nicht die Initiation, sondern es gibt viele Initiationen zum Glück für jede Lebensentwicklung, und es gibt viele Weichen, die uns da oder da hinbringen. Also es war eines dieser vielen Erlebnisse, die für mich prägend waren. Es war nicht … Es gibt ja nicht in dem Sinne eine Erleuchtung, ich werde jetzt plötzlich ein anderer Mensch, aber es gibt eben diese wichtigen Stöße, die einen voranbringen, und das habe ich versucht zu beschreiben und habe es versucht, eben auch in einen musikalischen Takt, also es ist ja sozusagen sehr rhythmisch das Ganze, es ist besser geordnet als ein Free-Jazz-Konzert, aber es ist sozusagen solide deutsche Prosa, behaupte ich mal, aber es ist trotzdem mit so einem Jazz-Rhythmus, kann man sagen, durchgehalten, und man kann es auch gut hören, diesen Text, hoffe ich.
Meyer: Es ist vor allem mehr als solide deutsche Prosa, Herr Delius, das möchte ich doch mal sagen. "Die Zukunft der Schönheit" heißt diese autobiografische Erzählung von Friedrich Christian Delius, bei Rowohlt Berlin ist der Text erschienen, 94 Seiten, der Preis 16 Euro. Ganz herzlichen Dank, Herr Delius!
Delius: Ich danke Ihnen!
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