Friedrich Kittler: "Baggersee. Frühe Schriften aus dem Nachlass"
Hrsg. von Tania Hron und Sandrina Khaled
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015
231 Seiten, 24,90 Euro
Reflexionen über Revolte
Friedrich Kittler gilt als Avantgardist der Medienwissenschaften. Nach seinem Tod 2011 erscheint als erstes Appetithäppchen aus seinem Nachlass eine Auswahl frühester Schriften unter dem Titel "Baggersee". Darin setzt sich der damalige Student mit der Revolte von '68 auseinander.
Friedrich A. Kittler, der irgendwann auf seinen zweiten Vornamen "Adolf" endgültig verzichtete, gehört sicher zu den schillerndsten und aufsehenerregendsten Geisteswissenschaftlern der letzten Jahrzehnte. Die von ihm proklamierte und als solche auch vollkommen ernst gemeinte "Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften" wird für immer mit seinem Namen verbunden bleiben – welch Geister er da rief, wird er aber wohl doch nicht ganz geahnt haben.
Vor allem ist Kittler, der 2011 im Alter von 68 Jahren gestorben ist, als Avantgardist der Medienwissenschaften berühmt geworden. Als seine Forschungsschwerpunkte gab er bereits in den achtziger Jahren an: "Linux, Windows, Abendland". Um seinen umfangreichen Nachlass kümmern sich jetzt seine Schüler. Und das kann man auch mit Bestimmtheit sagen: Er ist einer der wenigen Professoren der letzten Zeit, die wirklich schulbildend gewirkt haben.
Texte entstanden am Niederrimsinger Baggersee
Als erster Band aus dem Nachlass, gewissermaßen als Appetithäppchen, ist nun eine Auswahl frühester Schriften erschienen. Die Herausgeberinnen haben ihr den Titel "Baggersee" gegeben – das ist sehr suggestiv, von Kittler selbst aber keineswegs mit einer solch feuilletonistisch-literarischen Anmutung versehen. Grundlage für diesen Titel bildete wohl die Tatsache, dass Kittler, im Umkreis von Gleichgesinnten, diese kurzen Texte vornehmlich am Ufer des Niederrimsinger Baggersees entwarf – einem beliebten Sommeraufenthalt für Freiburger Studenten, schon damals zwischen 1965 und 1975. In diesem Zeitraum, während des Studiums und der Dissertation, sind Kittlers erste genialisch hingeworfenen Reflexionen entstanden, mit ihren klar und sezierend wirkenden, zugleich aber verführerisch dunkel bleibenden Zuspitzungen.
Es handelt sich eindeutig um die Zeit der Studentenbewegung um 1968. Leider können die einzelnen Texte nicht genau datiert werden, sodass die Entwicklung, die Kittlers Denken und Schreiben nahm, nicht chronologisch nachzuvollziehen ist. Kittler war zwangsläufig ein Teil der Revolte, setzte sich aber gleichzeitig umso brüsker von ihrem politischen Mainstream ab. Wie das im einzelnen vor sich ging, würde man gern genauer verfolgen können. Die Notate haben Überschriften wie "Auge und Ohr", "Lust und Schmerz", "Haar und Haut" oder "Rhythmus – Blut – Orgasmus": Es ist oft der Körper, der hier als Ausgangpunkt und Medium der Reflexion erscheint.
An der Quelle aller Theorie-Sounds
Die daran anschließenden Begriffsanstrengungen haben keineswegs etwas Sinnliches, sie bewegen sich von vornherein im abstrakten Raum. Auffällig ist, wie stark Kittler von der Psychoanalyse affiziert ist – weniger von Freud, weitaus stärker von Lacan. Er brauchte lange, bis er sich davon erholte (manche meinen, das sei letztlich nie geschehen). Dieses Buch bietet einen kostbaren Schatz für Zeitgeist-Archäologen und Wissens-Surfer, man befindet sich hier an der Quelle aller heute aktuellen Theorie-Sounds.