Religiöse Koexistenz seit 400 Jahren
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40 Kilometer von der schleswig-holsteinischen Nordseeküste entfernt, in Friedrichstadt, haben sich zahlreiche Glaubensgemeinschaften angesiedelt. Hinter der hier gelebten Toleranz standen im 17. Jahrhundert die Handelsinteressen eines Herzogs.
Wer Friedrichstadt besucht, ohne um die Geschichte des Ortes zu wissen, könnte meinen, sich ins Nachbarland verirrt zu haben. Denn der Ortskern der Kleinstadt hat ebenso viele Straßen wie Grachten. Wo früher Waren befördert wurden, tummeln sich heute Stand-up-Paddler und Touristen in Tretbooten. Ein niederländischer Ort mitten in Schleswig-Holstein? Und warum gibt es hier auf weniger als einem Quadratkilometer fünf Gotteshäuser für nicht mal 2500 Einwohner?
Religionsfreiheit und finanzielles Interesse
Christiane Thomsen, Leiterin des Stadtarchivs von Friedrichstadt, führt zunächst zur Remonstrantenkirche. Gegründet wurde der Ort im Jahr 1621, erklärt sie: "Friedrichstadt wurde benannt nach Herzog Friedrich dem Dritten von Schleswig-Holstein-Gottorf. Der wollte an der Eider eine Handelsstadt gründen und hat dafür Remonstranten angeworben, das waren Niederländische Glaubensflüchtlinge. Und diese Remonstrantenkirche, die hier in Friedrichstadt steht, ist die einzige außerhalb der Niederlande – und die älteste der Welt: Die Remonstranten waren ja in den Niederlanden verboten, als sie hierhergekommen sind und 1624 eine Kirche gebaut haben."
Der Herzog sicherte der protestantischen Splittergruppe Religionsfreiheit zu. Dahinter stand aber ein handfestes monetäres Interesse – der Regent erhoffte sich von den Händlern satte Steuereinnahmen. "Die Remonstranten sind also Protestanten, die sich von den Calvinisten in den Niederlanden abgespalten haben", präzisiert Christiane Thomsen. "Die Calvinisten sind ja sehr streng, die haben eine sogenannte ‚Prädestinationslehre’, das bedeutet: Das Schicksal ist vorherbestimmt. Und die Remonstranten glauben eben, dass man selber durch gottesfürchtiges Leben sein Schicksal beeinflussen kann."
Katholiken auf spanischen Wunsch angesiedelt
Vorbild für Friedrichstadt war das vier Jahre zuvor in der Nähe von Hamburg gegründete Glückstadt, wo ebenfalls Religionsfreiheit garantiert wurde. Das zweite Gotteshaus auf dem Rundgang ist die katholische Kirche St. Knut.
"Als Friedrichstadt gegründet wurde, gab es einen großen Streit zwischen Katholizismus und Protestantismus", sagt Christiane Thomsen. "Herzog Friederich hatte ja wirtschaftliche Interessen und wollte vor allem einen Handelsvertrag mit Spanien gründen. Und die Spanier haben ihm dann vorgeschrieben, dass er in seiner neuen Stadt auch Katholiken dulden muss."
So kamen 1625 die ersten Katholiken nach Friedrichstadt, in ein hauptsächlich protestantisches Umfeld. Damals beäugte man sich kritisch, heute ziehe man längst an einem Strang, berichtet Thomsen: "2003 hat die katholische Kirche beschlossen, diese Kirche stillzulegen – gegen den heftigen Widerstand aller hier in Friedrichstadt ansässigen Glaubensgemeinschaften, das gab echt einen riesigen Aufruhr."
Die Kirche wurde profaniert – und sollte eigentlich eine Kunstkirche werden. "Aber dann hat die Gemeinde jahrelang gekämpft, dass diese Kirche wieder geweiht wird, also dass sie wieder für Gottesdienste genutzt wird", berichtet Thomsen. "Und tatsächlich, seit Ostern dieses Jahres wird sie wieder für Gottesdienste genutzt. Also, es ist jetzt wieder eine katholische Kirche."
Juden durften erst 50 Jahre später kommen
Im Gotteshaus eine Straßenecke weiter finden dagegen schon lange keine Gottesdienste mehr statt. Auch hier kennt Stadtarchivarin Thomsen die Geschichte dahinter: "Die jüdische Gemeinde durfte sich nicht von vornherein in Friedrichstadt ansiedeln, sondern erst 50 Jahre nach der Stadtgründung. Also, es war so, dass in diesem Handelsvertrag mit Spanien festgelegt wurde, dass keine Juden sich in Friedrichstadt ansiedeln dürfen."
Der Herzog wollte gerne jüdische Bürger in seiner Handelsstadt haben, aber er knickte unter dem spanischen Druck ein. Erst 50 Jahre später siedelte sich der erste Jude hier an. "Und im Laufe der Jahrhunderte ist die Jüdische Gemeinde in Friedrichstadt immer größer geworden, denn es gab nur wenige Ort in Schleswig-Holstein, an denen sich Juden niederlassen durften", weiß Christiane Thomsen. "In Friedrichstadt wohnten um 1850 420 jüdische Menschen."
Damit bildeten sie die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft nach den Lutheranern. In der sogenannten Reichspogromnacht wurde die Synagoge verwüstet – sie anzuzünden untersagte der Bürgermeister, da in Friedrichstadt die Häuser eng zusammen stehen und er befürchtete, der Brand könne übergreifen. Nach der NS-Zeit entstand kein jüdisches Leben mehr in Friedrichstadt. Wie sehr die jüdische Gemeinde eins integriert war, sieht man heute noch an ihrem erhalten gebliebenen Friedhof: der ist Teil des protestantischen Friedhofs.
Gedenken an Kriegsopfer verschiedener Konfessionen
Die Lutheraner stellen seit jeher die größte Gemeinde. Viele waren Arbeiter, die unter Anleitung der Niederländer die Grachten aushoben. Besuchern fällt als erstes das von der Decke hängende Votivschiff ins Auge auf. Christiane Thomsen hat einen anderen Favoriten:
"Was ich eigentlich am beeindruckendsten finde, ist eine Gedenktafel für die gefallenen Soldaten 1850, auf der nicht nur die lutherischen Gefallenen aufgelistet wurden, sondern eben auch die Gefallenen der anderen Glaubensgemeinschaften. Auf dieser Tafel sind also auch zwei Juden und ein Katholik verewigt. Und das finde ich schon ganz beachtlich, dass man 1850 eben auch für die anderen getöteten Soldaten hier eine Erinnerungstafel aufgehängt hat."
Zurück über die Gracht und ins Museum. Im ersten Stock wird die religiöse Vielfalt der Stadt thematisiert. Auch verfolgte schwedische Separatisten fanden zwischendurch in Friedrichstadt eine neue Heimat. Vom zweiten Stock des Museums gibt es einen direkten Übergang in die Kirche der Mennoniten.
Hier erklärt Christiane Thomsen: "Normalerweise gibt es in Mennonitenkirchen keinen Altar und auch kein Kruzifix – aber in dieser Kirche gibt es das schon, weil die Kirche auch von einer anderen Gemeinde genutzt wird, nämlich der dänischen-lutherischen Gemeinde, die hier nach dem Zweiten Weltkrieg eine Kirchengemeinde gegründet hat und die hier jeden Sonntag Gottesdienst feiert."
Den 39 Friedrichstädter Mennoniten macht das nichts. Auf diesem engen Raum ist man einfach darauf angewiesen, sich zu verständigen – auch in religiösen Belangen.