Nicola Schubert ist Schauspielerin und freie Autorin. Sie begann bei den "Ruhr Nachrichten" und Radio 91,2 in Dortmund und mit einem Theater- und Medienwissenschaftsstudium. Zurzeit ist sie, nach Schauspieldiplom in Frankfurt am Main und Erstengagement in Ostwestfalen, am Theater Ulm engagiert.
Das Haar ist politisch
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Die Friseursalons sind wieder offen, obwohl andere Geschäfte noch geschlossen bleiben müssen. Offenbar halten Friseure auch die Gesellschaft zusammen, meint die Schauspielerin Nicola Schubert und versucht sich an einer kleinen Politik der Haare.
Wenn Strähnen, Spitzen oder Locken zu Boden fallen, breitet sich Leichtigkeit auf dem Kopf aus. Noch nasse Haare, die nach Pflegespülung duften, warten darauf, in Form gebracht zu werden. Wohlgefühl kommt auf. Selfcare wäre der trendige Begriff, der diesen Vorgang beschreibt: das wichtige Kümmern um sich selbst. Und der Bedarf, ja die Not scheint wirklich da zu sein. Manche Salons versteigern sogar die ersten Termine. Der Zulauf ist erstaunlich.
Haareschneiden als menschliches Grundbedürfnis – wer hätte das gedacht? Doch die Bedeutung des Frisiertwerdens geht noch darüber hinaus. Denn die Entscheidung, Salons bei der Öffnung zu bevorzugen hat auch eine politische Dimension.
Wir ringen um Façon
Wenn von "Würde" oder "gesellschaftlichem Zusammenhalt" die Rede ist, wenn es um eine Begründung für die Öffnung geht, scheint nicht weniger als der soziale Frieden zur Debatte zu stehen. Das klingt nicht nur etwas auftoupiert, das ist es auch. Wobei es auf der anderen Seite auch wieder einleuchtet, dass sich eine gewisse innere Verwahrlosung durch soziale Isolation, und die Erfahrung von Unsicherheit und Machtlosigkeit nicht auch im Äußeren spiegeln soll. Wir ringen um Façon, zur Not eben in Gestalt eines Haar-Schnitts.
Ein bisschen erinnert die merkwürdige Priorisierung der Frisiersalons auch an das Spießertum der 60er-Jahre, als sich die braven Bürger über langhaarige Gammler beschwerten. Manche forderten, sie ins Arbeitslager zu schicken, um ihnen Disziplin beizubringen. Ein kausaler Zusammenhang zwischen Faulheit, Aufsässigkeit und langen Haaren schien klar. Eine zottelige Frisur war das einfachste Mittel der Rebellion und erregte die Gemüter.
Frisur ist ein Distinktionsmerkmal
Die gelungene Performance – das ist es, worum es bei der Frisur geht. Für die Spießer, um bei dem Vergleich zu bleiben, ist es die Performance des Konventionellen, für die Punks und Boris Johnson die des Widerständigen. Die Frisur ist ein Distinktionsmerkmal. Sie dient seit hunderten von Jahren als Kommunikationsmittel. Sie kann die Zugehörigkeit zu einer Gruppe markieren. Jüngere experimentieren häufig mit ihr, in einer Lebenskrise oder Momenten großer Veränderung wechselt sie. Die Haare sind ein Gradmesser für die Gepflegtheit eines Menschen und Ausdruck des individuellen Lebensstils. Es lassen sich Schlüsse auf Alter und Status ziehen. 2001 untersuchte eine gleichnamige Studie die "Sprache der Haare", die bestätigt: Die Frisur sendet psychologische Signale. Menschen schließen von ihr auf Charaktereigenschaften wie Schüchternheit, Extrovertiertheit, den Gesundheitszustand und sogar Intelligenz.
Wir fühlen uns großartig, wenn die Haare sitzen. Aber nicht nur die Wirkung auf andere spielt hier eine Rolle, natürlich ist auch das Selbstgefühl der Gepflegtheit zentral. Wir alle kennen den "bad hair day", wenn die Haare einfach nicht richtig liegen wollen. Haarausfall kann psychische Gründe haben. Tausende Mittel versprechen dichteres Haar, Menschen lassen sich Haare einpflanzen, wenn sie ausgefallen sind. Genauso können wir uns großartig fühlen, schön, charismatisch, wenn die Haare sitzen. Unsere Frisuren sind sichtbar, laut der bereits erwähnten Studie sogar mit das erste, auf das andere bei uns achten. Es zeigt sich: Die Frisur ist kein Pappenstiel.
Angst vor den "Gammlern"
Die Öffnung soll sicher auch unkontrollierbaren Treffen von Friseur:innen und Kund:innen in den eigenen vier Wänden vorbeugen. Erstaunlicherweise haben wir ja immer noch nicht alle dieselbe, zottelige Frisur. Von der Wichtigkeit der schönen Haare sind wir nicht abzubringen. Egal, wie groß die Krise.
Bei allem Verständnis: Man muss es sich als Gesellschaft leisten können, vom harten Lockdown ausgerechnet Friseursalons auszunehmen. Während möglichweiser eine dritte Welle anrollt, bei einem nicht kalkulierbaren Risiko und angesichts immer noch zu hoher Todeszahlen, ist das durchaus eine luxuriöse Entscheidung. Sie steckt der deutschen Gesellschaft wohl nach wie vor in den Knochen, die Angst vor den Gammlern. Auch die Angst vor dem eigenen Gammler.