Fritz Breithaupt: „Das narrative Gehirn“

Erzählen hilft

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Das Cover des Buches "Das narrative Gehirn" von Fritz Breithaupt. Auf weißem Untergrund sind viele farbige Linien zu sehen, die sich überschneiden. Sie könnten auf den Untertitel des Buches "Was unsere Neuronen erzählen" verweisen.
© Suhrkamp Verlag

Fritz Breithaupt

Das narrative Gehirn. Was unsere Neuronen erzählenSuhrkamp, Berlin 2022

368 Seiten

28,00 Euro

Von Volkart Wildermuth |
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Geschichtenerzähler führen ihr Publikum hinters Licht, um es zu unterhalten. Gleichzeitig helfen uns Narrative bereits, etwa zur Bewältigung einer Krise. Fritz Breithaupt verbindet Neuro- und Literaturwissenschaft zu einer Theorie des Erzählens.
Tiere sind viel klüger als oft zugestanden. Aber eines können sie nicht: erzählen. Geschichten erst machen den Menschen zum Menschen, so Fritz Breithaupt: "Dieser Ausbruch aus dem Gefängnis des eigenen Gehirns und dem Hier und Jetzt ist die große evolutionäre Leistung unserer Spezies."
Narrationen machen das Bewusstsein mobil. Aber wie funktionieren sie?

Emotionen als Anker

Darüber machte sich schon Aristoteles Gedanken. 2700 Jahre nach ihm geht der Germanist und Kognitionswissenschaftler Fritz Breithaupt die Frage auch empirisch an, mit riesigen „Stille-Post“-Experimenten. 12.000 Versuchspersonen sollten kurze Geschichten über drei Etappen immer wieder weitererzählen. Dabei verschwinden die konkreten Details, aber die „Emotionen bleiben im Gedächtnis und werden zum Anker, an dem Geschichten festgemacht werden können“.

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Die Details bleiben im Buch leider verschwommen, die übervolle Grafik wirkt beeindruckend, ist aber kaum zu interpretieren. Überhaupt mangelt es an Daten. Es gibt wenig konkrete Beispiel aus Büchern oder Filmen, wenn man von den Grimm’schen Märchen absieht.  

Überfülle an Geschichten

Fritz Breithaupt bevorzugt einen theoretischen Zugang, und der ist durchaus erhellend, wenn es um die Struktur von Episoden geht, um die Rolle der Emotionen, um die narrativen Figuren. Entscheidend ist für ihn die geistige Flexibilität. „Narratives Denken besteht nicht darin, dass eine vorgegebene Geschichte durchlaufen wird, sondern im Weiterdenken und Ausspinnen von dem, was in ihr möglich ist. Es geht um den Ausgang aus selbst verschuldeter narrativer Unmündigkeit“. Wobei Fitz Breithaupt die Sorge hat, dass dieses Potenzial in der Überfülle der verfügbaren Geschichten immer weniger genutzt wird.
Narrative sind nicht nur für das Individuum wichtig, sondern auch für Gesellschaften, gerade in Krisen. Die Erzählungen nach 9/11 konzentrierten sich auf das Erinnern der Opfer, während bei der Finanzkrise der raffgierige Banker zentral war.

Narrative zur Bewältigung

Dabei ist das Narrativ für Breithaupt „nicht nur eine Beschreibung der Krise, sondern selbst Teil ihrer Bewältigung“. Sie hilft, das Geschehen einzuordnen, damit abzuschließen, weiterzugehen. In der Coronakrise hat sein Team an der Universität im amerikanischen Bloomingdale nach Corona-Narrativen gesucht, aber hier konnte sich bislang neben den Verschwörungstheorien noch keine Lesart durchsetzen.
„Das narrative Gehirn“ bietet eine anregende Einführung in die Theorie des Erzählens aus literaturwissenschaftlicher Perspektive. Das ist in sich stimmig, aber gleichzeitig zu wenig gemessen am Anspruch des Titels. Wer mehr über den biologischen Hintergrund des Erzählens erfahren will, sollte sich Büchern wie „Gehirn und Gedicht“ vom Psychologen Arthur Jacobs und dem Dichter Raoul Schrott, „On the Origin of Stories“ vom Literaturwissenschaftler Brian Boyd oder die Internetseite des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik ansehen. 
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