In immer mehr Bereichen ist von Narrationen oder Narrativen, von Erzählungen also, die Rede: So soll etwa Politik heute mit den richtigen „Narrativen“ überzeugen oder banale Produkte werden mit einer Erzählung von Freiheit, Abenteuer, Individualität etc. ausgestattet. Im Buch „Das narrative Gehirn“ räumt Fritz Breithaupt unter anderem mit Missverständnissen zu diesen Begriffen auf. Breithaupt ist Professor für Kognitionswissenschaften und Germanistik an der Indiana University in Bloomington in den USA.
„Nicht alles, was heutzutage ‚Narrativ‘ genannt wird, ist auch ein Narrativ.“ Wenn PR-Abteilungen von Politikern oder Marketingabteilungen von Firmen immer sagten, „Wir brauchen ein besseres Narrativ“, dann meinten sie eigentlich nur einen besseren Slogan. Ein echtes Narrativ sei etwas komplizierter. „Das ist etwas, was wirklich gebraucht wird und das uns hilft, mit einer Situation fertig zu werden. Das macht etwas mit uns.“
Mit Stille-Post-Spielen das Erzählen erforschen
Denn wir seien narrative Wesen. „Wir denken und leben in Geschichten", sagt Breithaupt. Und das erlaube uns, uns abzulösen aus dem einen Moment unserer Gegenwart. „Wir sitzen jetzt nicht nur irgendwo, vielleicht gerade an einem Kaffeetisch oder auf einem Bürostuhl oder sowas oder sitzen im Auto, sondern wir können in eine Geschichte eintauchen, wir haben ein mobiles Bewusstsein.“ Das erlaube uns, in andere Lebewesen einzutauchen, also Empathie zu haben.
Mithilfe von Experimenten erforscht Breithaupt mit seinem Team das Erzählen. In seinem in dieser Form einzigartigen
Experimental Humanities Lab arbeitet er mit Literaturwissenschaftlern und Kulturwissenschaftlern sowie Informatikern, Psychologen und Kognitionswissenschaftlern zusammen. Etwa durch Stille-Post-Spielen wollten sie erfahren, was von Geschichten eigentlich hängen bleibe, erklärt der Wissenschaftler. „Dazu machen wir Versuche mit Tausenden von Leuten, in denen wir jemanden bitten, uns eine kleine Geschichte zu erzählen. Und dann lassen wir die in Ketten von drei, vier Leuten weitererzählen, um zu sehen, was hängen bleibt und was nicht.“
Emotionen bleiben am meisten hängen
Das klassische Verständnis sei gewesen, dass die Kausalität hängen bleibe, also die Gründe, warum jemand etwas macht, sagt Fritz Breithaupt. Mit seinem Team habe er aber herausgefunden, dass etwas anderes noch mehr hängen bleibt: „die Emotionen und zwar genaue Emotionen, die gar nicht in den Geschichten benannt werden. Also der Grad von Peinlichkeit von einer Episode wird weitergegeben, auch wenn das, was eigentlich peinlich war, nicht mehr genau da ist.“ Oder der Grad der Freude, der Grad der Traurigkeit oder der Grad der Überraschung. „Das ist wie eine Achse, an der sich die Geschichte festhält. Die Emotionen sind uns anscheinend sehr, sehr wichtig. Die verbinden uns, sie bleiben erhalten.“ Neben der Emotion genügt die kurze Erwähnung des Anlasses dafür.
„Geschichten sind Emotionsepisoden, und die Emotionen belohnen uns. Wir tauchen in eine andere Welt ein, wir lösen uns aus der Gegenwart ab. Aber wir tun das, weil wir schon ahnen, dass da etwas auf uns wartet. Und das sind ganz verschiedene Emotionen. Manche lieben Triumphnarrationen oder Liebesgeschichten, und wir wissen schon, worauf es hinausläuft. Das ist dann wie eine Belohnung, die uns aber auch wieder entlässt, die uns ein Signal gibt: Jetzt kannst du wieder in deine eigene Welt zurückkehren.“
Dass Gefühle bei Geschichten eine so wichtige Rolle spielen, macht sie mächtig – im Positiven, aber auch, wenn es zum Beispiel um Manipulation geht.
"Gaunernarrativ" halft in der Krise 2008
Nicht nur in unseren individuellen Leben, auch in unserer Gesellschaft spielen Narrative eine große Rolle: Sie werden von Erzählungen geprägt und wir versuchen durch Erzählung, uns unsere Gegenwart zu erklären. „Kollektive Narrative entstehen, wenn sie gebraucht werden.“ Ein Beispiel dafür sei die Wirtschaftskrise 2008, als viele Menschen ihre Positionen, ihre Sicherheiten, ihren Lebensstandard verloren, als eine „ungeheure Unsicherheit“ herrschte, so Fritz Breithaupt:
„In der Zeit entstand ein Narrativ, dass die Schuldigen ausgemacht wurden: die gierigen Banker aus Amerika, die leichtfertig Kredite ausgegeben hatten, sich dadurch bereichert hatten und die man jetzt bloßstellte. Es war ein Gaunernarrativ. Und dieses Gaunernarrativ – ich sage jetzt nicht, dass es falsch war – hat natürlich allen auch irgendwie geholfen. Das hatte eine therapeutische Wirkung, um diese Krise mit zu überwinden, weil man wusste, das sind Schuldige. Auf die zeigt man jetzt mit diesem Narrativ, das ist schon wie eine Strafe. Das heißt, es gibt Satisfaktion als Emotion zur Belohnung derjenigen, die die Geschichte hören. Und sie wissen auch so: Es gibt einen minimalen Trost. Na ja, ich bin letztlich nicht selber schuld. Da sind andere dran schuld. Das ist entlastend. Das war ein kollektives Narrativ, was erstmal geholfen hat.“
"Geschichtenerzählen kann uns glücklich machen"
Am Beispiel des Kriegs in der Ukraine könne man sehen, dass solche kollektiven Narrative auch Schattenseiten haben können. Das Narrativ, das der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und andere aufgebaut hätten, der Helden, von David, der gegen Goliath kämpft, sei erst einmal großartig gewesen. Doch dieses Helden-Narrativ, das nur im Triumph, im Sieg über Russland enden kann, könne im Weg stehen, wenn es zu einem Stellungskrieg kommen sollte, der nur am Verhandlungstisch gelöst werden könne.
Obwohl kollektive Narrative auch gefährlich sein können, plädiert Fritz Breithaupt dafür, das narrative Denken zu fördern. „Ich glaube, Geschichtenerzählen kann uns glücklich machen, kann uns auch zu besseren Menschen machen.“ Vor allem das individuelle Geschichtenerzählen solle gefördert werden.