"Amerikanisches Detektivbüro Lasso"
Staatsschauspiel Hannover
Von Nis-Momme Stockmann
Massenmörder im Musical
Das Staatsschauspiel Hannover bringt ein Stück über den Massenmörder Fritz Haarmann auf die Bühne. Manchmal abenteuerlich, manchmal witzig - doch für ein Bühnenstück zu viel Theorie, meint unser Kritiker Michael Laages.
Dieser "Prominente" blieb in Hannover immer unwillkommen – kein Wunder: Fritz Haarmann hatte bis zur Verhaftung und Verurteilung im Jahre 1924 gut zwei Dutzend junge Männer erst sexuell missbraucht, dann per Biss in die Kehle ermordet und Kleidung sowie Fleisch in der Nachbarschaft verkauft. Ein Monstrum – dessen Unwesen nur deshalb lange unbeachtet blieb, weil Haarmann auch als Polizeispitzel arbeitete; die Visitenkarte vom "Amerikanischen Detektivinstitut Lasso" immer in der Jackentasche. So ging er auf die Jagd – und die heimatlosen "Puppenjungs", wie er die Opfer nannte, wurden im Untergrund des damaligen hannoverschen Bahnhofsviertels nie wirklich vermisst.
Haarmann und dessen Treiben blieb ein Thema, auch wenn Hannover möglichst nichts davon hören und sehen wollte. Ein Werk des Bildhauers Alfred Hrdlicka wurde vor über 20 Jahren umgehend im örtlichen Museumsarchiv vergraben – jetzt soll es ab Juni zu sehen sein.
Romuald Karmakar drehte den Film "Der Totmacher" mit Götz George als Massenmörder. Marius von Mayenburg schrieb ein Haarmann-Stück - das war zur Jahrtausendwende. Jetzt kündigte Hannovers Staatsschauspiel auch noch ein "Musical" über den Massenmörder – der öffentliche Widerspruch war beträchtlich.
Und nun? Wird es Anzeigen hageln wegen Erregung öffentlicher Ärgernisse nach der Uraufführung des Stückes von Nis-Momme Stockmann? Natürlich nicht.
Jenseits von vertrauten Reflexen
Dieser Portier zum Beispiel kennt sich aus und weiß Bescheid. Als ein "unsicher wirkender junger Mann" (wie Dramatiker Nis-Momme Stockmann die Ich-Figur nennt fürs Stück um Fritz Haarmann und das "Amerikanische Detektivbüro Lasso") morgens nach dem Frühstück an der Rezeption nach langem Zögern beichtet, was er ist und was er tut, über Haarmann schreiben nämlich, singt ihm das komplette Hotel-Personal entgegen: Wie immer einer umgeht mit DIESEM hannoverschen Nicht-Thema: Es wird immer falsch sein.
Im Grunde teilt Autor Stockmann diese Ansicht sogar, wenn auch aus anderen Gründen – mit einem Phantomschmerz wie diesem Haarmann sei nicht produktiv umzugehen, solange immer bloß vertraute Reflexe auf bekannte Reize träfen. So lange keine neuen Denkwege für den Umgang mit Schreckensthemen vom Kaliber "Haarmann" beschritten würden, könne halt nichts daraus werden – also auch ein Musical.
So gedanklich verschraubt geht's abendfüllend zu, wenn Stockmann das "Lasso" schwingt. Zum eigentlichen Anfang kommt das Stück darum mit Absicht nie – zunächst wird mal lange über das Wesen aktueller Kunst räsoniert von gleich mehreren Ich-Darstellern des Autors – bis zur schon etwas betagten Erkenntnis, das radikale Widerworte der Kunst ganz schnell unschädlich gemacht werden können, wenn der "mainstream" sie aufsaugt – und böse Bücher zur Schullektüre werden. "Repressive Toleranz" hieß das vor über 40 Jahren bei Herbert Marcuse. Das wissen wir also.
Dann wird das Prinzip Haarmann immerhin mal kurzzeitig dingfest gemacht - im sozialen Chaos nach dem Ersten Weltkrieg. Für einen Moment taucht auch ein richtiges Haarmann-Bild auf. Adrett gekleidet unter einer Maske ohne Gesicht, schleift die Figur eine Axt. Dann aber will der Autor dieses Phantom tatsächlich singen lassen: Das führt zu Aufruhr und Widerspruch. Und zur Pause.
Der zweite Teil ist dann das, was im modernen Tagungswesen wohl "Impuls-Referat" heißt – Stockmanns vielstimmiges Ich führt die Debatte über die Zeigbarkeit des Unbeschreiblichen fort, jetzt mit dem ebenfalls in mehrere Personen aufgeteilten Intendanten. Immer klarer wird, was Stockmann will: die Selbstbefragung an sich und in uns allen befördern – wie viel Rassismus steckt in jedem und jeder von uns? Wie viel Pegida? Was nützt es, auf Hass und Ausgrenzung immer nur mit Gegen-Ausgrenzung und Gegen-Hass zu antworten? Mit chronisch gutem Gewissen oder Ignoranz ...
Scheitern als Chance?
Alles, was gerade in die Binsen geht, Syrien und Europa, Zivilisation du Demokratie, müsste zunächst mal wie per Echolot in uns selber aufgespürt werden ... das ist ein starkes Thema. Mit ihm beweist Stockmann nebenbei, dass auch die Beschäftigung mit Haarmann nur scheitern kann. Weil unser Alltagsdenken scheitert und eine Stimmung fördert, die extreme Fremdheit wie die eines Killers vom Typ Haarmann erst recht möglich macht. Aber nicht "die Gesellschaft ist schuld", das will auch Stockmann nicht sagen – aber es ist unser falsches Denken, das zum Humus wird für Schlimmeres.
Scheitern als Chance? Viel alter Schlingensief klingt mit im starken, steilen Denken dieses Abends. Und Hannovers Schauspiel-Chef Lars Ole Walburg gibt sich derweil mächtig Mühe, mit dem extrem wandlungsreichen Ensemble Theater zu zaubern aus der Mitteilung über die Unmöglichkeit von Theater in Haarmanns Fall. Abenteuerlich und manchmal sogar witzig sieht das aus: wenn etwa Alfred Hrdlickas Haarmann-Fries nachgestellt wird oder auch die Techniker des Hauses plötzlich mitspielen. Charlotte Simon und Les Trucs liefern schnurrige Computersounds dazu, aber all das bleibt im Versuch stecken - das Objekt des Bemühens taugt zum Seminar, weniger fürs Theater.
Denn Stockmann hat ein Stück darüber geschrieben, dass kein Stück möglich ist. Und das Thema - Haarmann eben - bietet bloß Anlass für ganz viel These und Theorie. Das aber ist - im Theater! - nicht wirklich abendfüllend.