Dass Leggeri jetzt gehen musste, hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass man diese Belästigungsvorwürfe nicht aus der Welt schaffen kann und dass es dann bei all diesen anderen Vorwürfen selbst für EU-Mitgliedsstaaten zu schwer war, ihn zu halten. Obwohl er jahrelang die Verbrechen, die an den Außengrenzen durch EU-Behörden begangen wurden, verschleiert hat.
Skandal um Frontex
Frontex-Mitarbeiter entdeckten die Geflüchteten, die Griechen erledigten den Job: Frontex soll 2020/21 in Pushbacks von mindestens 957 Geflüchteten involviert gewesen sein. © Getty Images / NurPhoto / Nicolas Economou
Illegale Pushbacks sind "politisch gewollt"
21:42 Minuten
Die EU-Grenzschutzagentur war in illegale Pushbacks von Geflüchteten involviert. "Die EU-Staaten haben das jahrelang gedeckt", sagt der Europa-Parlamentarier Erik Marquardt. An einen Neuanfang nach dem Rücktritt des Frontex-Direktors glaubt er nicht.
Schreiende Kinder, die nachts auf Rettungsinseln ohne Motor mit ihren Familien im Meer ausgesetzt, Menschen die einfach ins Wasser geworfen werden: Das ist die Realität der Menschenrechtsverletzungen, wie sie sich an EU-Außengrenzen abspielt.
Politisch gewollte Pushbacks
Der grüne Europa-Parlamentarier Erik Marquardt, der gleichzeitig auch asylpolitischer Sprecher seiner Fraktion ist, erlebt diese Realität seit Jahren bei zahlreichen Besuchen vor Ort.
Es sei bekannt, dass Illegale Pushbacks beispielsweise in der Ägäis zum Alltag gehören. Und: Solche Zustände seien von einem Großteil der EU-Mitgliedsstaaten "politisch gewollt", sagt Marquardt, der auch in der Frontex-Untersuchungsgruppe des Parlaments sitzt. So sei Ex-Frontex-Direktor Fabrice Leggeri mehr über Belästigungsvorwürfe gestolpert, als über die Einbindung von Frontex in illegale Pushbacks.
Doch so intransparent, wie Marquardt die Institution Frontex einstuft, so intransparent sei auch der Umgang mit den Verfehlungen der EU-Grenzschutzagentur innerhalb der europäischen Institutionen.
"Die EU-Mitgliedsstaaten haben das gedeckt"
Denn der Bericht der EU-Aufsichtsbehörde für Betrugsbekämpfung (OLAF), der maßgeblich zum Rücktritt Leggeris führte, sei nicht einmal den Parlamentariern der Frontex-Gruppe zur Verfügung gestellt worden.
Obwohl es nicht nur Nachweise, Augenzeugenberichte, sondern auch Videos von Menschenrechtsverletzungen an der EU-Außengrenze gebe, sei die Antwort von Frontex regelmäßig gewesen, dass man nichts davon mitbekommen habe und nichts davon wisse. "Und die EU-Mitgliedsstaaten haben das auch jahrelang gedeckt", betont Marquardt.
Wahrscheinlich müsse Leggeri trotz allem nicht mit disziplinarischen Maßnahmen rechnen, so der Europaparlamentarier. Das sei wohl Teil des Deals bei seinem Rücktritt gewesen. Auch ob es strafrechtliche Konsequenzen geben werde, sei unklar.
"Völlig absurde Notlügen"
Erik Marquardt war persönlich bei den Anhörungen des Ex-Frontex-Chefs im Europarlament dabei. Sein Eindruck: "Es war völlig absurd. Wir haben teilweise Anhörungen gehabt, in denen Leggeri von nichts wusste. Man hat zu konkreten Fällen gefragt, wollte da ins Detail kommen und dann wusste er immer nicht, worüber wir reden, hat teilweise behauptet, das würde alles nicht stattfinden und zwei Wochen später gesagt: Ach, das hat ja doch stattgefunden, aber es war alles anders, als Sie es darstellen."
Eine Idee von Fabrice Leggeri sei es unter anderem gewesen, dass die Geflüchteten die Pushbacks selbst durchgeführt hätten:
Wer soll davon ausgehen, dass eine Gruppe von afghanischen und syrischen Geflüchteten auf einem überfüllten Schlauchboot sitzt, nach Griechenland fährt und dann auf der Wegstrecke irgendwie im Plenum gemeinsam feststellt: Mensch, wir wollten ja eigentlich doch nicht nach Griechenland auf diesem überfüllten Schlauchboot fliehen, lasst uns zurückfahren, dann unseren Motor versenken, um etwas gegen Griechenland in der Hand zu haben – eine völlig absurde Notlüge.
Einfluss über Frontex-Verwaltungsrat
Was einen Neuanfang von Frontex betrifft, ist Erik Marquardt skeptisch: Einige Kräfte versuchten, genauso weiterzumachen wie vorher, nur mit frischem Personal.
Er hoffe, dass die EU-Kommission aber auch die EU-Mitgliedsstaaten – darunter insbesondere Deutschland – Personen in den mitentscheidenden Frontex-Verwaltungsrat schicken, die ein "Interesse an Rechtsstaatlichkeit" hätten: "Und man kann jetzt nicht so tun, als gebe es eine große Frage, wie die Agentur ausgerichtet ist. Das wurde demokratisch entschieden. Es wäre auch verfehlt, immer weiter so zu tun, als könnte die Agentur einfach machen, was sie will, und im Zweifelsfall wegschauen, wenn es ihnen gerade gefällt."
Dabei sei klar, so Marquardt, dass beispielsweise gegen Verbrecher, die mit Schnellbooten an der Grenze Drogen schmuggeln, hart durchgegriffen werden müsse.
Bundesregierung muss endlich aktiv werden
Der Grenzschutz müsse immer in der Lage seien sich durchzusetzen. Aber: "Ich glaube, dass viele Menschen, die dort in Warschau – dort ist das Frontex-Büro – zur Verwaltungsratssitzung zusammenkommen, recht lange nicht mehr an den EU-Außengrenzen waren und sich vielleicht auch gar nicht vorstellen können, was ihre Entscheidungen und das, was sie dort tun, in der Konsequenz für Folgen hat. Da finden wirklich massive Verbrechen statt, und ich finde, man muss auch aufpassen, dass die deutsche Bundesregierung sich dort nicht mitschuldig macht, indem sie weiter wegschaut.
Die Bundesregierung müsse den Ton verändern, so der grüne Europaparlamentarier: auch öffentlich die Zustände kritisieren und Verbesserungen einfordern.
Jeder einzelne Vertreter im Frontex-Verwaltungsrat trage Verantwortung: Wer über solche Verbrechen Bescheid wisse und nichts dagegen unternehme, für den müsse es auch strafrechtliche Konsequenzen geben, wenn schon keine Mehrheit für politische Konsequenzen existiert.
(ik)